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Serienphänomen Lindenstraße

Die 'Lindenstraße' als Spiegel der Gesellschaft

AutorAnina Müller, Annika Hoffmann, Kerstin Tille, Sabine Buchholz
VerlagScience Factory
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl164 Seiten
ISBN9783656464525
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Kein anderes Phänomen hat die deutsche Serien- und Fernsehlandschaft so nachhaltig geprägt wie die 'Lindenstraße'. Seit ihrer Erstausstrahlung im Jahr 1985 bilden die berühmte Straße und ihre nicht minder berühmten Bewohner - von Mutter Beimer bis zu Else Kling - einen vertrauten Bestandteil im Leben vieler Zuschauer. Doch wie konnte dieses Serienkonzept zu einem solchen Zuschauerfavorit und zu solch einer Institution des deutschen Fernsehens werden? Dieser wissenschaftliche Sammelband widmet sich dem Phänomen Serie sowie der 'Lindenstraße' als 'Urmutter' der deutschen Familienserie und versucht die Faszination dahinter greifbar zu machen. Hier wird die Frage erläutert, warum Endlosserien wie die 'Lindenstraße' aus dem Alltag vieler Zuschauer nicht mehr wegzudenken sind. Aus dem Inhalt: Entwicklung von Serientrends in Deutschland; Gattungsmerkmale der Serie; Figuren, Themen und Erzählweisen der 'Lindenstraße'; Die 'Lindenstraße' als Zeitdokument; Analyse des Menschen- bzw. Frauenbildes; Moral in der Welt der 'Lindenstraße'

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Leseprobe

Faszination für Zuschauer: Warum so viele einschalten


Dieser Part der Arbeit soll die Kernfrage meiner Überlegungen beantworten: Was veranlasst Zuschauer, täglich (bzw. wöchentlich) auf den Beginn einer bestimmten Fernsehserie zu warten, mit ihren Helden mitzufiebern, die fiktive Welt zu einem Teil ihres realen Lebens werden zu lassen? Hierzu stelle ich eine Untergliederung in sieben Hauptbereiche ein, die jedoch nicht ganz einfach voneinander abzugrenzen sind, sondern fließende Übergänge haben. Die Grenzziehung ist daher nur ein Vorschlag und ließe sich teilweise sicherlich verschieben. Außerdem gehören einige Überlegungen in mehrere Unterpunkte hinein, weshalb es zwangsweise zu geringfügigen Überschneidungen kommen kann.

Leichte Unterhaltungskost


Fragt man Serien-Seher, warum sie beispielsweise GZSZ rezipieren, so ist eine häufige Antwort: „Das weiß ich auch nicht so genau. Eigentlich passiert da in einer Folge ja nicht wirklich viel …“ Doch zu einem großen Teil ist es gerade die seichte, kriechende Handlung, die Serien für uns interessant machen. Dies soll dieses Kapitel belegen.

Das Verlangen nach mehr und mehr „rezeptionsfreundlicher“ Unterhaltung hat zu einer Verschiebung in der ehemals ausgeglichenen Triade ‚Information – Unterhaltung – Bildung’ geführt. Der Großteil des Publikums ist nicht auf der Suche nach schwer verdaulichen, lehrenden Inhalten, über die viel nachgedacht werden muss und die vollkommene Aufmerksamkeit und uneingeschränkte Konzentration erfordern. Nach dem harten Arbeitstag wünschen sich die meisten einfach nur eine leicht verdauliche „Berieselung“, um bestmöglich entspannen zu können. Fernsehserien haben diesbezüglich alle Vorteile auf ihrer Seite und entsprechen den Anforderungen der Verbraucher:

Die zu erbringende Zuschauerleistung wird so gering wie nur irgend möglich gehalten, da die Interpretation der von der Serie vermittelten Botschaft sehr einfach ist. Dem Zuschauer wird das Rezipieren durch eine simple thematische Strukturierung, logisch verknüpfte Handlungsketten und – bei Episodenserien – einer expliziten Auflösung an jedem Ende einer Folge extrem vereinfacht. Prisca Prugger spricht an dieser Stelle von „subtilen bis eindeutigen Interpretationseinladungen“.[43] Darunter ist auch zu verstehen, dass der direkt zu deutende und oft schon die Auslegung ausdrücklich vorgebende Dialog überwiegt, die körperliche Handlung, welche genau zu beobachten und erst noch zu analysieren wäre, untergeordnet ist.[44] Kommt es dann doch zu körperlichen Ausdrücken, sind diese allerdings in jedem Fall ebenso offenkundig, wie der Dialog. Intrigante Personen ziehen beispielsweise unmissverständlich die Augenbrauen nach unten, während sie ihren fiesen Plan schmieden, Nervosität wird durch hektische Gesten dargestellt usw. Häufig ist die Darstellung emotionaler Momente ohnehin sehr überzogen und wirkt dadurch recht kitschig. Dies hat aber auf der Verbraucherseite den Vorteil der absoluten Eindeutigkeit der erwünschten Auslegung der Szene – es muss also nicht mehr viel selbst nachgedacht werden,[45] das Verständnis erfolgt quasi automatisch. Der Rezipient bewegt sich in einem Raum, in dem alles einfach hingenommen werden kann und nichts hinterfragt werden muss.[46]

Auch verspätetes Einsteigen in eine Serie ist nicht problematisch – weder hinsichtlich einer einzelnen Folge noch in Bezug auf die gesamte Serie. Dazu trägt vor allem die häufige Wiederholung vieler Elemente bei, die das Schema der Gattung Serie ausmachen. Hierzu gehören neben Sendezeit und Sendeplatz vor allem auch Titelmelodien, Trailer sowie die gesamte Machart, das serielle Formprinzip, die üblichen Storylines. So erkennt der Zuschauer etwa die Charaktere wie auch Teile der Handlung (oftmals unterbewusst) wieder – entweder intra- oder intertextuell (also aus anderen Serien) – und kann sich so den weiteren Verlauf der Story schon ausmalen. Helmut Schanze bringt das Prinzip auf den Punkt: „Eins ist [quasi] alles.“[47] Dies erleichtert die Aufnahme, Deutung und Verarbeitung des Stoffes erheblich und bedeutet außerdem die Möglichkeit, die Rezeption der Serie nicht als Primär-, sondern als Sekundärtätigkeit[48] anzusehen bzw. polychrone Handlungen auszuführen. Partielle Aufmerksamkeit – metaphorisch gesprochen: das Hinhören mit halbem Ohr[49] – genügt also, um den Handlungsverlauf nachvollziehen zu können, denn die Figuren und ihre Probleme sind allesamt schnell bekannt. Dies ist ein wichtiger Vorteil der Fernsehserie, denn schon 1993 haben Studien ergeben, dass nur 33% der Zuschauer ohne Nebenbeschäftigung fernsehen.[50]

Es werden zudem gewöhnlich ausschließlich klassische dramaturgische Mittel (zum Beispiel hinsichtlich der Kameraperspektive)[51] verwendet – eine weitere Vereinfachung für die Rezeption. Der Zuschauer muss sich nicht in Unbekanntes hineindenken, sondern kann Altbewährtes wie gewohnt verarbeiten. Auch die extreme Reduzierung der Räumlichkeiten auf wenige, schnell vertraut gemachte Innenräume hilft dem Rezipienten bei der Orientierung innerhalb der Serie. So wird „ein Assoziationsfeld mobilisiert und die Zuschauer werden auf das in diesem Handlungsraum stattfindende Geschehen eingestimmt.“[52]

Insgesamt geschieht die Serienrezeption daher mit einer spielerischen Unbefangenheit – nicht nur der Einfachheit wegen, sondern auch hinsichtlich der stets „variierend[en]und unterschiedlich abgestuft[en] […] Verhaltensmodelle“[53], die Serien darstellen.

Die Zuschauerbedürfnisse werden in diesem Teilbereich demnach bestmöglich zufrieden gestellt.

Suche nach Sicherheit – Die Attraktivität des Identischen


Die Vorteile des Prinzips der Wiederholung sind oben teilweise schon erörtert worden. In diesem Kapitel möchte ich nun aber noch einen Schritt weitergehen und die Untersuchung ganz detailliert auf das Verlangen des Zuschauers nach Gleichheit und der damit verbundenen Verlässlichkeit für seine Rezeption lenken.

Eine These von Joachim Schöberl lautet: „[…] die Attraktivität der Serie beruht – so paradox dies klingen mag – in einem entscheidenden Maße auf der Bestätigung und der Wiederentdeckung des im Grunde stets Identischen.“[54] Dies würde bedeuten, dass gerade die simple Durchschaubarkeit und Berechenbarkeit, die Serien auf der einen Seite vorgeworfen werden,[55] andererseits ihren Reiz ausmachen. Wie kann das sein? Zunächst einmal muss für die Beantwortung dieser Frage ein Blick auf die menschliche Psyche geworfen werden. Diese sucht nämlich nicht nur nach Spannung und Abwechslung,[56] sondern auch nach Geborgenheit, Vertrautheit und Heimat. All diese Bedürfnisse begründen die „Freude des Wiedererkennens“.[57] Wir erkennen Handlungsschemata ebenso wieder wie die häufig stilisierten Charaktere der Fernsehserien,[58] was – dem einen wie auch dem anderen gegenüber – bestimmte Erwartungshaltungen mit sich zieht. Werden diese erfüllt, ist die Welt des Zuschauers in Ordnung. Er fühlt sich in seiner Überlegenheit bestätigt, was ihn zufriedenstellt. Prozessual gesehen wird für ihn der Raum der Serie mit jeder erfolgreichen „Prognose“, wie es weitergehen wird, sicherer und sicherer. Die fiktive Serienwelt bietet so eine künstlich angelegte Gefahrlosigkeit, welche die heutige Wirklichkeit oft nicht mehr zu bieten vermag. Wo im Alltag unerwartete Überraschungen auftreten können, welche die heile Welt stören und Bedrohung und Angst bedeuten, kann in der abgesicherten Serienlandschaft dem Zuschauer nichts passieren. Werner Faulstich fasst dieses Phänomen in einem Satz zusammen: „Unterhaltung des Fernsehens zielt auf psychischen Halt.“[59]

Die Zuschauer genießen ihre beinahe allwissende Perspektive. Sie erfreuen sich daran, dass sie, während sie eine Folge sehen, „mehr [wissen] als ihnen der Einzelkontext der Episode vermitteln kann.“[60] Die Begründung dieses Genusses ist wahrscheinlich in der Tatsache zu finden, dass dem Publikum das Gefühl gegeben wird, über den Dingen zu stehen, die Kontrolle über die Serienhandlungen zu haben. Alles ist aus seinem Blickwinkel überschaubar, logisch und richtig. Der dem Rezipienten gegebene Eindruck von Sicherheit und Souveränität resultiert demgemäß in der nach wenigen Folgen aufgebauten „Familiarität mit dem Serien- oder Genretext“.[61]

Daher sind es gerade die sehr durchschaubaren Raster, nach denen die Handlung in Fernsehserien abläuft, welche einen großen Teil des Erfolgs dieser Gattung ausmachen. Spannung und Abwechslung gehören nur partiell zum Rezept, wie sich noch zeigen wird.

Suggestion der Wirklichkeit – Parallelität zum Alltag und Identifikationsmöglichkeiten


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