Professionalität ohne Herzlichkeit ist Arroganz
Die Seele des Kuckucks
Der Kuckuck in der Schwarzwälder Uhr ist ein verhinderter Rockstar. Gebaut für das Brettchen, das die Welt bedeutet, darf er nur stündlich für wenige Sekunden ans Licht. Sein Repertoire ist beschränkt auf den immer gleichen Ausruf, der dem geneigten Kitschliebhaber seine Erwartungshaltung erfüllt. Schon als Kind habe ich mich gefragt, was dieser bunte Vogel wohl denken mag, hinter seinem Türchen, in jeder dunklen Stunde, bis er wieder für einen kurzen Moment ins Rampenlicht darf. Selbst wenn die Türen sich öffnen, darf er nicht singen, was er will. Kaum hat er seinen Standard abgespult, zieht der Mechanismus seiner Bühne ihn gnadenlos wieder hinter den hölzernen Vorhang.
Will er nicht raus da und fliegen und singen? Wie fühlt sich das an, immer nur nach Vorschrift zu zwitschern, immer in der Rolle zu bleiben und nie herauszufinden, ob er die Welt mit seiner Stimme erobern kann?
Als Azubi in einem Hochschwarzwälder Gasthof gab ich drei Jahre lang den Service-Kuckuck. In einer ganz kleinen Welt, dem Modell einer Kuckucksuhr im größeren Maßstab. 1987 begann ich meine Ausbildung im Hugenottenhof in Hinterzarten am Titisee. Damals hatte er vier Sterne. Inzwischen wurde er abgerissen und neu gebaut – mit einem veränderten Konzept. Ich bezweifle, dass es für die heutigen Service-Kuckucks dort einen Unterschied macht. Eine Kuckucksuhr ist eine Kuckucksuhr ist eine Kuckucksuhr.
Nicht nur der Hugenottenhof hat sich verändert. Heute bin ich froh darüber, dass ich dort gelernt habe. Drei Jahre in der Mechanik der Kuckucksuhr waren eine Lektion fürs Leben. Ohne diese Erfahrung hätte ich vielleicht nie erkannt, wo das Herz des Service schlägt, wie sich Service Excellence anfühlt und welchen Unterschied das für den Gast macht. Ein Freigeist ist nicht auf einem Brett festgeschraubt. Er fliegt, wohin er will. Er entscheidet selbst, wann es Zeit ist, auf die Bühne zu gehen und wieder hinter dem Vorhang zu verschwinden. Nur wenn er seine Leidenschaft auslebt, kann er sie auf andere übertragen. Ein Lakai ohne Agenda, der sich auf seiner Bühne nicht zu Hause fühlt, kann auch keinen Gast behandeln wie einen Star.
Vielleicht hätte ich auch fliegen gelernt, ohne vorher drei Jahre auf den wurmstichigen Brettern des Hugenottenhofs festgeschraubt zu sein. Aber hätte es sich genauso großartig angefühlt?
Polyester statt Tennishosen
Ohne die geringste Ahnung, was mich erwarten könnte, hatte ich mich für einen Job in der Hotel- und Tourismusbranche entschieden. Dass man für Ziele hart arbeiten muss – vor allem an sich selbst –, hatte ich dagegen längst gelernt. Genau genommen hatte ich schon zwei geplatzte Karriereentwürfe hinter mir.
Als Jugendlicher hatte ich Tennis als Ausweg entdeckt. Der Tennisplatz am anderen Ende der Sackgasse, in der ich wohnte, wurde zu meinem Refugium – und, so glaubte ich lange Zeit, zu meinem Tor in die große, weite Welt. Ich war ein Raubein; der Geruch von Asphalt und verschwitzten Straßenkindern und die Farbpalette von Veilchen im Gesicht hatten meine Kindheit geprägt. Unter den Lacoste tragenden Tennis-Söhnchen der Cabrio-Mütter, die so ganz anders waren als ich, fiel ich auf. Auch meinem Trainer Rainer, der meiner aufbrausenden Art kaum Herr wurde. Er versuchte mich mit Liegestützen, Kniebeugen und Sprints zu sozialisieren, doch es half nichts. Seine Versuche, meine Energie zu kanalisieren, machten mich nur noch stärker, schneller, aggressiver.
Es dauerte nicht lange, bis ich zu einem ernsthaften Gegner für die Luxuskinder aus der Umgebung wurde. Erst wurde ich Bambino-Clubmeister, dann Stadtmeister, dann ging es in eine höhere Liga. Andere Vereine wurden auf mich aufmerksam. Ich erhielt einen Sponsorenvertrag von Adidas und trug abwechselnd die neuen Linien von Ivan Lendl und Stefan Edberg. Wenn meine Tagesform nicht mit meinen Erwartungen mithalten konnte, zerschlug ich schon mal einen der gesponserten Schläger am Netzpfosten.
Zu jenen Tennisspielern, die ihre Gegnerschaft auf den Ball projizieren, ihn hassen und auf ihn einprügeln, wie einst Jimmy Connors, gehörte ich nicht. Sondern zu denen, die den Gegner auf der anderen Seite des Platzes ausmachten. Der Ball war mein Freund, mein Werkzeug, meine Waffe, ein Teil von mir. Tausende Male am Tag presste ich ihn in meiner Hosentasche zusammen, um den Epicondylus lateralis humeri zu stärken – einen der wichtigsten Muskeln des Tennisspielers. Bälle lange hin und her zu spielen und mich taktisch an den Gegner heranzutasten, lag mir nicht; ich wollte immer gleich punkten. Aufschlag-Volley, Return-Volley, Punkt. Es funktionierte. Der Ausweg aus der Sackgasse schien perfekt.
Bereits mit 14 begann ich andere zu trainieren und mein erstes eigenes Geld zu verdienen. Mit 17 gründete ich neben der Schule, die ich nur noch gelegentlich besuchte, eine eigene Tennisschule. Mein erster Service-Gedanke war geboren: Ich wollte den Menschen mehr bieten, als nur gelbe Filzkugeln übers Netz zu schlagen. Ich gab meinen Schülern, was sie wollten: Abwechslung, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Das funktionierte tatsächlich so gut, dass ich mir bald einen Partner ins Boot holte, um die hohe Nachfrage überhaupt noch bedienen zu können. Als Spieler war er deutlich schlechter als ich, dafür war er jedoch ein echter Charmebolzen. In seiner eigenen Wahrnehmung war er außerdem einer der besten Surfer der gesamten Milchstraße, und tatsächlich sah er Björn Dunkerbeck in der alten Fernsehwerbung für Milky Way verblüffend ähnlich. Mein Surfer-Freund erklärte mir, was Cashflow bedeutet, und überredete mich, Unterrichtsstunden nur noch »en bloc« zu 20- oder 30-Stunden-Einheiten anzubieten. Schnell hatten wir 500 Stunden verkauft. Ich fühlte mich reich und bildete mir ein, die Schule nicht mehr zu brauchen. Lustlos absolvierte ich trotzdem irgendwie die 12. Klasse. Mein Ziel war ja längst gesteckt: Ich wollte Tennisprofi werden, und mit den Unterrichtsstunden würde ich es auch schaffen.
Der Traum platzte noch vor dem Ende meiner Schulzeit. Die 500 Stunden waren zwar verkauft, allerdings größtenteils noch abzuarbeiten. Mein Partner aber war weg. Er hatte das Geld genommen und sich, so munkelte man, nach Australien abgesetzt. In den folgenden Monaten arbeitete ich allein nach und nach die 500 Stunden ab, dafür sorgte mein Vater. Er wollte sicherstellen, dass ich diese Lektion fürs Leben nicht so schnell vergaß.
Mein erster Enthusiasmus war gründlich verflogen. Ich erkannte, dass ich mein Geld nicht für den Rest meines Lebens in kurzen Hosen verdienen wollte. Eine Alternative hatte ich aber noch nicht. Kurz darauf nahm mir das Schicksal eine Entscheidung ab: Ein Bänderriss, gefolgt von einem Leistenbruch und als krönendem Abschluss auch noch von einem Bandscheibenvorfall senkten die ohnehin geringen Chancen auf eine Karriere als Tennisprofi auf null. Als Profisportler kann man den Körper bis zu einem bestimmten Punkt austricksen, aber ein schwaches Bindegewebe ist ein Dealbreaker. Und ich hatte ein schwaches Bindegewebe.
Das war’s. Ich hatte immer noch keinen Plan B für mein Leben. Ich grübelte, suchte, wand mich in meiner Orientierungslosigkeit. Bis ich an einer Tennisbar ein hübsches Mädchen kennenlernte, das mir von ihrer Ausbildung zur Restaurantfachfrau erzählte. Mir gefiel, was ich da hörte: Abwechslung, Ambiente und Anerkennung. Meinem Vater gefiel es gar nicht: »Kellner? Ist das dein Ernst?« Er zerrte mich zum Arbeitsamt. Heraus kam ich mit dem besser vertretbaren Karrierevorschlag »Hotelfachmann«.
Vom Tennislehrer zum Hotelfachmann – ein ziemlicher Spagat, könnte man meinen. Damals war es mir nicht klar, aber rückblickend kann ich die Konstante durchaus erkennen: Mein Interesse galt der Dienstleistung. In meiner jugendlichen Naivität waren es jedoch andere Eigenschaften, die ich zur Qualifikation hochstilisierte: Ich hatte Lust auf Menschen, ich hielt mich für unwiderstehlich, und vom Tennis hatte ich einen perfekt geformten Hintern für die Damenwelt an den Tischen, zwischen denen ich servierend hin und her flanieren würde. Die Welt der Hotellerie umwehte in meiner Vorstellung der Hauch von Glamour, Freiheit und Abenteuer: luxuriöse Suiten, temperierte Pools, die Chance, bei der Arbeit die Welt mit einem Glas Champagner in der Hand zu entdecken. Und nicht zu vergessen: Ständig würde ich umgeben sein von erfolgreichen, betuchten Gästen. Grenzenlose Möglichkeiten, wohin das Auge reicht. Ich mit meiner unbändigen Energie und meinem raubeinigen Charme musste nur noch bis zur Spitze durchmarschieren. Was sollte da schon schiefgehen?
Die Tempelwächter des Fünf-Sterne-Service, die Personalabteilungen der feinen Hotelketten, zeigten sich von meiner Qualifikation wenig beeindruckt. Weder bei Kempinski noch bei Ritz Carlton oder Mandarin Oriental hatte man auf mich gewartet, wie sich schnell herausstellte. Ich bekam eine Absage nach der anderen. Heute, als geschäftsführender Gesellschafter meiner eigenen Hotelgesellschaft Kameha Grand und der RichtigRichtig.com Management- und Unternehmensberatung, kann ich es den Kollegen von damals nicht verdenken.
Und so nahm ich, was ich bekommen konnte: eine Lehrstelle als Kellner – eigentlich: Hotelfachmann – am Titisee im hintersten Winkel des Hochschwarzwalds. Schneewittchen hätte sich dort wohlgefühlt. Für mich war der Hugenottenhof nicht mehr als eine Notlösung. Immerhin würde ich mit Gästen zu tun haben und mir so meine ersten Sporen in der Hotellerie verdienen. Doch bevor ich im Hugenottenhof beginnen konnte, musste ich zunächst sogar noch einige Monate...