Ich hatte Baguettes mit Roastbeef und Camembert belegt und noch eine Flasche Sekt in meine Tasche gepackt. In meiner romantischen Vorstellung würden August und ich zusammen auf den Kreuzberg hoch spazieren und im Sonnenuntergang den Blick über Berlin genießen. Doch kaum oben angekommen, ließ August seiner schlechten Laune freien Lauf. Sowieso lebten wir zu sehr in einer Diktatur der Positivität, Ehrlichkeit in Bezug auf negative Gefühle sei wesentlicher kraftvoller, befand er. Die Baguettes waren kalt, er hätte lieber etwas Warmes in einem Restaurant an der Bergmannstraße gegessen. Und warum wir hier zwischen Studenten, ihren Fahrrädern, Punks, ihren Hunden, einem Haufen Zecken und Mücken sitzen müssten, verstehe er sowieso nicht. Jahre später ist mir bewusst, dass das ständige Runtermachen meiner Person, seiner Geliebten, vermutlich zu Augusts gestörtem Plan gehörte, sich nicht zu sehr in mich zu verlieben. Indem er alles, was ich für ihn sein könnte, radikal dekonstruierte, konnte er frei von mir bleiben und sich nicht in der Leidenschaft, die es in besseren Momenten zwischen uns beiden gab, verlieren.
Damals fühlte ich mich aber einfach nur schlecht und schuldig, die Regeln seines partnerschaftlichen Wohlbefindens nicht zu kennen.
Wir blickten irgendwann doch in die wabernde rote Abendsonne und sprachen über uns. August war einer meiner Vorgesetzten in der Redaktion, 45 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder, aber zwei Fehlgeburten, die er mit seiner Frau erlebt hatte. Ich stand kurz vor Ende meines Studiums, war freie Journalistin und Mitte 20. Seit wir eine Affäre hatten, die wir gut versteckten, trug er immer ein buntes Palästinensertuch um den Hals, wie es damals in den Nullerjahren hip war. Es verriet mir, dass er für mich ein bisschen cooler, ein bisschen jünger sein wollte. Ansonsten war er mehr der gesetzte Typ, Marke Karl-Theodor mit Adelstitel, Doktor der Philosophie mit Loser-Gen – Schuld waren natürlich die anderen. Trotz Promotion schrieb er heute nur für eine Lokalzeitung, und das ärgerte ihn massiv.
»Was denkst du, Carolinchen? Soll ich meine Frau verlassen, mich scheiden lassen und wir nehmen eine Wohnung? Ist es das, was du willst?«, fragte er mich.
Ich zuckte nur mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Was wäre denn richtig zu wollen? Was wäre dir denn am liebsten, was ich mache?«, antwortete ich nach einer Weile.
August schaute mich schmunzelnd und von oben herab an, er lächelte leicht amüsiert, als wäre ich ein kleines Dummerchen.
Ich wertete das positiv. In einer Zeitschrift hatte ich gelesen, dass Männer auf Frauen stehen, die für sie metaphorisch eine weiße Projektionsfläche sind, auf der sie ihre Fantasien abspielen können. Um diesen Eindruck des absoluten störungsfreien Nichts zu gewährleisten, sei es erforderlich, Sätze mit »Ich weiß nicht«, »Ich hoffe« oder »Ich denke« anzufangen, diese aber dann nicht zu Ende zu führen.
»Vielleicht findet sich alles von alleine«, sagte August nach einer Weile. Er schaute dabei blasiert in die Leere. Natürlich redete er Blech. Niemals hätte er seine Frau verlassen. Schon gar nicht für mich, die absolut nichts für ihn darstellte, außer dass sie ihn an seinen eigenen jugendlichen Ehrgeiz erinnerte. An seine Lust zu schreiben, die so langsam vor sich hin verendete wie ein mit Öl bedeckter Vogel, der noch nicht ganz die Fähigkeit verloren hatte, mit den Flügeln zu schlagen. Ich konnte ihm nur mich anbieten, nicht anecken, höflich sein. Als Frau funktionieren.
Die Psychoanalytikerin Joan Riviere schrieb im Jahr 1927 in »Weiblichkeit als Maskerade« über das zwanghafte Flirten und Kokettieren einer ihrer Patientinnen mit Männern: »Es war der unterbewusste Versuch, sich gegen die Angst zur Wehr zu setzen, die sich einstellte, weil sie nach der intellektuellen Leistung ihres Vortrags Vergeltungsmaßnahmen von Seiten der Vaterfigur befürchtete. (…) Sobald die Vorführung vorüber war, wurde sie von einer furchtbaren Angst vor Vergeltung, die ihr Vater üben würde, erfasst.« Offensichtlich war laut Riviere das Bestreben, sich den Männern sexuell hinzugeben, ein Versuch, den oder die Rachesuchenden zu besänftigen.
In Riviere finde ich mich wieder. Das Gefühl, durch seine eigene Denkleistung Männer in ihrer Umgebung zu diskreditieren und deshalb wieder freundlich einfangen zu wollen, ist wie die angepasste Rolle des klugen, aber harmlosen Girls in mir eingebrannt.
So wie meine Wenigkeit hatten wir es fast alle als Mädchen gelernt. Schon im Kindergarten übernahmen die Jungs den Blödsinn, das Weglaufen und Raufen. Wir Mädchen wurden dagegen fürs Ponykämmen, Kaufladen-Spielen und Puppen-Umziehen gelobt. Später kamen die Disney-Filme, die Mädchen-Magazine, die romantischen Komödien hinzu. Und mit ihnen die Erkenntnis, dass Brav und Schön zum Ziel kommt.
Mit 16 Jahren zeigte mir meine große Jugendliebe Richard einen Porno mit Gina Wild. Wir saßen vor seinem Computer und begutachteten das Filmchen. Ich sehe es so klar vor mir, als wäre es gestern gewesen. Gina Wild kniet vor dem Typen und gibt ihm einen Blowjob. Sie gibt sich dabei viel Mühe, am Ende des Rein und Raus, Spucken, Lecken, Würgen kommt sie auf 20 Minuten. Ich sah fasziniert und gleichzeitig angeekelt zu. Ich konnte mir schwerlich vorstellen, dass es Spaß machen könnte, 20 Minuten einen Schwanz im Mund zu haben, sagte meinem Freund zuliebe aber nichts. Vielleicht war ich auch einfach zu verklemmt für solche expliziten Gebrauchsanweisungen am männlichen Genital.
So kommt es mir bis heute vor, dass die Suche nach meinem eigenen Wollen, meinem Begehren wie ein Wandeln im Nebel von Avalon war. Als junge Frau hatte ich erst eine Freundin, derweil empfand ich wenig Anziehung für das andere Geschlecht. Irgendwann verstand ich, woran das liegen könnte. Meine Erziehung zur sanften Unterordnung, die Einflüsse der Jungs und die Quellen meines Lebens, meine Familie und Umgebung, hatten dafür gesorgt, dass ich meine eigenen Wünsche nicht kannte.
Heute weiß ich: Es gibt für viele Frauen meiner Generation kein weibliches Wollen. Die Anziehung liegt darin, von Männern gewollt zu werden. Aber das nur zu gewissen Stunden, im bestimmten Kontext, der stündlich wechseln kann – im Bett, im Supermarkt, in einem Büro oder Gerichtssaal, beim Finanzamt, zum Elternabend, in der Sauna, im Spa oder einer Bar. Immer ist es eine andere Frau in uns, die da steht, kämpft, tröstet oder der Zerstreuung dient. Bis heute empfinde ich große Schwierigkeit darin, meinen Frauen-Identitäten als Mutter, Geliebte, Komplizin, Kollegin oder Freundin einen roten Faden zu geben – an dem am Ende hoffentlich mein Ich steht. Die Identitäten, sie widersprechen sich nämlich und diskutieren ständig miteinander.
»Sie muss schön sein.«
»Nicht zu sehr, sonst nimmt man sie nicht ernst. Sie hat doch auch etwas im Kopf. Und sie muss ja mit ihrem Kopf Geld verdienen.«
»Aber nur dumm fickt gut. Niemand will eine Frau, die Fragen stellt.«
»Ja, aber MANN will ja auch angeben können.«
»Und sie ficken.«
»Aber die Mutter, die fickt man nicht.«
»Doch natürlich, weil sie ja nach zwei Kindern noch fuckable ist.«
»Na ja.«
»Doch.«
»Nein.«
»Doch.«
Das Spiel mit den Masken, mit den Rollen, es ist uns anerzogen und wir sollen es als Privileg betrachten, zu taktieren. Je nach Situation, Nachfrage und anwesendem Gebieter optimieren wir unser Ich zur maximalen Attraktivität und suggerieren damit dem Gegenüber – auch aus opportunistischen Gründen – ständige positive Bereitschaft.
Als Siebenjährige sah ich eine Uhrenanzeige im Vogue-Magazin meiner Mutter, das bei uns im Wohnzimmer lag. Eine wunderschöne Frau auf einem Diwan und darüber der Spruch »Wer möchten Sie in den nächsten 24 Stunden sein?«. Damals fand ich diesen Satz wahnsinnig mondän, im Rückblick heute scheint er mir wie eine düstere Verheißung, was mein späteres Leben als Frau angeht. Doch es gibt Risse in der Gesellschaftsordnung, Möglichkeiten der Andersartigkeit und des Tunnelings, auf die ich gerne eingehen möchte. Sie erfordern Mut, machen aber auch Spaß. Und sie führen zu wesentlich mehr Lässigkeit und der Courage, glücklich zu sein. Denn frage ich mich heute, wer ich in den nächsten 24 Stunden sein möchte, würde ich sagen: Hauptsächlich ich.
Um uns und allen Töchtern der nächsten Generationen sicheres Geleit zu geben, ist es wichtig, Dinge zu benennen. Vor allem, ein Wort zu finden für das Verhalten, welches dazu führt, dass Frauen sich anbiedern und damit männlich dominierte Machtstrukturen noch ins nächste Jahrhundert herüberretten und ihr eigenes Grab schaufeln. Doch bis heute scheitert vollendete Feminismus-Theorie vor allem daran, dass wir eben viele Dinge nicht benennen können. An Gefühlen, die wir nicht ausdrücken können.
Ein gutes Beispiel für einen bislang nicht benannten Zustand gab die US-Amerikanerin Kristen Roupenian mit ihrer Kurzgeschichte »Cat Person«. Sie handelt von einer Studentin, die den richtigen Moment verpasst, »Nein« zu einem One-Night-Stand mit ihrem Date zu sagen. Für den Leser peinlich offen, seziert sie jede Berührung ihres schlechten Sex-Aktes, jede kleine wechselseitige Peinlichkeit im Moment größtmöglicher Intimität. Diese Kurzgeschichte war die erfolgreichste des Magazins »New Yorker« im Jahr 2017. Hunderttausende Frauen schrieben Leserbriefe und ihre eigenen Erfahrungen auf. Eine Kommentatorin schrieb: »Ich möchte eine polizeiliche Ermittlung, wie sie es geschafft hat, meine Gedanken zu lesen.« Tausende folgten diesem Tenor. Und es ist...