3. Das Werk oder: Die Erfindung des Menschlichen
Im elisabethanischen London und in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts war es unüblich, Theaterstücke zu veröffentlichen, denn sie galten als niedere Gattung: als Material, mit dem Schauspieler und Autoren arbeiteten, weniger als fertige Texte mit fester Gestalt, die den Druck rechtfertigen würde. Besonders erfolgreiche Stücke der elisabethanischen Theaterautoren erschienen in einfachen Einzeldrucken, die nicht als eigenständige Buchveröffentlichungen verstanden wurden, sondern zum Besuch der entsprechenden Aufführung anreizen sollten.
Freischaffende Autoren mussten den Schauspielerensembles saubere Manuskripte, Reinschriften der zu sprechenden Texte, einreichen, aber als Mitinhaber und Hauptautor der Chamberlain’s Men scheint Shakespeare seiner Truppe nur Entwürfe als Arbeitsgrundlage ausgehändigt zu haben. Daraus entstanden während der Proben oder bereits nach ersten Aufführungen überarbeitete Rollen- und Regiebücher. Diese am praktischen Bedarf orientierten Handschriften – Entwurfshandschriften, Zwischenabschriften, Regiebücher – bildeten die Druckvorlagen.
Zwanzig Stücke Shakespeares sind zu seinen Lebzeiten in Quartoausgaben erschienen: einfachen Buchformaten (der Druckbogen wurde viermal gefaltet, so dass ein Format von etwa 20 × 23 cm herauskam). Da das Verlags- und Druckgewerbe noch nicht wie heute organisiert war und es noch keine klaren Regeln für die Vergütung von Autorenrechten gab, gingen den Veröffentlichungen der Quartoausgaben Auseinandersetzungen der Schauspielertruppen mit den Autoren einerseits und mit den Verlegern andererseits voraus.
Ausgaben, gar Gesamtausgaben von Stücken, gab es nicht. Insofern bedeutete das Erscheinen der gesammelten dramatischen Werke von Ben Jonson 1616, in Shakespeares Todesjahr, eine Wende im Literaturbetrieb und nicht zuletzt im Verlagswesen. Denn mit dieser sorgfältig edierten und aufwendig gedruckten Ausgabe beanspruchte Jonson für die dramatische Gattung dieselbe Anerkennung, die bis dahin dem Epos oder der Lyrik zuteil wurde.
Indem Jonsons Ausgabe eine Aufwertung des Dramas als literarischer Gattung darstellte, gab sie den Impuls für ähnliche verlegerische Unternehmungen. Dem Beispiel von Jonson folgend beschlossen zwei frühere Schauspielerkollegen von Shakespeare, eine Gesamtausgabe seiner Stücke zu veröffentlichen. Diese Ausgabe erschien in London 1623, also sieben Jahre nach Shakespeares Tod, in einer Auflage von etwa 1200 Exemplaren unter dem Titel Mr. William Shakespeare’s Comedies, Histories and Tragedies. Es war ein Buch von 908 Seiten in dem damals üblichen Folioformat (mit einer Buchrückenhöhe von etwa 40 cm). Weil gleichzeitig gedruckt und Korrektur gelesen wurde, ist jede Ausgabe eine Mischung aus korrigierten und unkorrigierten Seiten – es entstanden etwa 40 verschiedene Varianten dieser ersten Folioausgabe.
Diese Ausgabe beinhaltete 36 Stücke: 14 Komödien, 10 Historien, 12 Tragödien, die innerhalb dieser drei Kategorien willkürlich geordnet wurden; nur die Königsdramen waren chronologisch nach den Titelhelden angeordnet. Das historische Drama Heinrich VIII. gilt als Gemeinschaftswerk von Shakespeare und John Fletcher – ebenso wie die Komödie Die beiden edlen Vettern, die 1634 zum ersten Mal gedruckt und erst in moderne Shakespeare-Gesamtausgaben aufgenommen wurde, und wie die Tragödie Perikles, die erst der dritten Folioausgabe von 1663 hinzuzugefügt wurde.
Das Titelblatt der »First Folio«
Das Corpus von Shakespeares dramatischem Werk besteht also aus 35 Stücken, die ihm als Alleinautor zugeschrieben werden, und aus weiteren 3 Stücken, die er zusammen mit Fletcher geschrieben hat. Eine genaue Datierung der einzelnen Stücke ist schwierig, weil verlässliche Dokumente und Nachweise fehlen oder lückenhaft sind. Deshalb wurden dokumentierte Aufführungsdaten, die Erscheinungsjahre der einzelnen Quartoausgaben, Bezüge auf die zeitgenössische Literatur ebenso wie Anspielungen auf Personen oder Ereignisse der Zeit, Besonderheiten der Verskunst oder des Wortschatzes benutzt, um die Entstehungszeit der Stücke zu ermitteln und so eine einigermaßen kohärente Chronologie zu rekonstruieren.
Da es von Shakespeares Stücken keine Manuskripte und keine Ausgabe letzter Hand, also keine von ihm selbst überwachte Ausgabe seiner Werke gibt, gilt die erste Folioausgabe als verbindlicher Text, an dem sich alle folgenden Ausgaben orientierten. Aber die Form, in der man Shakespeares Stücke kennt, ist das Resultat einer jahrhundertelangen editorischen Bemühung, die das Ziel hatte, auf der Grundlage der Folioausgabe und unter Berücksichtigung der Überlieferungsverhältnisse eine überzeugende Textgestalt zu erarbeiten. Erst 1986 erschien der Complete Oxford Shakespeare, der den konsequentesten kritischen Text des Shakespeareschen Gesamtwerks bietet.
Die folgende Darstellung des dramatischen Werks hält sich an die Einteilung nach Gattungen der ersten Folioausgabe, dabei werden die Komödien und Tragödien in (mutmaßlicher) chronologischer Folge präsentiert, die Historien in der Reihenfolge der historischen Abläufe.
3.1 Die Komödien oder: Das Glücksversprechen
Aus der Situationskomik und den Verwechslungsspielen der commedia dell’arte, den Maskeraden des mittelalterlichen Volkstheaters und der Melancholie der Romanzen hat Shakespeare eine neue Form der Tragikomödie entwickelt, in der komische und tragische Handlungsstränge ineinander verwoben sind und von einer erotisch-romantischen Spannung zusammengehalten werden. Denn Shakespeares »heitere«, »dunkle« und »romanzenhafte« Komödien sind immer auch Liebeskomödien, in denen die Figuren nach Erwiderung ihrer Liebe streben.
So sind Shakespeares Liebeskomödien keine Ehekomödien – sie zeigen die Werbung der Liebenden umeinander und die Hindernisse, die sie bewältigen, um zueinander zu kommen. Dabei spiegeln sich die Liebeswirren der meist adligen Hauptfiguren in burlesken Nebenhandlungen um die Nebenfiguren, Diener oder Narren, so dass nicht nur eine dramatisch effektvolle Stilmischung, sondern auch ein erhellender Kontrast zwischen zwei Welten entsteht. Die Turbulenzen der Handlung werden durch ein happy ending gebändigt: getrennte Geschwister finden sich, auseinandergerissene Familien kommen wieder zusammen, Geliebte erkennen einander, Hochzeiten werden gefeiert. Die Liebe, die in Shakespeares Komödien vorgeführt wird, ist durch die höfische Literatur ebenso wie durch die petrarkistische Lyrik stilisiert – ihre Idealisierung aber wird durch ironische oder realistische Einsprengsel konterkariert. Auch das Spiel-im-Spiel relativiert die Ernsthaftigkeit der Liebeswirrungen und potenziert zugleich die dramatische Illusion.
Immer wieder kombiniert Shakespeare komische Elemente wie Verkleidung, Verwechslung, Täuschung mit tragischen Elementen wie Eifersucht, Verzicht, Scheintod, und immer wieder variiert er dramatische Muster wie Flucht, Zwangsheirat oder Liebesverbot. Hinter den verschachtelten Handlungen stecken im Grunde einfache Geschichten, die stets in der Erfüllung des Glücksversprechens münden. Dabei sind die Mittel, die das glückliche Ende herbeiführen, erkennbar, sei es, dass sie in den Verlauf der Handlung, sei es, dass sie in deren dramaturgische Handhabung eingebettet sind. Spannung entwickelt sich nicht aus der Geschichte heraus, sondern aus der emotionalen Auseinandersetzung der Figuren miteinander und mit sich selbst.
Insofern als die Darstellung des Komischen mit einer moralischen, jedenfalls erbaulichen Bildungsfunktion verknüpft war, entsprachen Shakespeares Komödien der Forderung des Renaissancelyrikers Sir Philip Sidney, dass eine Komödie als »wunderbare Belehrung« dienen, vor allem aber unterhalten solle: falls Belehrung, dann durch jenes heilsame Gelächter, hinter dem sich Selbsterkenntnis verbirgt! Tatsächlich führen Shakespeares Komödien eine Gefühlsvielfalt von fast tiefenpsychologischer Subtilität vor.
Und das ist auch das Besondere an Shakespeares Komödien: die Darstellung menschlicher Emotionen, die sich gegenseitig erhellen, relativieren und legitimieren.
Die Komödie der Irrungen (The Commedy of Errors) wird auf die Zeit zwischen 1592 und 1594 datiert.
Egeon, ein Kaufmann aus Syrakus, erzählt dem Herzog von Ephesus, dass er trotz der Feindschaft zwischen den beiden Städten nach Ephesus gekommen sei, um seinen verlorenen Sohn zu suchen. Denn die Familie wurde vor vielen Jahren auseinandergerissen, als auf einer Seereise das Schiff in einen Sturm geriet: seine Zwillingssöhne, die beide Antipholus hießen und Zwillinge als Diener hatten, wurden getrennt, ebenso wie er und seine Frau. Eines Tages macht sich Antipholus von Syrakus seinerseits mit seinem Diener auf den Weg, um seinen Bruder und seine Mutter zu suchen, und kommt nach Ephesus. Hier lebt sein Zwillingsbruder mit seinem eigenen Diener und ist mit Adriana verheiratet. Auf der Straße trifft zuerst der Diener aus Ephesus auf Antipholus von Syrakus, dann Antipholus von Ephesus auf den Diener aus Syrakus; dann holt Adriana den anderen Bruder ins Haus und verwehrt ihrem wirklichen Mann den Eintritt; dann verlangt ein Schmuckhändler von dem einen die Bezahlung einer Goldkette, die der andere erhalten hat; schließlich flüchtet Antipholus von Syrakus mit seinem Diener in eine Abtei, während Antipholus von Ephesus und sein Diener verhaftet werden. Adriana ruft den Herzog zur Hilfe. Da taucht Antipholus von...