1 | Einführung in die Point&Figure-Chartanalyse |
1.1 Vergessene Kunst
Die Point&Figure-Methode ist in der technischen Chartanalyse nicht eine neue, aber eine fast vergessene Kunst. Ich sage dies, weil die meisten Profis und individuellen Investoren vergessen haben, was die Preise von Wertpapieren fluktuieren lässt. Das eherne Gesetz von Angebot und Nachfrage wird in der heutigen Zeit sich schnell entwikkelnder Technologien in den Hintergrund gedrängt. Immer neue Formen der Wertpapieranalyse schießen aus dem Boden und binden die nimmermüde Neugier der Anlagegemeinschaft. Jeder sucht nach dem heiligen Gral, nach Computerprogrammen, die jeden Tag profitable Handelsmöglichkeiten auswerfen.
In meinen jungen Jahren als Stockbroker einer großen Wall-Street-Firma lernte ich schnell, dass es keinen heiligen Gral im Investmentgeschäft gibt. Der Schlüssel zum Erfolg, in diesem wie in jedem anderen Geschäft, ist Vertrauen, Selbstvertrauen. Mein Lexikon erklärt Selbstvertrauen wie folgt: “Fester Glaube oder Vertrauen, Selbstvertrauen, Sicherheit.” Der Schlüssel zum Erfolg im Wertpapiergeschäft ist Selbstvertrauen und das ist die Eigenschaft, die die meisten Investoren und Investmentberater vermissen lassen. Anleger sind in unseren Tagen mehr und mehr abgeneigt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Das ist der Grund dafür, warum Mutual Funds sich eines Rekords an Mittelzufluss erfreuen. Die Ironie dabei ist, dass dreiviertel oder mehr dieser professionellen Geldverwalter niemals besser abschneiden als die breiten Aktienmarktindizes.
Wie auch immer, für die meisten Investoren bedeutet der Aktienmarkt ein großes Rätsel. Es verwirrt sie gewaltig, dass der Markt nicht so reagiert wie er eigentlich reagieren sollte. Gestiegene Gewinnerwartungen sollten eigentlich die Aktie, die es betrifft, teurer machen. Oder? Nicht unbedingt. In vielen Fällen ist genau das Gegenteil der Fall.
Der Erste, der Aktienbewegungen aufzeichnete, war Charles Dow. So um den Zeitpunkt des Milleniumwechsels zum 20. Jahrhundert stellten schlaue Investoren fest, dass einige von Dow’s Chartbildern die Tendenz hatten, sich zu wiederholen. Zum damaligen Zeitpunkt gab es keine Security and Exchange Commission (SEC). Der Markt unterlag nur wenigen Gesetzen und Regulationen. Aktienpools bestimmten das Marktgeschehen und Outsider hatten keine Chance. Der Markt wurde von Insidern gemacht. Die Point&Figure-Methode wurde als eine logische und organisierte Art, Angebot und Nachfrage zu dokumentieren, entwickelt. Chartbilder versorgen den Investor mit einer Aufzeichnung des Kampfes zwischen Angebot und Nachfrage.
Jedermann ist heute damit vertraut, Straßenkarten für seine Reiseplanung zu benutzen. Wenn wir von Virginia nach New York fahren wollen, dann starten wir unsere Reise auf dem Interstate 95 nach Norden. Passen wir dann bei Beginn der Fahrt nicht auf und geraten unvorsichtigerweise auf den Interstate 95 nach Süden, enden wir in Key West, Florida. Wenn wir uns also auf die Reise von Virginia nach New York vorbereiten, machen wir uns mit der Straßenkarte vertraut, überprüfen die Luft in den Reifen, füllen den Tank mit Benzin, kochen Kaffee und sorgen dafür, dass die Kinder etwas zu lesen und Spielzeug haben. Mit anderen Worten, wir planen den Trip.
Die meisten Investoren versäumen allerdings, ihren Investmenttrip genauso sorgfältig zu planen. Wenn Sie die Point&Figure-Methode, die Analyse von Angebot und Nachfrage lernen, sind Sie als Anleger dazu in der Lage, Ihre Reise zu planen. Es gibt keinen garantierten Anlageerfolg, aber die Wahrscheinlichkeit erfolgreich zu sein, ist wesentlich höher, wenn alle möglichen Faktoren für den Investor arbeiten. Sie mögen auf Ihrer Reise genötigt sein, Umleitungen zu akzeptieren. Das ist in Ordnung, solange Sie sich generell an Ihren Reiseplan halten. Dieses Buch wird Sie damit vertraut machen, den bestmöglichen Plan für finanziellen Erfolg beim Investieren in Wertpapiere zu entwickeln.
Grundsätzlich ist der Sachverhalt simpel: Sind mehr Käufer als Verkäufer am Markt, wird eine Aktie steigen. Sind mehr Verkäufer als Käufer am Markt, wird die Aktie fallen. Wenn gleich viele Leute eine Aktie nachfragen und verkaufen wollen, wird der Preis bleiben, wo er ist. Dieselben Gründe, die dafür sorgen, dass Produke wie Kartoffeln, Mais und Spargel sich im Preis bewegen, verursachen auch die Preisbewegungen bei Wertpapieren.
Zur Bewertung von Aktien und deren zu erwartender Bewegung kommen zwei Hauptmethoden zum Einsatz. Die am häufigsten benutzte Methode ist die Fundamentalanalyse. Das ist die Methode, mit der auch die meisten Analysten vertraut sind. Die Fundamentalanalyse beschäftigt sich mit der Qualität einer Firma, deren Gewinne, der Produktakzeptanz und des Managements. Die Fundamentalanalyse beantwortet also die Frage, welche Aktie gekauft werden soll. Sie können heutzutage fundamentale Informationen über Aktiengesellschaften aus vielen Quellen ermitteln. Sehr viele preiswerte Publikationen stehen zur Verfügung, die sich nur mit der Fundamentalanalyse beschäftigen. Die meisten Wertpapierbanken und Broker versorgen ihre Kunden mit Empfehlungen, die auf fundamentaler Recherche beruhen.
Die andere grundsätzliche Methode, die bei Bewertungen von Wertpapieren eine Rolle spielt, ist die technische Analyse. Die technische Analyse beantwortet die Frage, wann ein Wertpapier gekauft werden soll. Die Bestimmung des Zeitpunktes eines Engagements ist ein sehr wichtiger Schritt. Technische Analysen, die der durchschnittliche Investor verstehen kann, sind nicht so einfach zu erhalten. Es ist daher ein wesentliches Anliegen dieses Buches, den Leser in die Lage zu versetzen, Point&Figure-Charts zu verstehen und zu interpretieren, damit dieser selbst seine Investmententscheidungen fällen kann.
1.2 Warum Point&Figure-Charts?
Die Investmentindustrie ist mit vielen verschiedenen Methoden der Bewertung von Aktienpreisbewegungen überladen. Es gibt Methoden, die auf Balkendiagrammen basieren, alte japanische Candlestick Charts, Gann angels, Elliot waves und vieles andere mehr. Die einzige Methode, die ich entdecken konnte, die klare Signale gibt und leicht zu verstehen ist, ist die Point&Figure-Methode.
Die Charts bestehen aus X- und O-Spalten. Das Aufzeichnen der Wertpapierbewegung mit dieser Methode erinnert an ein Tennisspiel. Ein Tennismatch geht über drei oder fünf Sätze. Jeder Spieler kann Punkte machen und Spiele gewinnen, aber der Spieler, der den entscheidenden Satz gewinnt, ist der Sieger. Bei der Anwendung der Point&Figure-Methode sind wir nur am Höhepunkt des Spieles interessiert. Wir interessieren uns nicht für den Gewinner einiger Spiele, wir interessieren uns für den Sieger.
Die grafischen Bilder, die mit dieser Methode aufgezeichnet werden, sind klar zu erkennen. Sie sind so einfach zu erkennen, dass ich diese Methode sogar bei Grundschülern in Virginia gelehrt habe. Nach meiner Erfahrung ist Einfachheit oft die beste Methode.
Das Grundkonzept dieser Methode muss valid sein. Angebot und Nachfrage sind valid. Einfacher geht es nicht. Ich sage damit nicht, dass andere Methoden nicht gültig seien. Es ist nur so, dass die meisten Leute Angebot und Nachfrage viel leichter verstehen, weil Angebot und Nachfrage Teil ihres täglichen Lebens sind. Machen Sie “Angebot und Nachfage” daher zu einem Teil Ihrer täglichen Investmententscheidungen!
Chartcraft entwickelte 1955 einen der exzellentesten Marktindikatoren, der je erfunden wurde. Es ist der New York Stock Exchange (NYSE) Bullish Percent Index. Wir haben diesen Index viele Jahre mit großem Erfolg angewandt. Während der letzten Jahre haben wir den NYSE Bullish Percent verfeinert, ohne die grundsätzliche Philosophie dieses Indexes zu verändern. Im Kapitel 6 wird dieser Indikator ausführlich besprochen.
Die Sektorrotationsmethode, die in Kapitel 8 beschrieben wird, ist von dem Bullish Percent Index abgeleitet und wurde ebenfalls von Chartcraft entwickelt. Wenn Sie diese grundsätzlichen Dinge lernen und verstehen, wird Ihr Selbstvertrauen als Anleger erheblich gestärkt. Sie werden feststellen, dass Sie dann in den Märkten nicht passiv sind, sondern aktiv agieren. Dies hat mein Leben verändert und ich bin der festen Überzeugung, dass jeder, der sich die Zeit nimmt, dieses Buch zu lesen und die Investmentprinzipien, die darin enthalten sind, berücksichtigt, dieselbe Erfahrung machen wird.
1.3 Wie alles anfing
Während meiner Zeit im Brokergeschäft stolperte ich viele Jahre im Nebel, ehe ich endlich auf die Point&Figure-Methode stieß. Ich startete meine Karriere 1974 bei einer großen Investmentbank in Richmond, Virginia. Die Ausbildung konzentrierte sich vorwiegend auf den Verkauf. Als Trainees lernten wir, dass die Researchabteilung dieser Firma die Anlageideen entwickelte und es unsere Aufgabe war, diese dem Kunden zu verkaufen. In den ersten vier Monaten bereitete sich jeder potentielle Wertpapierhändler (Broker) auf das Serie-7-Examen vor, welches bestanden werden muss, um an der New York Stock Exchange (NYSE) registriert zu werden. Es war ein sehr umfangreicher Lehrgang, der...