1. Wo stehen wir aktuell?
Wer ein bedingungsloses Grundeinkommen thematisiert, macht das nicht im luftleeren Raum, sondern verknüpft dies mehr oder weniger explizit auch mit einer Auseinandersetzung um grundsätzliche gesellschaftspolitische Fragen und Realitäten.
a. Neue soziale Schieflagen entstehen
Insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg galt es in Westdeutschland als selbstverständlich, dass ein Arbeitsplatz „soziale Sicherheit, ein regelmäßiges, langfristig steigendes, ausreichendes Einkommen und ein Mindestmaß an Zufriedenheit vermittelt“1. Doch seit den 1990er Jahren gibt es das lebenslang tragende sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnis, an das unsere Kranken-, Renten-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung anknüpft, für immer weniger Menschen. So stieg zwar die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 27,7 Millionen im Jahr 2001 auf 30,7 Millionen im Jahr 2015, die Zahl der Vollzeitbeschäftigten sank hingegen im selben Zeitraum von 23 Millionen auf 22,5 Millionen. Zeitgleich hat sich die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 4,5 Millionen auf 8,1 Millionen fast verdoppelt.2
Obwohl die Zahl der insgesamt Erwerbstätigen um 11 Prozent von 38,7 Millionen im Jahr 1991 auf 43 Millionen im Jahr 2015 gestiegen ist3, fiel die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden im gleichen Zeitraum um 2 Prozent4. Das heißt, die Arbeit wird allen Wirtschaftsaufschwüngen zum Trotz weniger und sie verteilt sich auf mehr Köpfe. Und weil sich die Zahl der Beschäftigten vergrößerte, sank im Verhältnis dazu die Quote der Arbeitslosen. In absoluten Zahlen ist das deutsche Jobwunder der letzten Jahre weniger beeindruckend. Die Arbeitslosenzahl lag im Jahr 1991 bei 2,6 Millionen, stieg bis zum Jahr 2005 auf 4,8 Millionen an und reduzierte sich in den folgenden 10 Jahren langsam auf 2,79 Millionen im Jahr 2015.5
Schaut man, in welchen Wirtschaftsbereichen die Erwerbstätigen aktiv sind, stellt man fest, dass es zwischen 1991 und 2015 erhebliche Verschiebungen gegeben hat. So ist die Erwerbsarbeit im produzierenden Gewerbe von 1991 bis 2015 stark gesunken.6 In diesem traditionell gut zahlenden Sektor reduzierten sich die geleisteten Arbeitsstunden zwischen 1991 und 2015 um 26,4 Prozent. Die Zahl der Arbeitnehmenden sank sogar um 36,1 Prozent.7
Parallel dazu stieg die Zahl der Arbeitsplätze für abhängig Beschäftigte im Dienstleistungsbereich um 33,4 Prozent.8 Besonders viele Arbeitsplätze wurden im Gastgewerbe (plus 111,5 Prozent) und im Grundstücks- und Wohnungswesen (plus 97,6 Prozent) geschaffen.9 Beide Branchen zeichnen sich durch niedrige Löhne und eine eher kleinteilige Unternehmensstruktur aus. Hinzu kommt, dass im Gastgewerbe die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden nicht im selben Maße anstieg. Alle Erwerbstätigen, einschließlich der Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, leisteten im Vergleich zu 1991 nur 27,6 Prozent mehr Arbeitsstunden. Die Arbeitnehmer/innen, deren Zahl sich mehr als verdoppelt hat, arbeiteten aber nur knapp 40 Prozent mehr. Im Ergebnis verteilt sich die Arbeit auf immer mehr Köpfe.
Und weil sich weniger Arbeit auf mehr Menschen verteilt, verwundert es auch nicht, dass die prekären Beschäftigungen mehr wurden. Im Jahr 1991 waren 79 Prozent der Erwerbstätigen als Normalarbeitnehmer/innen tätig. Atypisch beschäftigt waren 13 Prozent. 8 Prozent waren als Selbstständige tätig. Im Jahr 2015 hatten nur noch 69 Prozent ein Normalarbeitsverhältnis. Der Anteil der Selbstständigen war um zwei Punkte auf 10 Prozent gestiegen. Aber jede/r Fünfte zählt heute zu den atypisch Beschäftigten,10 die in Teilzeit mit 20 oder weniger Wochenstunden tätig sind, geringfügig oder befristet arbeiten oder nur einen Zeitvertrag haben.11
Die Struktur unseres Sicherungssystems ist vor allem in den Sozialversicherungen durch das Äquivalenzprinzip bestimmt. Die sozialen Leistungen sind gekoppelt an das Arbeitseinkommen: Was an Rente oder Arbeitslosengeld gezahlt wird, richtet sich nach den zuvor geleisteten Beiträgen.12 Ausgangspunkt jeder Rentenkalkulation ist der sogenannte „Standard-Eckrentner“. Er ist 45 Jahre ununterbrochen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, verdient im statistischen Mittel und gehört faktisch zu einer aussterbenden Spezies. Schon heute muss ein durchschnittlich verdienender Arbeitnehmer 35 Jahre arbeiten, um am Ende eine Rente in Höhe der Grundsicherung zu erhalten. Wer nur 75 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient, benötigt dafür 47 Jahre.
Je prekärer und volatiler sich die aktive Phase der Erwerbstätigkeit gestaltet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Altersarmut. Bereits zwischen 2003 und 2008 stieg die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und von Erwerbsminderungsrenten um 75 Prozent auf 770.000 Menschen.13
Insbesondere für Frauen tickt hier eine Zeitbombe, denn sie arbeiten besonders oft in (Dienstleistungs)Branchen, die sich durch ein niedriges Lohnniveau auszeichnen. Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen erhalten sie branchenübergreifend gut ein Fünftel weniger Lohn für die gleiche Arbeit und sie arbeiten besonders häufig in atypischen
Beschäftigungsverhältnissen: Im Jahr 1991 arbeiteten 23 Prozent der Frauen atypisch. Im Jahr 2015 war es fast jede dritte Frau (31 Prozent). Von den Männern verfügten im Jahr 2015 immerhin noch 75 Prozent über ein Normalarbeitsverhältnis.14
b. Globalisierung und Industrie 4.0 entwickeln sich
Durch die erste Welle der Globalisierung (1970 bis 1990) traten die sogenannten Billiglohnländer auf den produzierenden Markt, menschliche Arbeit zur Herstellung von Massenkonsumgütern wurde reichlich verfügbar und die Preise sanken. In der Folge verloren die westeuropäischen Belegschaften – nicht nur im produzierenden Gewerbe – innerhalb weniger Jahre ihre über Jahrzehnte erkämpften Rechte und Einkommensgarantien. In Deutschland stieg die wöchentliche Arbeitszeit wieder an und seit Mitte der 1990er Jahre blieben die Reallohnsteigerungen bescheiden.15
Die zweite Welle der Globalisierung (1990 bis 2010) zeichnete sich dadurch aus, dass neben Gütern auch Dienstleistungen international handelbar wurden. In immer mehr Berufen lassen sich immer mehr Tätigkeiten mit einem kleinen Computer und einer Internetverbindung an vielen Plätzen der Welt produzieren und weltweit verkaufen.16 Die neuen Mitspieler der Globalisierung bieten in steigendem Ausmaß genauso hochwertige und vielfältige Güter und Dienstleistungen wie die Länder des Westens.17 Folge ist, dass neben der (Konsumgüter-)Produktion nun auch Unternehmensdienstleistungen wie etwa die Programmierung oder Telekommunikation aus Europa abwandern. Im Gegenzug entstehen zwar an anderer Stelle in der Welt neue hochwertige Arbeitsplätze. Die bisherigen qualifizierten Arbeitskräfte verlieren durch das Outsourcing jedoch ihre Arbeitsstelle.18
Unter dem permanenten Druck, der günstig produzierenden ausländischen Konkurrenz standhalten zu müssen, entwickelte sich eine Vielzahl deutscher Unternehmen in den letzten Jahren vom Produkthersteller zum Systemanbieter. Verkauft werden nicht mehr nur Maschinen oder singuläre Dienstleistungen, sondern ganzheitliche innovative Problemlösungen mit einem industriellen Kern als Basis und einer Hülle unterschiedlichster vor- und nachgelagerter Dienstleistungen – wie Wartung und Modernisierung, Organisationsplanung und Betriebsführung bis hin zur Finanzierung und Versicherung. Um diese vielfältigen Leistungen erbringen zu können, sind spezifisches Fachwissen und besondere Fähigkeiten, die weitgehend konkurrenzlos sind, notwendig. Spezielles Know-how kommt hochflexibel zum Einsatz und muss stetig aktualisiert werden. Vernetztes Arbeiten, Denken und Handeln sind die bestimmenden Merkmale. Entsprechend hoch sind die Anforderungen an die Arbeitnehmenden.19 Nicht jede/r kann und will solche Leistungen immer wieder aufs Neue erbringen. Die Zahl der für diese Aufgaben benötigten Arbeitskräfte ist zudem begrenzt.
Die seit 2010 laufende dritte Globalisierungswelle „macht die internationale Arbeitsteilung endgültig zu einem weltumspannenden, globalen Phänomen, das alle Erdteile gleichermaßen einbezieht“20. Investoren, auch aus den aufstrebenden Volkswirtschaften, bestimmen durch ihre Eigenkapitalbeteiligung den Kurs und die Richtung der europäischen Unternehmen entscheidend mit. Wirtschaftliche Aktivitäten lassen sich in diesem globalen System immer weniger mit den territorial begrenzten Rechtsmitteln der Nationalstaaten regulieren. Die im Jahr 2016 vehement geführten Diskussionen um die Handels- und Investitionsschutzabkommen TTIP und CETA machten auch einer breiteren Öffentlichkeit...