1. Sie nennen mich den »Auslöscher«
Die Prüfung, die uns in der dritten Nacht bevorstand, als wir in Kandahar den ersten Zug der Charlie Company unterstützten, war nicht die erste und würde nicht die letzte sein. Lange bevor ich beim Militär befördert wurde und Scharfschütze für Kommandoeinsätze wurde, stand ich immer wieder vor Herausforderungen. Das gilt wahrscheinlich in gewissem Umfang für alle Berufe. Bei mir spielte sich jedoch alles in kurzer Zeit ab. Ich verpflichtete mich im Jahr 2004 gleich nach der Highschool und diente danach in verschiedenen Funktionen im Third Ranger Battalion. Vorher musste ich das Ranger Indoctrination Program (RIP) bewältigen: Maschinengewehrschütze, Leiter einer MG-Gruppe, Grenadier, designierter Präzisionsschütze, Scharfschütze, Leiter einer Scharfschützengruppe und Meisterscharfschütze.
In den dreieinhalb Monaten von Mai bis August 2009, etwa drei Monate vor meinem vierundzwanzigsten Geburtstag, brachte ich es auf über dreiunddreißig Tötungen. Mit Unterbrechungen war ich seit 2005 im Irak und in Afghanistan eingesetzt worden. 2007 heiratete ich. Dann durchlief ich mehr Schulen und Ausbildungsprogramme als jemand, der den anderen Weg ging, und besuchte das College. Ich glaube, dass ich eine Menge gelernt habe. Aber die ganze Zeit über kam ich mir vor wie ein Felsbrocken, der einen Abhang hinunterrollt, schneller wird, einige Dinge in seiner Umgebung zertrümmert und ein paar andere Dinge einsammelt, die an ihm haften bleiben. Manches davon war schmerzhaft, einiges machte Spaß, und wie jeder andere, der so wie ich dahinrollte, fühlte ich mich ein wenig benommen.
Wie man sich vorstellen kann, hatte ich kaum Zeit mich zurückzulehnen und über alles nachzudenken, was geschehen war und was mich in diese Krisenregion geführt hatte – schon gar nicht während der Phase, in der ich mir den Spitznamen »der Auslöscher« verdiente. Ich wusste, es war pures Glück gewesen, dass wir so viele Einsätze erlebt hatten.
Als bekannt wurde, dass wir in Kandahar eingesetzt werden sollten, warnten uns viele Leute in Fort Benning vor tödlicher Langeweile. Dass ich dem ersten Zug der Charlie Company zugeteilt wurde, war für mich ein zusätzliches Glück. Das war nämlich genau die Einheit, mit der ich im Bataillon aufgewachsen war. Die meisten Männer, mit denen ich zusammenarbeiten sollte, kannte ich bereits. Wir hatten gemeinsame Einsätze hinter uns, und es waren wirklich gute Jungs, voll in Ordnung. Manches würde jedoch anders sein, denn inzwischen hatte ich einen Rang und würde zu den Männern gehören, die Einsätze planten und Besprechungen leiteten. Darauf war ich vorbereitet, aber ich wusste auch, dass Führung mehr Verantwortung bedeutet. Niemand dient in den Streitkräften, ohne sich für seine Kameraden verantwortlich zu fühlen; doch das hier war eine höhere Ebene. Als Kind war ich nicht immer sonderlich verantwortungsbewusst gewesen, und ich hatte immer noch gerne Spaß. Darum redete ich mir ein, dass ich mich nicht allzu sehr ändern würde.
Vor einem Einsatz ist jeder nervös. Als wir hörten, dass wir nach Kandahar fliegen würden, nahmen alle diese Neuigkeit mit einer Mischung aus Erleichterung und Neugier auf. Das Second Ranger Battalion war gerade drüben, und seine Soldaten berichteten, es sei dort sehr ruhig. Ein paar Einsätze. Kein richtiges Feuergefecht.
Ich sollte etwas klarstellen: Das erwähnte Gefühl der Erleichterung vermittelten wir hauptsächlich unseren Ehefrauen und Freundinnen. Ich sagte zu meiner Frau Jessica, mir stehe ein langweiliger Einsatz bevor, wahrscheinlich mein letzter. Ich würde nur ein paar Monate fort sein, dann könnten wir unsere nächsten Schritte besprechen. »Afghanistan nervt. Man sieht kaum jemanden, weil alle versteckt in den Bergen leben. Kandahar ist eine Stadt. Keine Sorge.«
In Wahrheit war ich aus den erwähnten Gründen angefressen. Ich wünschte mir so viel Action wie möglich. Darauf hatte ich mich jahrelang mühsam vorbereitet. Du wirst Scharfschütze; du willst schießen. Du willst deine Arbeit tun. Darum empfand ich nicht nur Unruhe, sondern auch Enttäuschung und Frustration. Es half mir nicht, dass einige Kameraden, die der Forward Operating Base (FOB) Wilson zugeteilt waren, und einige andere in Kandahar uns rieten, unsere Xboxes und Playstations mitzunehmen und jede Festplatte, jedes Zip-Laufwerk und jeden anderen digitalen Datenspeicher, den wir besaßen, mit Filmen zu füllen.
Ein paar Tage später saß ich in unserem alten Mercury Grand Marquis hinter dem braunen Tor, das den geheimen Gebäudekomplex des Third Battalion in Benning umgab. Jessica war in Tränen aufgelöst. Ich fühlte mich hilflos, weil ich sie nicht wirklich trösten konnte, und das machte mich wütend auf mich selbst. Zudem war ich erschöpft von allem, was ein Einsatzbefehl mit sich bringt, von den Sorgen und Erwartungen rund um meine neue Aufgabe. Deshalb war unser Abschied nicht romantisch. Ich weinte ein bisschen und hatte ein schlechtes Gewissen, weil wir beide in den Staaten nur ein paar Monate zusammen gewesen waren.
Ich muss zugeben, dass ich nicht immer der netteste Kerl gewesen war, wenn ich von einem Einsatz zurückkam. Vor diesem bevorstehenden Einsatz hatten meine Kompanie und ich außerhalb der Bagram Air Base, dem Hauptquartier der US-Streitkräfte in Afghanistan, gearbeitet und das SEAL Team Six unterstützt. Dort hatte ich mit einem anderen Ranger-Scharfschützen namens Pete zusammengearbeitet, der mir zeigte, worauf es wirklich ankam. Er war seit einiger Zeit Scharfschütze und diente als Sergeant des Scharfschützenzuges.
Als ich zurückgekehrt war, kam mir Georgia wie eine andere Welt vor. So fühlte es sich immer an. Aber es war nicht hilfreich, dass Jessica während meiner Abwesenheit das ganze Haus umgeräumt hatte. Ich wusste, dass ich mich darüber nicht ärgern sollte. Schließlich bemühte sie sich, die Wohnung zu verschönern. Dadurch fiel es ihr leichter, sich die Zeit zu vertreiben. Trotzdem ... Es ist schwer, nach einem Einsatz den Schalter umzulegen und wieder normal zu sein. Draußen im Einsatz möchtest du, dass sich nichts ändert, dass die Routine weitergeht.
Ich wusste, dass ich den Schalter erneut umlegen und wieder der andere Nick sein musste, dessen Rolle, ehrlich gesagt, im Laufe seiner gut fünf Jahre als Soldat die einfachere gewesen war. Als ich vor dem Auto stand und Jessica umarmte, war das wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film. Sie schmiegte sich an mich, und eine undeutliche, geisterhafte Gestalt trennte sich bereits von ihr und schloss sich den anderen Männern an, die auf dem Gelände umherliefen, um ihre Sachen herbeizuschaffen, während die Triebwerke der C-17 aufheulten und in den Bodenleerlauf schalteten. Dann ging ich wirklich weg, winkte Jessica noch einmal zu – und tauchte in mein anderes Leben ein.
Eine Stunde später hatte ich mich schon eingelebt. Mithilfe von Zolpidem schlief ich ein, und dreiundzwanzig Stunden später war ich in Afghanistan. Mit trüben Augen und trockenem Mund stieg ich aus dem Transportflugzeug, hinein in eine Hitze, wie Georgia sie nicht hervorbringen kann – eine trockene, glühende Hitze, die der Luft jede Spur von Feuchtigkeit entzieht.
Mir gefiel diese Einführung ins andere Leben. Sie war ein Zeichen für einen Neuanfang. Das hier waren nicht die Staaten. Als ich mich umschaute, während wir abluden, aufluden und zum Außenposten fuhren, kam mir überhaupt nichts vertraut vor. Die üppige Frühlingslandschaft von Georgia war weit entfernt. Egal, wohin ich schaute, es gab keine befestigte Straße, keinen weißen Palisadenzaun um die Einfahrt herum, keine Reihe von Briefkästen vor unserem Wohnkomplex, keine summenden, schwirrenden Insekten. Nur die Hitze und den Geruch, eine Mischung aus Heu und Mist. Diese Welt war die Heimat des anderen Nick, der zum »Auslöscher« werden sollte. Ich brauchte nichts, was mich an meine wahre Heimat erinnerte und mein Gedächtnis anregte. Jetzt betrat ich meinen Arbeitsplatz und konnte keine weitere Ablenkung gebrauchen.
Es gefiel mir auch, dass Pemberton und ich in einem Areal untergebracht wurden, das ein Zaun vom Rest der Basis trennte. Alle Soldaten befanden sich in unserer Version einer ummauerten Stadt mit Betonschutzwänden, Metalltoren, Containern, scheinbar kilometerlangen Maschendrahtzäunen und Stacheldraht. Wenn das ein langweiliger Einsatz werden sollte, hatten wir es wenigstens gemütlich. Pemberton und ich fanden unsere Stuben in einem Gebäude, das wie ein schlichter zweistöckiger Wohnblock aus Aluminium aussah.
»Nicht schlecht«, sagte ich zu mir selbst, als ich die Tür öffnete. Ich hatte ein paar Schränke, die Lagerspinden glichen, ein Bett, einen Schreibtisch und Stühle in einem Zimmer, das etwa drei Meter siebzig mal vier Meter sechzig groß war. Obwohl ich versuchte, nicht an Zuhause zu denken, war ich verblüfft darüber, wie sehr der Raum dem Schlafzimmer glich, in dem ich als Kind in Maryland aufgewachsen war. Mein Vater war Staff Sergeant und in Fort Meade stationiert. Wir wohnten in einem bescheidenen Haus in Jessup, Maryland – meine Eltern, meine Schwester Jasmine und ich. Meine Eltern hatten sich in Augsburg in Deutschland kennengelernt, wo sie beide stationiert waren. Meine Mutter war Unteroffizier, aber ich kann mich überhaupt nicht an sie in Uniform erinnern. Als ich alt genug war, um in die Schule zu gehen, hatte sie die Armee bereits verlassen, um hauptberuflich Mama zu sein. Das Geld war immer knapp, darum arbeitete sie bei UPS und Burger King und in anderen Jobs, damit wir leichter über die Runden kamen.
Für mich war es...