1.
Die Rettung
5. März 1973, Daly City, Kalifornien. Ich bin spät dran. Ich muss den Abwasch rechtzeitig fertig haben, sonst gibt’s kein Frühstück. Und weil ich gestern Abend kein Abendbrot bekommen habe, muss ich sehen, dass ich etwas zu essen kriege. Mutter rennt herum und brüllt meine Brüder an. Ich höre, wie sie über den Flur in Richtung Küche eilt, und tauche die Hände schnell wieder in das kochend heiße Spülwasser – doch zu spät. Sie hat gesehen, dass ich die Hände nicht im Wasser hatte.
KLATSCH! Mutter verpasst mir eine Ohrfeige und ich lasse mich auf den Boden fallen. Ich weiß, dass es nichts bringt, dazustehen und den Schlag einfach so hinzunehmen. Durch leidvolle Erfahrung habe ich gelernt, dass sie darin eine Trotzhandlung sieht, was bedeutet, dass ich noch mehr Schläge oder, das Schlimmste von allem, kein Essen bekomme. Ich rappele mich wieder auf und weiche ihren Blicken aus, während sie mich anschreit.
Ich tue so, als sei ich eingeschüchtert und nicke zu ihren Drohungen. »Bitte«, flehe ich stumm, »gib mir nur etwas zu essen. Schlag mich, aber lass mich nicht hungern.« Sie schlägt noch einmal zu und ich knalle mit dem Kopf gegen die gekachelte Arbeitsfläche. Ich lasse Tränen vermeintlicher Unterwerfung über mein Gesicht kullern und sie stürmt, offenbar zufrieden mit sich, aus der Küche. Ich zähle ihre Schritte, um mich zu vergewissern, dass sie sich entfernt, dann seufze ich erleichtert auf. Der Trick hat funktioniert. Mutter kann mich schlagen, so viel sie will, aber sie kann meinen Willen, irgendwie zu überleben, nicht brechen.
Ich erledige den Abwasch und dann meine anderen Aufgaben. Zur Belohnung bekomme ich ein Frühstück – das, was einer meiner Brüder von seinen Frühstückscerealien übrig gelassen hat. Heute gibt’s Lucky Charms. Es sind nur noch ein paar Krümel in einer halben Schale Milch übrig, aber ich schlinge alles, so schnell ich kann, hinunter, ehe Mutter es sich anders überlegt. Das ist schon öfter passiert. Mutter liebt es, Essen als Waffe einzusetzen. Sie ist nicht so dumm, Essensreste in den Mülleimer zu werfen. Sie weiß, dass ich sie später wieder raushole. Mutter kennt die meisten meiner Tricks.
Minuten später sitze ich im alten Kombi der Familie. Weil ich mit meinen Verrichtungen so spät fertig geworden bin, muss Mutter mich zur Schule fahren. Normalerweise renne ich zur Schule und schaffe es gerade noch, zum Unterrichtsbeginn da zu sein, sodass mir keine Zeit bleibt, etwas aus den Lunchboxen der anderen Kinder zu stehlen.
Mutter setzt meinen ältesten Bruder ab, aber mit mir fährt sie noch ein Stück weiter, um mir einen Vortrag über ihre Pläne für morgen zu halten. Sie wird mich zu ihrem Bruder bringen. »Onkel Dan wird sich um dich kümmern«, sagt sie und lässt es wie eine Drohung klingen. Ich werfe ihr einen ängstlichen Blick zu, weil ich wirklich Angst habe. Doch ich weiß, dass mich mein Onkel, auch wenn er ein knallharter Bursche ist, sicher nicht so behandeln wird wie Mutter.
Noch bevor der Kombi ganz zum Stehen gekommen ist, mache ich, dass ich hinauskomme. Mutter pfeift mich zurück. Ich habe meine zerknitterte Lunchtüte vergessen, die seit drei Jahren jeden Tag das Gleiche enthält – zwei Erdnussbutterbrote und ein paar Möhrenstreifen. Ehe ich mich wieder verdrücken kann, befiehlt sie: »Sag ihnen … Sag ihnen, dass du gegen die Tür gerannt bist.« Dann fügt sie in einem Ton, in dem sie selten mit mir spricht, hinzu: »Schönen Tag noch.« Ich schaue in ihre geschwollenen, blutunterlaufenen Augen. Sie hat immer noch einen Kater von der Sauferei von gestern Abend. Ihr einst schönes, glänzendes Haar ist jetzt nur noch eine verfilzte Mähne. Wie gewöhnlich trägt sie kein Make-up. Sie ist zu dick, und sie weiß es. Alles in allem ist dies mittlerweile Mutters typisches Aussehen.
Weil ich zu spät gekommen bin, muss ich mich im Sekretariat melden. Die grauhaarige Sekretärin begrüßt mich mit einem Lächeln. Augenblicke später kommt die Schulkrankenschwester und führt mich in ihr Büro, wo wir unsere Routineprozedur durchlaufen. Zuerst untersucht sie mein Gesicht und meine Arme. »Was ist denn das da über deinem Auge?«, fragt sie.
Ich senke verschämt den Kopf. »Ach, ich bin gegen die Schultür gerannt … aus Versehen.«
Sie lächelt und nimmt ein Klemmbrett von einem Schrank. Sie überfliegt ein oder zwei Seiten und beugt sich anschließend zu mir hinunter, um mir eine Eintragung zu zeigen. »Hier.« Sie zeigt auf das Blatt. »Das hast du letzten Montag auch gesagt. Erinnerst du dich?«
Ich erzähle schnell eine andere Geschichte. »Ich hab Baseball gespielt und den Schläger an den Kopf gekriegt. Es war ein Unfall.« Ein Unfall. Das soll ich immer sagen. Doch die Krankenschwester weiß es besser. Sie bearbeitet mich so lange, bis ich mit der Wahrheit herausrücke. Am Ende werde ich immer weich und gestehe alles, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich meine Mutter schützen sollte.
Die Krankenschwester sagt, dass die Wunde wieder heilen wird und bittet mich, meine Kleider auszuziehen. Da ich diese Prozedur bereits zur Genüge kenne, gehorche ich sofort. Mein langärmeliges T-Shirt hat mehr Löcher als ein Schweizer Käse. Seit zwei Jahren trage ich es tagein, tagaus. Mutter zwingt mich dazu. Es ist ihre Art, mich zu demütigen. Mit meiner Hose sieht’s auch nicht besser aus und bei meinen Schuhen schauen die Zehen heraus. Ich kann meinen großen Zeh aus einem Schuh herausstrecken. Während ich nur in Unterwäsche dastehe, notiert sich die Krankenschwester die verschiedenen Schrammen und blauen Flecken, die ich habe, auf einem Blatt. Sie zählt die Wunden in meinem Gesicht, um festzustellen, ob ihr zuvor vielleicht welche entgangen sein könnten. Sie ist sehr gründlich. Als Nächstes öffnet die Krankenschwester meinen Mund, um sich meine Zähne anzuschauen. Sie sind abgebrochen, als Mutter mich in der Küche mit dem Kopf gegen die Arbeitsfläche gestoßen hat. Sie wirft noch ein paar Notizen aufs Papier. Als sie mich weiter untersucht, hält sie an der alten Narbe auf meinem Bauch inne. »Und das«, sagt sie, »ist die Stelle, an der sie dir mit einem Messer in den Bauch gestochen hat?«
»Ja, Ma’ am«, antworte ich. »O nein!«, denke ich. »Jetzt hab ich wieder was falsch gemacht… schon wieder.« Die Krankenschwester muss die Sorge in meinen Augen gesehen haben. Sie legt das Klemmbrett weg und nimmt mich in die Arme. »Gott«, denke ich, »sie ist so warm.« Ich möchte, dass sie mich nie mehr loslässt. Ich möchte für immer von ihr gehalten werden. Ich kneife die Augen zu, und für einige Augenblicke existiert nichts anderes. Sie tätschelt mir den Kopf. Ich zucke zusammen. Die dicke Beule, die ich mir heute Morgen geholt habe, schmerzt. Die Krankenschwester lässt mich schließlich los und verlässt das Zimmer. Ich schlüpfe rasch wieder in meine Kleider. Sie weiß es nicht, aber ich tue alles so schnell wie möglich.
Die Krankenschwester kommt nach ein paar Minuten mit Mr. Hansen, dem Direktor, und zwei Lehrern von mir, Miss Woods und Mr. Ziegler, zurück. Mr. Hansen kennt mich sehr gut. Ich war öfter in seinem Büro als jedes andere Kind in der Schule. Er sieht auf das Blatt, während die Krankenschwester über den Befund Bericht erstattet. Er fasst mich unters Kinn. Ich habe Angst davor, ihm in die Augen zu schauen. Blicken auszuweichen, ist mir durch meine Versuche, mit meiner Mutter klarzukommen, fast schon zur zweiten Natur geworden. Doch es hat auch damit zu tun, dass ich ihm nichts erzählen will. Vor etwa einem Jahr hat er Mutter einmal angerufen, um sie zu meinen blauen Flecken zu befragen. Zu jener Zeit hatte er keine Ahnung, was wirklich los war. Er wusste nur, dass ich ein verstörtes Kind war, das Essen stahl. Als ich am nächsten Tag zur Schule kam, sah er, was sein Anruf zur Folge gehabt hatte. Er rief Mutter nie wieder an.
Mr. Hansen wettert, dass er jetzt die Nase voll habe. Mir läuft es kalt über den Rücken. Alle Alarmsirenen gehen los: »Er ruft bestimmt wieder Mutter an!« Ich breche zusammen und fange an zu weinen. Zitternd wie Espenlaub und wimmernd wie ein Kleinkind flehe ich ihn an, meine Mutter nicht anzurufen. »Bitte!«, winsele ich, »nicht heute! Verstehen Sie denn nicht? Es ist Freitag.«
Mr. Hansen verspricht mir, dass er Mutter nichts sagen wird und schickt mich in meine Klasse. Weil der Unterricht schon angefangen hat, sprinte ich zu dem Klassenzimmer, in dem wir Englisch bei Mrs. Woodworth haben. Wir schreiben heute eine Klassenarbeit über die Schreibweise aller Bundesstaaten und ihrer Hauptstädte. Ich bin nicht vorbereitet. Ich war eigentlich immer ein sehr guter Schüler, aber in den letzten Monaten habe ich allem in meinem Leben den Rücken gekehrt. Ich habe nicht einmal mehr den Versuch gemacht, mich in die Welt der Bücher zurückzuziehen, um meinem Leid zu entkommen.
Als ich das Zimmer betrete, halten sich die anderen Schüler demonstrativ die Nase zu und tuscheln. Die Vertretungslehrerin, eine jüngere Frau, fächert sich frische Luft zu. Sie ist nicht an meinen Körpergeruch gewöhnt. Sie überreicht mir mit spitzen Fingern die...