Das Morbach-Monster
Der Hunsrück. Ausgedehnte Wälder und breite Wiesen. Schmale Pfade, rauschende Bäche, schmucke Ortschaften. Einzigartige Natur – und Refugium des letzten Werwolfs in Deutschland?
Es ist ein nebliger Herbstabend im Jahr 1988. Die Dunkelheit hat sich schnell und vollkommen über die Luftwaffenbasis Hahn gesenkt und wird nur noch von einem kräftigen Vollmond beleuchtet. Eine kleine Gruppe von amerikanischen Soldaten macht sich auf den Weg zu ihrem Posten. Die fünf jungen Männer bewachen ein großes Munitionsdepot bei Morbach.
Unterwegs kommen die Soldaten an einem Heiligenhäuschen vorbei, das der Jungfrau Maria geweiht ist. Normalerweise flackert in dem Schrein eine Kerze, die nicht bloß die Finsternis etwas zurückdrängt, sondern auch eine klassische Nachtgestalt von den Menschen fernhalten soll. In der nahen Kreisstadt Wittlich habe man nämlich einstmals einen Werwolf getötet. Nach einer alten Legende kehrt die Bestie zurück, wenn die Kerze jemals erlischt. An diesem Abend erhellt kein schmales Lichtbündel das religiöse Wahrzeichen. Die Flamme ist ausgegangen.
Noch sät das merkwürdige Omen den Wachsoldaten keine Furcht ins Gemüt. Aber in derselben Nacht kommt es zu einem Zwischenfall. Sensoren an der kilometerlangen Umzäunung des Munitionslagers lösen Alarm aus. Als Sicherheitsleute die Stelle erreichen, sehen sie eine hundeartige Gestalt, die sich auf die Hinterläufe stellt und über den drei Meter hohen Zaun springt. Das Wesen löst sich in der Dunkelheit auf.
Einer der Soldaten brüllt los: „Stehen bleiben, Sie nähern sich einem Sicherheitsgelände der US-Army. Wenn Sie sich nicht zu erkennen geben, habe ich den Befehl, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.“ Kein Laut durchschneidet die nächtliche Stille. Auch der Wind ist eingeschlafen.
Aber dann geschieht es: „Plötzlich lief das Ding wieder in meine Richtung!“, berichtet der Wachmann später. „Ich habe meine Waffe in Anschlag gebracht und geschrien: ‚Das ist meine letzte Warnung! Geben Sie sich zu erkennen, oder ich schieße!‘ Dann brüllte etwas im Wald. Ich habe noch nie einen Waldlöwen brüllen hören, aber mein Schwager hat mir davon erzählt. Er meinte, der Löwe hört sich an wie eine Frau, wenn sie in Todesangst nach Hilfe ruft. Und genau so hat sich das Ding angehört. Natürlich weiß ich, dass es in Deutschland gar keine Waldlöwen gibt. Aber es war irgendetwas im Wald und es war mindestens zwei Meter groß und hat einen Lärm gemacht wie ein tollwütiger Wolf.“1
Kameraden rücken zur Verstärkung aus, auch ein Suchhund wird zu dem Waldstück gebracht. Aber das Tier zieht den Schwanz ein und bewegt sich keinen Meter in das Dickicht hinein.
Der amerikanische Sagenforscher D. L. Ashliman staunte nicht schlecht, als ihn im Oktober 1997 diese Geschichte anonym und per E-Mail erreichte.2 Ein deutscher Werwolf? Im ausgehenden 20. Jahrhundert?
Bald nach der Veröffentlichung meldete sich ein weiterer US-Soldat, der das Monsterwesen sah und die nächtliche Begebenheit als real bestätigte:
„I was stationed at Hahn Air Base, Germany, from May 1986 to August 1989 as a security policeman, and it was my group that witnessed the Morbach Werewolf. Whoever told you the story about the monster that you put on your website had very accurate information. The creature that we saw was definitely an animal and definitely dog- or wolf-like. It was about seven to eight feet tall, and it jumped a twelve-foot security fence after taking three long leaping steps.“3
Nicht nur in dem bekannten Volksmärchen „Rotkäppchen“ verbirgt sich eine Werwolf-Saga aus deutschen Landen.4 Auch durch den Hunsrück streift mit unverminderter Lebenskraft ein dämonisches Ungeheuer, das zum Standardrepertoire des Gruselpersonals zählt. In fiktionaler und möglicherweise auch nicht-fiktionaler Literatur. Schon antike Historien und Mythologien spiegelten den Werwolf-Glauben wider und enthielten Geschichten von Wer-Bestien, gewöhnlich mit einem persönlichen Kommentar des Autors versehen.
Herodot etwa, der antike griechische Geschichtsschreiber, berichtet von einer osteuropäischen Volksgruppe, den Neuri, die sich laut dem Zeugnis ihrer Nachbarn, der Scythianer, einmal jährlich allesamt in Werwölfe verwandelten. Herodots Anmerkung: „Ich persönlich glaube diese Geschichte nicht, aber sie versichern es dennoch und schwören, es sei die Wahrheit.“5
Ähnlich zurückhaltend äußert sich Plinius der Ältere in seiner Naturalis Historia: „Mit allem Nachdruck verurteilen wir die Geschichten von Menschen, die in Wölfe verwandelt werden und dann zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurückkehren, als unwahr.“6
Und das Monster von Morbach? Müssen wir die Erzählungen und Berichte vom deutschen Werwolf in freier einheimischer Wildbahn ebenfalls als unwahr verurteilen? Auch wenn wiederum viele es versichern und schwören, dies sei die Wahrheit? Und was hat es mit Wittlich (im rheinland-pfälzischen Landkreis Bernkastel-Wittlich) als dem angeblich letzten Schauplatz einer Werwolfjagd auf sich?
Wir finden die Geschichte auf einer amerikanischen werewolfpage 7, die Originalquelle bleibt im Dunkeln. Und so fängt es an: „The town of Wittlich is said to be the last place in Germany where a werewolf has been killed.“
In seiner menschlichen Gestalt hieß das Untier Thomas Johannes Baptist Schwytzer, ein Elsässer, der als Soldat in Napoleons Armee diente. Der Russlandfeldzug von 1812 geriet jedoch zum Desaster für die französischen Truppen. Schwytzer desertierte und versuchte, sich bis in seine Heimat durchzuschlagen. Bei Wittlich überfiel er völlig ausgehungert einen Bauernhof. Er brachte den Gutsbesitzer um, der sich ihm in den Weg stellte, und meuchelte die drei Söhne. Die Bäuerin schrie Schwytzer eine grässliche Verwünschung entgegen, auf dass er sich bei jedem Vollmond in ein Tier verwandeln solle. Dann schlug er auch ihr den Schädel ein.
Aber der Fluch verfehlte seine Wirkung nicht. Mit Thomas Johannes Baptist Schwytzer ging eine unfassbare Veränderung vor sich. Er verlor alle Hemmungen, wurde brutal und unmenschlich. Er raubte, mordete, plünderte, brandschatzte. Selbst das Gesindel, das er um sich geschart hatte, bekam es mit der Angst zu tun und floh vor seiner Bosheit. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte man sich Gerüchte zu, von einem großen Wolf, der wie ein Mensch auf zwei Beinen lief und in hellen Vollmondnächten Mensch und Tier grausam dahinschlachtete.
Eines Tages schändete Schwytzer ein junges Mädchen namens Elisabeth Beierle, die liebreizende Tochter eines ansässigen Bauern. Diese Tat rüttelte endlich die Bevölkerung auf. Der Ex-Soldat und Deserteur wurde gejagt und schließlich gestellt, als er nichtsahnend an seinem Lagerfeuer saß. Ein Fluchtversuch endete in der Nähe von Morbach. Schwytzer wurde getötet und an einer Wegkreuzung begraben. Dort errichteten seine Häscher ein Heiligenhäuschen und entzündeten eine geweihte Kerze, die den Geist des mutmaßlichen Werwolfs für immer bannen sollte.
Elisabeth Beierle brachte neun Monate später ein Kind zur Welt. Der Junge wuchs zu einem respektablen Bürger Morbachs heran und zeigte keinerlei Anzeichen des Werwolffluchs.
So weit die zwei Jahrhunderte alte Vorgeschichte des Morbach-Monsters, das heute in den dunklen Forsten des deutschen Mittelgebirges umgeht. Sogar bis nach Chicago, zur Metal-Band „Usurper“,8 ist das schaurige Geheul der Bestie vorgedrungen. In „Return of the Werewolf“ singen die Schwermetaller:9
„Wittlich Deutschland
The site of the Last werewolf slayed
There is a shrine to the beast Protected by eternal flame
Never to extinguish – The candle must burn
For when the light dies – The creature will return
Winds of chaos summon this lycanthropic spell
Smoke now rises – light soon killed
In the shadow of the full moon – reborn by a dying flame
The candle now extinguished – The curse now spawned
again.“
Lebt der Fluch wieder auf? Oder haben wir es bloß mit Ulk und Mummenschanz zu tun?
Das jedenfalls behauptet ein namenloser Kommentator auf der Webseite ufo-und-alienforum:10 „Als eines Abends im Jahre 1988 wieder mal heftig gefeiert wurde, verkleidete sich ein GI (Größe ca. 210 cm!!) als Werwolf und begab sich zum Depot, um seinen Kameraden auf der Wache mal so richtig einzuheizen. Er rüttelte am Zaun und brach in ein Wolfsheulen aus, dass es seinen Kameraden Angst und Bang wurde. Der Erfolg blieb nicht aus: ein ziemlich heftiger Alarm und tatsächlich eine Suche nach dem vermeintlichen Eindringling (man bedenke, es war Kalter Krieg).“
Ah ja, ein über zwei Meter großer Soldat, der mal eben so ein Werwolf-Kostüm griffbereit hat und eine Lon-Chaney-Gedenkveranstaltung11 aufführt? Da ist man ja eher versucht, an einen echten Werwolf zu glauben, als an diese pseudo-rationale Deutung. Das sieht übrigens auch der Mainzer Volkskundler Matthias Burgard so: „Diese Nachricht ist die übliche Erklärung für ein sagenhaftes Phänomen von jemandem,der nicht an den Wahrheitsgehalt von Sagen glauben mag.“
Und er, der professionelle Sagenforscher? Was hält Burgard vom Morbach-Monster? „Ich bin prinzipiell ein Skeptiker und gehe daher bei den Augenzeugenberichten von Wahrnehmungsirrtümern aus“, erklärt der Kulturwissenschaftler.12 Nichtsdestotrotz stellte Burgard beim Spaziergang im Hunsrücker Wald doch fest, dass sich „mit dem...