6. Freuds autoritäre Einstellung
Über Freuds autoritäre Einstellung hat es schon viele Diskussionen gegeben. Oft wurde geäußert, Freud sei sehr autoritär gewesen, er habe andere Meinungen nicht geduldet und sei gegenüber jedem Versuch der Revision seiner Lehren intolerant gewesen. Das umfangreiche Beweismaterial, auf das sich solche Ansichten stützen, lässt sich schwerlich ignorieren. Dass Freud wesentliche Korrekturen an seinen theoretischen Konzeptionen nie akzeptiert hat, ist unbestreitbar. Entweder war man für seine Theorie – und das bedeutete: für ihn – oder man war gegen ihn. Sogar Hanns Sachs, der Freud in seiner Biographie offen vergöttert, gibt das zu: „Ich weiß“, sagt er, „dass es ihm, nachdem er in einem langen und beschwerlichen Prozess seine eigenen Meinungen herausgearbeitet hatte, immer sehr schwer fiel, die Meinungen anderer zustimmend zu verarbeiten“ (H. Sachs, 1946, S. 14). Gelegentlich hatte auch Sachs Meinungen, die denen des Meisters zuwiderliefen; das nutzte ihm, wie er selbst sagt, wenig:
Wenn meine Meinung der seinigen widersprach, äußerte ich das ganz offen. Er gab mir immer Gelegenheit, meine Ansichten darzustellen, und hörte sich bereitwillig meine Argumente an, ließ sich aber kaum jemals von ihnen beeinflussen. (H. Sachs, 1946, S. 13).
Wohl am unerbittlichsten hat sich Freuds Unduldsamkeit und autoritäre Haltung in seiner Beziehung zu Sándor Ferenczi ausgewirkt. Viele Jahre hatte sich Ferenczi als Freuds loyalster und anspruchslosester Schüler und Freund bewährt. Aber am Ende seines Lebensweges waren ihm Zweifel gekommen: Er fand, dass dem Patienten in der psychoanalytischen Behandlung die Liebe zuteilwerden müsse, die er als Kind entbehrt habe. Daraus ergaben sich bestimmte Abwandlungen in der Technik der psychoanalytischen Therapie. Ferenczi war von der unpersönlichen Haltung des Analytikers, der nach Freuds Vorstellungen wie ein Spiegel zu sein hat, abgekommen und hatte sich für eine menschliche und liebevolle Einstellung zum Patienten entschieden. (Dass Ferenczi dabei mütterliche oder mütterlich-väterliche Wärme, nicht erotische oder sexuelle Liebe meinte, versteht sich von selbst.) Ferenczi berichtet von der Unterredung mit Freud in einem Gespräch mit einem ihm vertrauten Menschen, einer seiner Schülerinnen: [VIII-189]
Als ich den Professor [= Freud] besuchte, erzählte ich ihm von meinen neuesten Ideen zur Technik. Sie stützen sich empirisch auf meine Arbeit mit meinen Patienten. Aus der Geschichte meiner Patienten, wie sie sie darstellen, aus ihren Gedankenassoziationen, aus der Art ihres Verhaltens – sogar in Einzelheiten und vor allem mir gegenüber –, aus den Versagungen, die bei ihnen Zorn oder Depressionen hervorrufen, und insbesondere aus dem sowohl bewussten als auch unbewussten Inhalt ihrer Wünsche und Sehnsüchte versuche ich zu erfahren, auf welche Weise sie die ablehnende Haltung der Mutter, der Eltern oder der entsprechenden Ersatzpersonen zu spüren bekommen hatten. Ebenso bemühe ich mich, mir bis in die konkreten Verhaltungsdetails mitfühlend klarzumachen, welche Art liebevoller Sorge der Patient in jungen Jahren nötig hatte, welches die liebevolle Pflege und Umsorgung hätte sein müssen, die eine gesunde Entwicklung seines Selbstvertrauens und seiner Fähigkeit, mit sich selbst zufrieden zu sein, ermöglicht hätte. Jeder Patient braucht Pflege, Hilfe und Wärme auf seine besondere Art. Auf welche besondere Art er sie erleben muss, ist nicht einfach zu erkennen, denn meistens ist das Besondere, das er braucht, nicht das, was er sich darunter vorstellt, oft etwas ganz anderes. Wann ich auf der richtigen Fährte bin, kann ich erfühlen, denn unbewusst signalisiert das der Patient sofort mit einer Anzahl fast unmerklicher Veränderungen in seinem Verhalten und seiner Stimmung. Der neue Einblick des Analytikers in das, was der Patient braucht, die sich daraus ergebende Veränderung der Beziehung zum Patienten, die Ausdrucksformen dieser veränderten Beziehung und die sichtbare eigene Reaktion des Patienten: das alles sollte dem Patienten klargemacht werden. Hat der Analytiker einen Fehler begangen, so wird ihm auch das signalisiert: Der Patient wird ärgerlich oder lässt erkennen, dass er sich enttäuscht oder verstoßen vorkommt. Und seine Träume zeigen, wo der Fehler des Analytikers steckt. Man kann das vom Patienten erfahren, und man kann es ihm erklären.
Der Analytiker muss dann nach einer anderen Behandlung suchen, die dem Patienten wohltut, denn der Patient bedarf ihrer dringend. Das ist ein Prozess, in dem man etwas versucht, und wenn man fehlgeht, von neuem versucht, bis man Erfolg hat; der Analytiker muss sich mit all seinem Geschick und Takt, mit Liebe und Güte und ohne Furcht darum bemühen. Alles, was er tut, muss er offen und in absoluter Ehrlichkeit tun.
Der Professor hörte sich meine Darstellung mit wachsender Ungeduld an und erklärte mir schließlich warnend, dass ich mich auf eine schiefe Ebene begeben hätte und in entscheidenden Dingen von den herkömmlichen Gebräuchen und Techniken der Psychoanalyse abwiche. Ein solches Nachgeben gegenüber den Sehnsüchten und Wünschen des Patienten, so echt sie sein mögen, müsse den Patienten in viel größere Abhängigkeit vom Analytiker bringen. Der Analytiker könne diese Abhängigkeit nur zunichte machen, wenn er sich gefühlsmäßig völlig abschalte. Von unerfahrenen Analytikern gehandhabt, werde meine Methode, meinte der Professor, nicht der Ausdruck der elterlichen Hingabe sein, sondern leicht zu sexuellen Entgleisungen führen.
Diese Warnung beendete das Gespräch. Ich streckte meine Hand zu einem [VIII-190] herzlichen Abschiedsgruß aus. Der Professor kehrte mir den Rücken und ging aus dem Zimmer.[7]
Auf ähnliche Weise färbte Freuds Unduldsamkeit sein Verhalten gegenüber Mitgliedern der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die sich nicht streng an die offizielle Linie hielten. Kennzeichnend dafür ist eine Bemerkung in einem englisch geschriebenen Brief Freuds an Jones vom 18. Februar 1919. Dort heißt es: „Ihre Absicht, die Londoner Vereinigung von den Jung’schen Mitgliedern zu reinigen, ist ausgezeichnet.“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 303.)
Freuds unversöhnliche Haltung gegenüber widersprechenden Freunden zeigt sich auch in seiner Reaktion auf Alfred Adlers Tod. In einem Antwortbrief an Arnold Zweig, der sich von Adlers Tod im schottischen Exil tief betroffen zeigte, schrieb er am 22. Juni 1937:
Aber Ihr Mitleid für Adler begreife ich nicht! Für einen Juden aus einem Wiener Vorort ist ein Tod in Aberdeen, Schottland, eine unerhörte Karriere und ein Beweis, wie weit er es gebracht hat. Wirklich hat ihn die Mitwelt für das Verdienst, der Analyse widersprochen zu haben, reichlich belohnt. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 3, S. 255.)
Trotz solch eklatanter Beweise vertreten Freuds gläubige Verehrer unbeirrt die Auffassung, dass ihm jede autoritäre Tendenz fremd gewesen sei. Immer wieder besteht z.B. Ernest Jones auf diesem Standpunkt; mit besonderem Nachdruck weist er die Meinung zurück, dass
Freud ein Tyrann gewesen sei und alle Anhänger dogmatisch genau seine eigenen Ansichten hätten annehmen müssen. Dass solche Vorwürfe lächerlich und unbegründet sind, lässt sich aus seinen Briefen, seinen Schriften und vor allem aus den Erinnerungen derer, die mit ihm gearbeitet haben, beweisen. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 157.)
Jones erklärt: „Ich könnte mir schwerlich jemanden vorstellen, der in seiner ganzen Art dem Bild des Diktators, das man manchmal von ihm gegeben hat, weniger gliche als er“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 159).
Jones ist von einer psychologischen Naivität, die einem Psychoanalytiker übel ansteht. Er übersieht, dass Freud denen gegenüber unduldsam war, die seine Meinungen auch nur im geringsten anzweifelten oder kritisierten. Damit soll in keiner Weise bestritten werden, dass er Menschen, die ihn über alles verehrten und nie gegenteilige Meinungen äußerten, gütig und tolerant behandelte. Gerade weil er, wie ich oben hervorgehoben habe, auf bedingungslose Zustimmung und Übereinstimmung so sehr angewiesen war, war er den gefügigen Söhnen ein liebender Vater, der sich jedoch in einen strengen, autoritären Vater verwandelte, wenn jemand zu widersprechen wagte. [VIII-191]
Sachs ist da freimütiger als Jones. Wo Jones der Objektivitätspflicht des Biographen zu genügen glaubt, bekundet Sachs einen „radikalen Mangel an Objektivität, zu dem ich mich frei und freudig bekenne“; ja, er meint sogar: „Im ganzen dürfte Vergottung, wenn sie echt ist, der Wahrheitsliebe nicht im Wege stehen, sondern sie fördern.“ (H. Sachs, 1946, S. 8°f.) Er unterstreicht geradezu seine symbiotische, fast religiöse Bindung an Freud: Mit der Lektüre der Freudschen Traumdeutung, sagt er, „hatte ich die eine Sache gefunden, mit der das Leben lebenswert wurde; viele Jahre später ging mir auf, dass es auch die einzige Sache war, nach deren Grundsätzen sich leben ließ“ (H. Sachs, 1946, S. 3°f.). Nun ist es nicht schwer, sich Menschen vorzustellen, die das Leben nur nach den Lehren der Bibel, der Bhagavad-Gita, ja auch noch nach denen der Philosophie Spinozas oder Kants glauben bewältigen zu können; aber wer ein Buch über die Deutung von Träumen zum Leitstern seines Lebens erklärt, muss den Verfasser des Buches mindestens zum Moses und seine Wissenschaft zu einer neuen Religion gemacht haben. Unter diesem Aspekt lässt sich sehr gut verstehen, warum Sachs nie ernsthaft gegen Freud rebellierte und noch nicht einmal Kritik an ihm übte. Einmal allerdings hatte Sachs „willentlich und...