2. Größe und Grenzen der Entdeckungen Freuds
Die folgende Erörterung soll zeigen
- welches die wichtigsten Entdeckungen Freuds waren;
- wie seine philosophischen und persönlichen Voraussetzungen ihn zwangen, seine Entdeckungen einzuengen und zu entstellen;
- wie die Bedeutung der Entdeckungen wächst, wenn wir sie von diesen Entstellungen befreien, und
- dass man durch eine andere Formulierung das Wesentliche und Dauernde in Freuds Theorie von dem Zeit- und Gesellschaftsbedingten trennen kann.
Dieses Ziel bedeutet keine „Revision“ Freuds und keinen „Neo-Freudianismus“.[6] Es handelt sich vielmehr um eine Weiterentwicklung des Wesentlichen im Freudschen Denken durch eine kritische Interpretation auf der philosophischen Grundlage des historischen (im Gegensatz zum bürgerlichen) Materialismus sowie auf Grund neuer klinischer Erkenntnisse.
a) Das Unbewusste
Natürlich war Freud nicht der erste, der entdeckte, dass wir in uns Gedanken und Strebungen haben, die uns nicht bewusst sind. Aber Freud war der erste, der diese Entdeckung zum Mittelpunkt seines psychologischen Systems machte und der die unbewussten Phänomene auf höchst detaillierte Weise und mit erstaunlichen Resultaten erforscht hat. Freud ging von einer grundsätzlichen Diskrepanz zwischen Denken und Sein aus. Wir denken zum Beispiel, dass unser Verhalten von Liebe, Hingabe, Pflichtgefühl usw. motiviert ist, und wir sind uns der Tatsache nicht bewusst, dass wir in Wirklichkeit vom Wunsch nach Macht, von Masochismus und von einem Abhängigkeitsbedürfnis motiviert sind. Freuds Entdeckung bestand darin, dass das, was wir denken, mit dem, was wir sind, nicht unbedingt identisch ist. Was jemand von sich selber denkt, ist oft etwas ganz anderes als das, was er wirklich ist und die meisten von uns leben eigentlich in einer Welt der Selbsttäuschung, in der sie annehmen, dass ihre Gedanken die Wirklichkeit repräsentieren. Die historische Bedeutung von Freuds [VIII-279] Begriff des Unbewussten liegt darin, dass in einer langen Tradition schon immer angenommen wurde, Denken und Sein seien miteinander identisch und dass der Idealismus in seinen strengeren Formen postulierte, dass nur das Denken (die Idee, das Wort) real sei, während die Welt der Erscheinung keine eigene Realität besitze.[7] Indem Freud dem bewussten Denken vor allem die Rolle zuwies, Triebe zu rationalisieren, war er auf dem Weg, das Fundament des Rationalismus zu zerstören, zu dessen hervorragenden Vertretern er selbst gehörte. Mit seiner Entdeckung der Diskrepanz zwischen Denken und Sein hat Freud nicht nur die Tradition des westlichen Idealismus in seinen philosophischen und seinen populären Formen unterlaufen, er hat damit auch auf dem Gebiet der Moral eine weitreichende Entdeckung gemacht. Bis zu Freud konnte man Aufrichtigkeit dadurch definieren, dass einer sagt, was er glaubt. Seit Freud ist diese Definition der Aufrichtigkeit unzureichend. Der Unterschied zwischen dem, was ich sage, und dem, was ich glaube, greift in eine neue Dimension über, nämlich die meiner unbewussten Überzeugungen oder meines unbewussten Strebens. Wer überzeugt ist, die Entwicklung seines Kindes durch Strafe zu fördern, hätte in der Zeit vor Freud als ganz ehrlich gegolten, vorausgesetzt, dass er es wirklich geglaubt hätte. Nach Freud aber erhebt sich die kritische Frage, ob er mit dieser Überzeugung nicht einfach sadistische Wünsche rationalisiert, das heißt, ob es ihm nicht Vergnügen macht, das Kind zu schlagen und ob er die Idee, es sei zu dessen Bestem, nicht nur als Vorwand benutzt. Vor Freud wäre er ein ehrlicher Mensch gewesen, seit Freud wäre er in diesem speziellen Fall ein unehrlicher Mensch, und in ethischer Hinsicht könnte man ihm tatsächlich denjenigen vorziehen, der wenigstens ehrlich genug ist, sein wahres Motiv zuzugeben. Dieser wäre nicht nur ehrlicher, er wäre auch weniger gefährlich. Es gibt unzählige Grausamkeiten und Bösartigkeiten aller Art, die von Einzelnen oder im Laufe der Geschichte als gute Absichten rationalisiert worden sind. Seit Freud kann der Satz „Ich habe es doch gut gemeint“ nicht mehr als Entschuldigung dienen. Es gut zu meinen, ist eine der wirksamsten Rationalisierungen bösen Handelns, und nichts ist leichter, als sich selbst von der Gültigkeit dieser Rationalisierung zu überzeugen.
Freuds Entdeckung brachte noch ein drittes Resultat. In einer Kultur wie der unseren, in der Worte eine so ungeheure Rolle spielen, dient das Gewicht der Worte oft dazu, die Erfahrung zu vernachlässigen, ja sie zu entstellen. Wenn jemand sagt „Ich liebe dich“ oder „Ich liebe Gott“ oder „Ich liebe mein Vaterland“, dann äußert er Worte, die auch dann, wenn er von ihrer Wahrheit völlig überzeugt ist, unwahr und nichts weiter als eine Rationalisierung seines Wunsches nach Macht, Erfolg, Ruhm und Geld sein können, oder in denen lediglich die Abhängigkeit von seiner Gruppe zum Ausdruck kommt. Liebe muss in dem, was tatsächlich vor sich geht, nicht einmal andeutungsweise enthalten sein, und meist ist es auch so. Bisher ist Freuds Entdeckung [VIII-280] noch nicht so allgemein anerkannt, dass man auf Erklärungen guter Absichten oder auf Geschichten von vorbildlichem Verhalten instinktiv mit Vorbehalt reagiert. Dennoch ist Freuds Theorie genau wie die Theorie von Marx eine kritische Theorie. Freud nahm Behauptungen nicht unbesehen hin, er betrachtete sie skeptisch, selbst wenn er nicht daran zweifelte, dass der Betreffende bewusst aufrichtig war. Aber die bewusste Aufrichtigkeit bedeutet relativ wenig in Bezug auf die gesamte Persönlichkeit eines Menschen.
Freuds große Entdeckung mit ihren weitreichenden philosophischen und kulturellen Konsequenzen war die Entdeckung des Konflikts zwischen Denken und Sein. Aber er hat die Bedeutung dieser Entdeckung durch die Annahme eingeschränkt, dass im wesentlichen die bewusste Erinnerung an infantile sexuelle Strebungen verdrängt wird und dass der Konflikt zwischen Denken und Sein im wesentlichen ein Konflikt zwischen dem Denken und der infantilen Sexualität sei. Diese Einschränkung überrascht nicht. Wie bereits gesagt, stand Freud unter dem Einfluss des Materialismus seiner Zeit. Er glaubte die Inhalte der Verdrängung in jenen Strebungen zu finden, die nicht nur gleichzeitig psychischer und physiologischer Natur sind, sondern die auch ganz offensichtlich in der Gesellschaft, in der er lebte, verdrängt wurden. Genauer gesagt, handelte es sich um die Mittelklasse mit ihrer viktorianischen Moral, aus der Freud und die meisten seiner Patienten kamen. Er fand Beweise dafür, dass pathologische Erscheinungen, wie zum Beispiel die Hysterie, manchmal Ausdruck verdrängter sexueller Wünsche waren. Er identifizierte jedoch die Gesellschaftsstruktur seiner Klasse und ihre Probleme mit dem Menschen als solchem und mit den Problemen, die in der menschlichen Existenz selbst wurzeln. Hier hatte Freud zweifellos seinen blinden Fleck. Für ihn war die bürgerliche Gesellschaft identisch mit der zivilisierten Gesellschaft schlechthin. Er gab zwar zu, dass es besondere Kulturen gäbe, die sich von der bürgerlichen Gesellschaft unterschieden, aber er betrachtete diese stets als primitiv und unterentwickelt.
Die materialistische Philosophie und die weitverbreitete Verdrängung sexueller Wünsche aus dem Bewusstsein waren die Ausgangspunkte, von denen Freud die Inhalte des Unbewussten herleitete. Außerdem übersah er die Tatsache, dass sehr häufig sexuelle Impulse ihr Vorhandensein oder ihre Intensität nicht dem physiologischen Substrat der Sexualität verdanken, sondern ganz im Gegenteil oft das Ergebnis völlig andersartiger, selbst nicht sexueller Impulse sind. Es besteht kein Zweifel, dass auch der Narzissmus, der Sadismus, die Neigung sich zu unterwerfen und pure Langeweile eine Quelle sexueller Wünsche sein können. Und bekanntlich sind auch Macht und Reichtum wichtige Elemente, die sexuelle Wünsche hervorrufen.
Heute, nur zwei oder drei Generationen nach Freud, ist deutlich zu erkennen, dass die Sexualität in der städtischen Zivilisation nicht mehr Hauptgegenstand der Verdrängung ist. Ganz im Gegenteil ist die Sexualität, seit der Massenmensch sich voller Hingabe damit beschäftigt, ein homo consumens zu werden, zu einem der Hauptkonsumartikel (und zwar zu einem der billigsten) geworden, welche die Illusion von Glück und Zufriedenheit erzeugen.
Es lassen sich ganz andere Konflikte zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten beobachten. Hier nun einige der häufigsten dieser Konflikte: [VIII-281]
- Freiheitsbewusstsein – unbewusste Unfreiheit
- bewusstes gutes Gewissen – unbewusste Schuldgefühle
- bewusstes Glücksgefühl – unbewusste Depressionen
- bewusste Aufrichtigkeit – unbewusster Betrug
- bewusster Individualismus – unbewusste Beeinflussbarkeit
- Machtbewusstsein – unbewusstes Gefühl der Hilflosigkeit
- bewusster Glaube – unbewusster Zynismus und völlige Glaubenslosigkeit
- Bewusstsein zu lieben – unbewusste Gleichgültigkeit oder unbewusster Hass
- bewusste Aktivität – unbewusste psychische Passivität und Trägheit
- bewusst realistische Einstellung – unbewusster Mangel an Realismus.
Dies sind die wirklichen Widersprüche unserer Zeit, die verdrängt und rationalisiert werden. Sie existierten bereits zu Freuds Zeit, doch waren manche von ihnen damals noch nicht so drastisch ausgeprägt wie heute. Noch wesentlicher aber ist, dass Freud ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte, weil er von...