Vorwort
Am 22. Juli 2016 verließ einer der letzten ICEs an diesem Tag mit Verspätung den Münchner Hauptbahnhof. ICE 782, planmäßig 18.20 Uhr, fuhr wie gewohnt von Gleis 19 ab und brachte Pendler nach Ingolstadt und Nürnberg sowie Geschäftsleute, Studenten und viele andere Menschen in Richtung Norden. Kurz nach der Abfahrt des Zuges räumte die Polizei den Hauptbahnhof und sperrte ihn ab – doch davon bekamen die Menschen im Zug nichts mit. Es schien eine normale Fahrt zu sein.
Thilo Baum, einer der Autoren dieses Buches, saß in diesem Zug. Die Netzverbindung war mau, und in winzigen Bruchstücken krümelte die Nachrichtenlage in den ICE. Zuerst hieß es, am Stachus gebe es eine Schießerei – es klang nach einem Überfall oder einer Auseinandersetzung zwischen Banden. Dann erfuhr man, dass der Hauptbahnhof evakuiert sei. Es war also offenbar etwas Größeres. Langsam erkannten die Menschen, dass sie im vermutlich letzten ICE des Tages saßen, der München noch verlassen hatte.
Dann meldete ein Fahrgast, er habe über Twitter erfahren, dass es auch am Marienplatz eine Schießerei gebe. Bewaffnete Terroristen hätten das Feuer auf alle Menschen in der Nähe eröffnet, und in Scharen retteten sich Menschen in Kaufhäuser. Das Bewusstsein setzte sich durch: Wir haben es mit einem Terroranschlag zu tun. Die Stadt und auch die Menschen im Zug hatten Angst vor einem Szenario wie am 13. November 2015 in Paris. Soweit es die Mobilfunknetze ermöglichten, telefonierten die Menschen mit ihren Bekannten und Verwandten in München, um sich zu versichern, dass alles gut sei. Viele sprachen ins Handy, sie selbst seien wohlauf und mit Glück noch unverletzt aus München rausgekommen. Die Menschen im Zug betrachteten sich als Überlebende.
Es war der Abend des Amoklaufs im Münchner Olympia-Einkaufszentrum, aber das wussten die Menschen im Zug noch nicht. Was tatsächlich geschehen war, war relativ übersichtlich: Am Olympiapark, also nicht in der Innenstadt, hatte ein 18-jähriger Schüler ein Blutbad angerichtet mit neun Toten und vier Verletzten. Das ist schlimm genug – aber mehr war, nüchtern gesagt, nicht passiert.
Was die Menschen dagegen glaubten, was geschehen sei, war allerhand, und es erwies sich später als haltlos: Am Stachus und am Marienplatz gab es keine Schießerei, ebenso nicht im Hofbräuhaus, und es waren keine Horden von bewaffneten Terroristen unterwegs. Verletzte gab es in der Innenstadt dennoch zahlreiche – infolge der Paniken, die die Falschmeldungen ausgelöst hatten. Informationen bewirkten also Verletzte: Die Nachricht über eine Schießerei auf dem Marienplatz trifft dort auf Handys ein; es ist laut und unübersichtlich; die Nachricht bewirkt, dass sich die Menschen in der Einkaufsmeile in Sicherheit bringen wollen; und so entsteht tatsächlich eine gefährliche Panik mit Verletzten.
Bei der Polizei gingen an dem Abend 4.310 Notrufe ein, unter anderem zu Schießereien und Geiselnahmen, die es nicht gab.1 Infolge der Informationslage stellte die Polizei den Nahverkehr ein und evakuierte wie erwähnt den Hauptbahnhof. Die Thüringer Polizei sicherte die Grenze zu Bayern, ein Spezialeinsatzkommando (SEK) sicherte Nordbayern, das österreichische SEK »Cobra« unterstützte die Münchner Polizei, die Bundeswehr versetzte Feldjäger in Alarmbereitschaft, und die tschechische Regierung sicherte die Grenze zu Deutschland. Münchner Bürger nahmen Passanten in ihren Wohnungen auf, damit sie dort vor den umherfliegenden Geschossen aus den scharfen Waffen der marodierenden Terroristen sicher seien.
Was war los? Niemand wusste es genau. Die Menschen – ob im ICE oder in der Stadt – wollten an dem Abend Orientierung, aber die Gerüchteküche sorgte für Verwirrung und Unklarheit. Die Nachrichtenlage, wenn man sie denn so nennen will, war an diesem Abend voller Halbwahrheiten, Vermutungen, Befürchtungen und Gerüchte – teilweise offenbar mit Absicht in die Welt gesetzt. Die Nachrichtenlage verdiente im Grunde den Namen »Nachrichtenlage« nicht. Die Informationsqualität im ICE 782 an diesem Abend war wie bei dem Kinderspiel »Stille Post«: Nichts war verlässlich. Und das, obwohl bestimmt auch jede Menge erwachsener Leute mit Bildung und Intelligenz am Informationsaustausch beteiligt waren, die sonst auch nicht ungeprüft jede Nachricht glauben und weitererzählen.
Sollte man nicht denken, es gebe nichts Einfacheres, als Informationen aufzunehmen und weiterzugeben? Etwas geschieht, jemand erlebt es, gibt es weiter, ein anderer hört es und gibt es ebenfalls weiter. Doch das funktioniert offenbar nicht so einfach.
Informationen weiterzugeben, ist ein Handwerk – und das ist uns oftmals nicht bewusst in Zeiten, in denen wir alle immer mehr kommunizieren. Es geht bei diesem Handwerk um mehrere Dinge. Einmal um die Auswahl: Welche Information geben wir überhaupt weiter, welche nicht? Was ist relevant? Dann geht es um die Frage, ob eine Information überhaupt stimmt: Haben wir belastbare Fakten oder vertrauen wir aufs Hörensagen? Haben wir tatsächlich zwei unabhängige Quellen, oder erzählt uns jemand irgendetwas, was er irgendwo gehört haben will? Dann stellt sich die Frage, ob wir eine Tatsache verbreiten oder eine Meinung: Ist etwas Fakt oder meinen wir etwas? Schließlich stellt sich die Frage, wie wir formulieren, was wir weitergeben wollen: Drücken wir uns klar aus?
Dieses Buch widmet sich diesem Handwerk – dem Handwerk der öffentlichen Kommunikation. Es ist in Vergessenheit geraten bei vielen professionellen Kommunikatoren, auch bei Journalisten. Und zahlreiche Menschen, die ohne Anbindung an ein Medium kommunizieren, haben von diesem Handwerk noch nie etwas gehört.
Zugleich leben wir in Zeiten von »Fake-News« und »Hate-Speech« – modische Bezeichnungen für die seit Jahrzehnten gängigen Begriffe »Lüge« und »Schmähung«. Es ist nichts Neues, dass Lügen und Schmähungen unter bestimmten Voraussetzungen strafbar sind, aber erst jetzt, wo jeder ein Sender sein kann, der öffentlich kommuniziert, erfährt das Thema breite Beachtung.
Journalistisches Know-how für alle
Wir, Thilo Baum und Frank Eckert, sind Journalisten. Wir haben das Handwerk professionell in Journalistenausbildungen gelernt. Wir wundern uns ein wenig über diesen alten Hut mit den »Fake-News«. Zugleich scheinen die Menschen relativ wenig über die Regeln des öffentlichen Kommunizierens zu wissen. Die Medien befinden sich in einer Krise – man glaubt den Journalisten nicht mehr so sehr. Und wir denken, dass es da einen Zusammenhang gibt.
Wir glauben, journalistisches Handwerk brauchen heute alle. Wer bei Twitter schreibt, braucht es ebenso wie jeder Blogger und Facebook-Nutzer. Dabei betrachten wir die Blogosphäre oder Amateurpublizistik insgesamt nicht als die »Klowände des Internets« wie seinerzeit der Werber Jean-Remy von Matt (* 1952).2 Wir finden es gut, dass heute jeder publizieren kann. Es ist auch wichtig: Die klassischen Medien brauchen unbedingt neue Konkurrenz – aus Gründen, um die es in diesem Buch noch ausführlich gehen wird. Und damit sind wir wieder beim Thema Medienkrise und der Frage nach der Zukunft der Medien: Das Handwerk kann allen helfen.
Als Medienkonsumenten würden wir sehr gerne sehr viel lesen, hören und sehen – neue Perspektiven, Meinungen, Erlebnisse. Aber wir klicken einen Text weg, wenn wir auf Voreingenommenheit oder Polemik stoßen oder merken, dass Informationen fehlen. Dabei ist es egal, ob wir uns gerade einem klassischen Medium widmen oder ein semiprofessionelles Blog lesen. Und damit sind wir nicht allein.
Auch professionelle Journalisten brauchen dieses Handwerk. Viele behaupten zwar, sie würden es beherrschen, aber leider sehen wir nahezu jeden Tag, dass das nicht stimmt. Und damit meinen wir keine Tippfehler. Zugleich sprechen wir auch nicht von »Lügenpresse«. Aber weil das Wort im Raum schwebt, gehen wir natürlich darauf ein und suchen nach Gründen dafür, dass immer mehr Menschen sich von den Medien abwenden. Tatsächlich finden wir auch Beispiele dafür, dass Medien mitunter nicht die Wahrheit schreiben oder Fakten verzerren und Zusammenhänge verschweigen.
Bei all diesen Dingen geht es um Handwerk, das wir vermissen. Vor allem in der Politikberichterstattung fehlt uns zunehmend eine journalistische Kompetenz: die Ausgewogenheit. Jede Menge Journalisten verschweigen unter Berufung auf die Pressefreiheit andere Sichtweisen – was handwerklich schlecht und zudem falsch begründet ist. Die Pressefreiheit dient nicht dem Journalisten als Persilschein für alles, sondern die Pressefreiheit dient verfassungsrechtlich am Ende dem Medienkonsumenten. Die Pressefreiheit ist niemals eine Ausrede für Pfusch oder Propaganda.
Unter Journalisten gibt es noch einige alte Hasen, die das Handwerk von der Pike auf gelernt haben, sicher. Aber insgesamt lässt das Niveau massiv nach. Wir haben den Eindruck, dass...