Anatomie: Bauplan für ein aufrechtes Leben
Der deutsche Begriff „Wirbelsäule“ bringt die Anatomie des Rückens auf den Punkt: Es geht um eine Säule, die stabil sein und gleichzeitig auch „wirbeln“ kann. Das raffinierte Zusammenspiel von Knochen, Bändern und Muskeln garantiert den perfekten Mix von Mobilität und Stabilität für die einzelnen Abschnitte der Wirbelsäule.
Sorgt für Stabilität: das Becken
Hier unten im Becken-Bauch-Bereich ist das Bauchgefühl zu Hause, hier spüren wir Emotionen wie Wut oder Verliebtsein. In diesem Raum entsteht Leben, wenn eine Frau schwanger wird und ein Kind in sich trägt. Und in diesem Raum steckt auch viel evolutionäres Bewegungswissen. Das wollen wir uns genauer ansehen. Das Kreuzbein ist Teil des Beckens und zugleich der unterste Abschnitt der Wirbelsäule. Es bestand ursprünglich aus fünf Wirbeln, die im Laufe der Evolution zusammengewachsen sind. An das Kreuzbein schließt nach unten das Steißbein an. Das Kreuzbein ist keilförmig gebaut. Beim Gehen verkeilt es sich auf der Standbeinseite zwischen den Hüftbeinen und wird dadurch stabilisiert. Die Hüftbeine sind mit dem Kreuzbein durch die beiden Kreuzbein-Darmbein-Gelenke verbunden, die auch Iliosakralgelenke genannt werden. Hier sind nur minimale Verschiebebewegungen möglich. Für einen reibungslosen Ablauf des Gehens und die Elastizität des Beckens sind die Gelenke von größter Bedeutung.
Die Abstoßimpulse der Füße beim Gehen werden vom Bein über das Becken nach oben zur Wirbelsäule weitergeleitet. Das heißt, wenn sich bei jedem Schritt das Becken auf der einen Seite hebt und auf der anderen senkt und dabei mal nach links und mal nachrechts dreht, so setzt sich diese Bewegung nach oben fort und leitet die abwechselnde Rechts-links-Drehung der Wirbelsäule ein. Die Position des Beckens entscheidet darüber, wie die Abstoßkraft von Fuß und Bein via Becken und Wirbelsäule in den Brustkorb bis hoch zum Kopf übertragen wird.
Ein aufgerichtetes Becken ermöglicht erstens eine kraftvolle Bewegungsübertragung vom Becken über den Rumpf bis hoch zum Kopf. Fast wie von alleine entsteht so ein perfekter abwechselnder Linksrechts-Drehimpuls im Brustkorb. Und der zweite Geniestreich der Natur: Das Becken wird bei optimaler Zentrierung unter Belastung in sich stabil. Rhythmisch wandeln sich die kraftvollen Vorwärtsbewegungen der Beine in eine Dreh- und Schaukelbewegung des Beckens um und lassen so während der Fortbewegung ein funktionelles Gleichgewicht entstehen. Diese dynamische Stabilität vermittelt Erdverbundenheit und Urvertrauen.
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Kraftkiller Hohlkreuz
Steht das Becken, wie bei vielen Menschen, in einer starken Hohlkreuzstellung, so kann das Kreuzbein zwischen den beiden Beckenschaufeln nicht richtig verkeilt werden. Die Abstoßkraft der Füße staucht stattdessen die kleinen Gelenke der Lendenwirbelsäule, die Kraft versiegt, statt als Antrieb nach vorne oben weitergeleitet zu werden. Die natürliche Rechtslinks-Drehung der Wirbelsäule in der Fortbewegung wird so empfindlich gestört.
Die zwei Hüftbeine bilden zusammen mit dem Kreuzbein das Kreuzbein-Darmbein-Gelenk (Iliosakralgelenk).
Bewegungswunder: die Wirbelsäule
Jetzt wird es richtig spannend. Die Wirbelsäule ist eines der interessantesten Anatomiethemen überhaupt. Es war für mich ein regelrechter Augenöffner, als ich begriff, wie und warum die Wirbelsäule sich bewegt. Die Wirbelsäule wird in die drei Abschnitte Lendenwirbelsäule, Brustwirbelsäule und Halswirbelsäule unterteilt. In jedem Abschnitt besitzen die Wirbelkörper eine andere Form, und die Form bestimmt die Funktion. Wenn Sie genau hinschauen, können Sie selber herausfinden, welche Bewegungsrichtungen sich in den einzelnen Wirbelsäulenabschnitten verstecken!
Die Lendenwirbelsäule setzt sich aus fünf massiven Lendenwirbeln zusammen und ist sehr stabil gebaut. Sie ist die Basis, die das gesamte Gewicht trägt. Die Gelenkflächen der Lendenwirbelsäule stehen senkrecht von vorne nach hinten. Dadurch können Sie sich in der Lendenwirbelsäule bestens nach vorne und hinten beugen und strecken sowie zur Seite neigen. Die Seitneigung brauchen wir für das Gehen, denn auf der Standbeinseite geht das Becken leicht nach unten. Wir werden dies später bei den Übungen aufgreifen.
Die Brustwirbelsäule besteht aus zwölf Brustwirbeln. Die Wirbelkörper sind kleiner gebaut als die der Lendenwirbelsäule. Sie bilden zusammen mit den Rippen den Brustkorb. Auch hier stehen die Gelenkflächen fast senkrecht – diesmal von links nach rechts. Dadurch können Brustwirbel und Rippen perfekt nach rechts und links drehen. Wie bitte? Bewegung im Brustkorb? Ja, sie können sich im Bereich der Brustwirbelsäule rhythmisch, dynamisch, lebendig und freudig in fast alle Richtungen drehen. Diese Tatsache und ihre praktische Umsetzung machen den Unterschied, ob Sie Freiheit im Brustkorb finden oder einen unbeweglichen Brustkasten durch die Gegend tragen.
Die drei Hauptabschnitte der Wirbelsäule: Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule ermöglichen Bewegungen in verschiedenen Ebenen.
Die Halswirbelsäule wird aus sieben Halswirbeln gebildet. Die Wirbelkörper sind grazil gebaut. Zusätzlich hat sich die Natur am Übergang zum Kopf einen speziellen Baumechanismus einfallen lassen: Auf dem Atlas, dem ersten Halswirbel, wird unser schwerer Schädel balanciert; auf der Axis, dem zweiten Halswirbel, kann der Kopf sich neugierig nach rechts und links drehen. Zusammen ermöglichen der erste und der zweite Halswirbel Kopfbewegungen in fast alle Richtungen. Das Anatomiewissen der Wirbelsäule auf den Punkt gebracht: Die Lendenwirbelsäule trägt als stabiles Fundament die darüber liegenden Wirbelsäulenabschnitte. Sie kann hervorragend beugen, strecken und sich zur Seite neigen. Die Brustwirbelsäule dreht freudig nach rechts und links, und die Halswirbelsäule beschert dem Kopf durch Atlas und Axis einen erweiterten dreidimensionalen Bewegungsspielraum.
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Körpereigene Stoßdämpfer: Bandscheiben
Zwischen den Wirbelkörpern – mit Ausnahme von Atlas und Axis – liegen die Bandscheiben. Sie bestehen aus einem knorpelfaserigen Ring mit einem weichen Kern in der Mitte. Ihre Aufgabe ist es, die Belastungen zwischen den einzelnen Wirbeln abzupuffern. Sie funktionieren wie Stoßdämpfer.
Wer das Becken gut aufrichtet, ermöglicht eine optimale Belastung der Bandscheiben. Außerdem tut ihnen Bewegung gut: Beim Gehen erleben die Bandscheiben eine dreidimensionale Bewegungsmassage auf Schritt und Tritt, anatomisch koordinierte Bewegung vorausgesetzt.
Die Formveränderung der Lendenwirbelsäule bei Skoliose lässt viele Menschen befürchten, später könnten Bandscheibenprobleme vermehrt auftauchen. Dies hat sich in der Praxis nicht bewahrheitet: Bandscheibenvorfälle treten bei Skoliosepatienten nicht häufiger auf als bei anderen Menschen.
Handlungsspielraum: die Schultern
Handeln und Spielen, genau dazu brauchen wir unsere Arme, die im Schultergürtel wurzeln. Der Begriff „Handlungsspielraum“ bringt es auf den Punkt. Ein Blick auf die Anatomie verrät, wie es im Detail funktioniert. Das Dreierteam Schulterblatt, Schlüsselbein und Oberarm bilden den Schultergürtel und das Schultergelenk. Das Schultergelenk ist das beweglichste Gelenk im menschlichen Körper. Es wird vorwiegend von Muskeln in seiner Position gehalten. Es gibt nur eine gelenkige Verbindung zwischen Schultergürtel und Brustkorb – das Gelenk zwischen Brustbein und Schlüsselbein. Ansonsten liegt der Schultergürtel dem Brustkorb auf. Das verschafft den Armen und Händen enorme Bewegungsmöglichkeiten. Das Schulterblatt kann nach oben und nach unten, vor und zurück sowie zur Körpermitte hin und von ihr weg gleiten. Zusätzlich kann es in alle Richtungen kippen und drehen. Da steckt ganz schön viel Beweglichkeit drin! Aus dieser Bewegungsvielfalt gilt es, die korrdinierenden Bewegungsrichtungen zu entdecken. Nur ein zentriertes Schultergelenk ist ein belastungsstabiles Schultergelenk.
Der Schultergürtel besteht aus linkem und rechtem Schlüsselbein, Schulterblatt samt Schultergelenkpfanne und dem Kugelgelenkkopf des Oberarmknochens.
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Bewegungsvielfalt im Schultergelenk
Das Zusammenspiel von Brustkorb und Schulterblatt ist bei Skoliose besonders wichtig. Ein ausgerichteter Schultergürtel und ein zentriertes Schultergelenk sind Voraussetzungen, um auf alle Bewegungsimpulse des Brustkorbes und der Arme koordiniert reagieren zu können. Dank des dreidimensionalen Aktionsradius der Arme und Hände kann der Mensch frei im Raum handeln.
Versteckt: der Beckenboden
Gelenke gewähren uns eine Vielzahl an Bewegungsmöglichkeiten. Damit das gelenkige Bewegungspotenzial auch tatsächlich umgesetzt wird, braucht es Muskeln. Bewegung und Muskeln gehören zusammen wie siamesische Zwillinge. Gleiches gilt für Stabilität und Muskulatur: Jede Bewegung erfordert eine aktive Stabilisierung. Meist sind es kleine und in der Tiefe gelegene Muskeln, die die Knochen, Wirbel und inneren Organe während komplexer Bewegungsabläufe in ihrer angestammten Position halten. Der Beckenboden ist ein Paradebeispiel: Er liegt versteckt in der Tiefe des Beckens und gerät oft in Vergessenheit. Seine stabilisierende Funktion ist gerade bei Skoliose besonders wichtig, es gilt ihn aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Aus den verschiedenen Schichten des Beckenbodens und seiner Anordnung lässt sich seine Funktionen ableiten. Die quer verlaufende Beckenbodenmuskulatur...