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Literaturwissenschaft. Eine Einführung

Reclams Studienbuch Germanistik

AutorChristine Hummel, Gabriele Sander, Sabina Becker
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2018
ReiheReclams Studienbuch Germanistik 
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783159614175
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Reclams Studienbuch Germanistik bietet Fachwissen für das germanistische Grundstudium und darüber hinaus: - Klar strukturiert - Verständlich formuliert - Praxisnah auf den Punkt gebracht Alles, was man für den wissenschaftlichen Umgang mit der deutschen Literatur wissen muss, wird hier konzentriert und einprägsam erklärt: die Gestaltung literarischer Texte durch Poetik, Rhetorik und Stilistik, das System der Gattungen, Methoden und Theorien der Literaturwissenschaft sowie Grundbegriffe der Editionswissenschaft. Von drei Expertinnen der universitären Lehre verfasst und in der Praxis erprobt, ist dieses Grundlagenbuch genau auf die aktuellen Studienrealitäten abgestimmt. Der bewährte grüne Band in der Universal-Bibliothek erscheint hier als erweiterte und aktualisierte Auflage im großen Studienbuchformat mit Tabellen, Merkboxen und wertvollen Literaturempfehlungen.

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Leseprobe

2 Aufbau und Funktionsweise historisch-kritischer Ausgaben


2.1 Überlieferung und Entstehung von Texten


Der Herausgeber eines Textes muss zu Beginn seiner Arbeit klären, wo die nachgelassenen Schriften des Autors archiviert und welche Textträger bzw. Textzeugen überliefert sind. Dazu zählen nicht nur die Autographen, also die vom Autor angefertigten hand- oder maschinenschriftlichen Fassungen (Manuskripte, Typoskripte), sondern auch Abschriften von fremder Hand, Korrekturfahnen, Erst- und Nachdrucke, Drucke in Zeitschriften oder Sammelbänden, unter Umständen sogar Tonaufzeichnungen des Textes (z. B. Diktate oder [22]Radiosendungen), Drehbücher oder digitale Speichermedien. Zu sichten und auszuwerten sind ferner sämtliche Vorstudien, Entwürfe, Exzerpte sowie Zeugnisse, die über die Textgenese (den Prozess der Werkentstehung) Aufschluss geben, etwa Briefe und Tagebuchnotizen, und andere zugehörige Materialien.

Der nächste Arbeitsschritt besteht darin, die vorhandenen Textträger einer kritischen recensio Prüfung (recensio) zu unterziehen und sie chronologisch zu ordnen. Dies geschieht durch den Vergleich der Fassungen, sowohl der vollständigen wie der fragmentarischen. Bei Letzteren ist zu unterscheiden zwischen Entstehungsfragmenten (während der Niederschrift abgebrochenen Texten) und Überlieferungsfragmenten (unvollständig überlieferten Texten). Dem als KollationKollation bezeichneten Vorgang des Vergleichs geht bei handschriftlichen Texten die Transkription voraus. Bei der Kollationierung werden die Unterschiede der Fassungen festgehalten, d. h. sämtliche Abweichungen bzw. VariantenVarianten notiert; diese erscheinen im Variantenapparat (s. u.).

Aus der chronologischen Sortierung der Textträger, deren Datierung nicht selten allein aufgrund von Indizien erfolgen muss, ergibt sich Stemma ein Stemma. Damit ist die schematische Darstellung der textgenetischen Abhängigkeiten in Form eines Stammbaums gemeint, in dem sich das ›Wachstum‹ eines Werkes von der frühesten Niederschrift bis zum Druck widerspiegelt. Bei Texten der Antike oder des Mittelalters, die größtenteils nur in Abschriften bzw. Abschriften von Abschriften vorliegen (wie z. B. das Nibelungenlied), kann das Original, wenn überhaupt, nur erschlossen werden. Dieses bildet dann die Spitze des Stemmas. An zweiter Stelle folgt der – nicht mit dem Original identische – ArchetypArchetyp, der den auf der Basis sämtlicher Überlieferungsträger ältesten rekonstruierbaren Textzustand repräsentiert.

Diese Problematik spielt für Texte der neueren deutschen Literaturgeschichte nur selten eine Rolle. Wie in den mediävistischen und altphilologischen Ausgaben findet sich – allerdings unter Verzicht auf ein Stemma – in den meisten historisch-kritischen Ausgaben eine genaue Beschreibung sämtlicher relevanter Textzeugen in chronologischer Reihenfolge (jeweils mit präzisen Angaben über Aufbewahrungsort, Umfang, Papierart und -format, Art der Beschriftung, Datierung, Seitenzählung usw.). Die Textträger werden in der Regel mit Siglen sogenannten Siglen gekennzeichnet. Eingebürgert haben sich folgende Abkürzungen: H = Handschrift von eigener Hand; h = Abschrift von fremder Hand; T = Typoskript; D = Druck in Buchform; d = nichtautorisierter Druck; Z = Zeitschriftendruck usw. Liegen mehrere handschriftliche Versionen und Drucke vor, werden diese entsprechend ihrer Entstehungschronologie beziffert (H1, H2 usw.). Enthält das Manuskript auch Einträge anderer Personen, wird dies durch kombinierte Siglen (z. B. H1h) wiedergegeben.

[23]2.2 Textgrundlage


Die Bestimmung der Textgrundlage ist für jeden Herausgeber die wohl schwerwiegendste und folgenreichste Entscheidung, die er zu treffen hat. In einer historisch-kritischen Ausgabe wird die Textgrundlage nicht nur explizit benannt, sondern der Editor legt auch seine Editionsprinzipien und Entscheidungskriterien offen. Ein wichtiger Faktor in der diesbezüglichen Argumentation ist die Autorisation Autorisation. Nicht jeder Text, der in Buchform oder in einem Zeitschriftendruck an die Öffentlichkeit gelangt, entspricht den Vorstellungen seines Urhebers, ist also von ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiv oder passiv autorisiert worden. Insbesondere von erfolgreichen Büchern werden gelegentlich ohne Wissen und Erlaubnis des Verfassers und seines RaubdruckeVerlegers Raubdrucke auf den Markt gebracht. So kursierte etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen der zweiten Auflage von GOETHEs Briefroman Die Leiden des jungen Werthers ein Raubdruck des Berliner Verlegers Himburg. Dieser illegitime bzw. unautorisierte Nachdruck aus dem Jahre 1775 zeigt gegenüber dem Erstdruck (1774) mehrere Eingriffe, die nicht auf GOETHE zurückgehen.

Dass Texte nicht in einer der Autorintention entsprechenden Version verbreitet werden, sondern mitunter sogar in verstümmelter Form, kann auch an Eingriffen liegen, die vom Verlag oder von der Redaktion aus politisch-ideologischen Gründen, aus Rücksichtnahme auf religiöse oder ethisch-moralische Normen oder anderen Motiven vorgenommen wurden. Insbesondere in totalitären, absolutistischen und anderen nicht-demokratischen Staatsformen hatten und haben Schriftsteller mit Zensur der Zensur zu kämpfen. So musste HEINRICH HEINE in seinem satirischen Versepos Deutschland. Ein Wintermährchen (1844) auf Druck der Zensurbehörden eine Reihe von Entschärfungen vornehmen, um das Werk als Einzeldruck veröffentlichen zu können. Nicht immer lässt sich rekonstruieren, ob und inwieweit der Autor sich dem verlegerischen bzw. politischen Druck beugte und in die Textveränderungen einwilligte.

Texte bleiben mitunter nicht nur deshalb ganz oder teilweise ungedruckt oder werden sogar verboten, weil sie anstößige Inhalte verbreiten, sondern auch dann, wenn in ihnen Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Dies kann vor allem in Autobiographien, Memoiren, Briefen oder Schlüsselromanen u. Ä. geschehen und zu juristischen Auseinandersetzungen führen. Gewinnt [24]die Person, die sich im Text verunglimpft sieht, den Prozess, muss manchmal sogar eine ganze Auflage eingestampft werden, oder die inkriminierten Passagen werden eingeschwärzt bzw. in einer Neuauflage getilgt.

Für einen Herausgeber ist es deshalb unabdingbar, sich in jedem Einzelfall mit der Druckgeschichte eines Textes und dem Problem der Autorisation auseinanderzusetzen. Als autorisierte Texte gelten nach SIEGFRIED SCHEIBE zum einen »alle Handschriften eines Werks, an deren Herstellung der Autor mitgewirkt hat oder die in seinem Auftrag hergestellt wurden«, zum andern »alle Drucke, deren Herstellung der Autor gewünscht oder gebilligt hat und deren Text er zugleich durch Lieferung der Druckvorlage oder durch eigene oder von ihm veranlaßte Revision während des Druckvorgangs beeinflußt hat«.

Aus dieser Definition geht hervor, dass Texte auch in mehreren autorisierten Fassungen vorliegen können. Im Falle von GOETHEs Werther folgte dem im September 1774 anonym in der Weygandschen Buchhandlung in Leipzig erschienenen Erstdruck, der zahlreiche Druckfehler enthielt, auf die ein beigelegtes Corrigenda-Verzeichnis aufmerksam machte, bereits 1775 eine ebenfalls bei Weygand publizierte »Zweyte ächte Auflage«, in der einige Versehen des Erstdrucks berichtigt wurden. Angesichts des grassierenden Werther-Fiebers sah sich GOETHE...

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