Einleitung – Kinder schützen und stärken
»Gipfelstürmer brauchen ein Basislager.«1
John Bowlby, britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, Pionier der Bindungsforschung
Wenn ein Kind geboren wird …
… und die Eltern es zum ersten Mal auf dem Arm halten, überkommt sie meist ein bislang nicht gekanntes Gefühl. Sie erleben, wie vollkommen und zugleich zerbrechlich dieses kleine Wesen ist. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, entwickelt sich in ihnen ein Bedürfnis, wie man es auch Löwenmüttern zuschreibt: dieses Wesen zu beschützen gegen alle Widrigkeiten dieser Welt. Und es gegen jeden zu verteidigen, der es wagt, diesem Geschöpf auch nur ein Haar zu krümmen.
Wenn ein Kind älter wird ...
... dann wird es von Tag zu Tag selbstständiger und es gibt immer wieder kleine Abschiede. Der Abschied von der Brust, der Abschied vom Fläschchen, der Abschied von der Windel, der Abschied vom Krabbelalter. Das Kind lernt laufen, will die Welt erkunden und wird immer mehr Schritte alleine unternehmen, ohne seine Eltern. Und das ist auch gut so. Eltern können nicht immer mit eigenen Augen über ihr Kind wachen. Vielleicht kommt es in den Kindergarten und wird dort von fremden Erzieherinnen betreut. Es muss seine Misserfolge fortan alleine aushalten, vielleicht ungetröstet bleiben, wenn es zum Beispiel beim Vater-Mutter-Kind-Spiel bei der Rollenverteilung leer ausgeht. Es wird auch nicht mehr so beschützt, wenn es auf die Rutsche klettert. Im Kindergarten steht kein Papa daneben, der dem Kind vielleicht vor lauter Sorge, es könnte sich beim Herunterrutschen den Kopf verletzen, einen Sturzhelm aufsetzt.
Irgendwann möchte es alleine zum Bäcker gehen, alleine seinen Freund besuchen, alleine den Schulweg meistern, und auch das ist gut so. Wenn es eine gute Bindung an seine Eltern hat, wird es das alleine wagen, weil es weiß, es kann jederzeit wieder zurück zu den Eltern kommen. Viele Situationen, die das Kind alleine bewältigt, machen es stark und stolz auf sich selbst, und es wächst daran.
Wenn ein Kind selbstständig wird ...
... dann ist das auch wunderbar. Wir sehen, wie es von Tag zu Tag forscher in die Welt geht, wie es sich mehr und mehr zutraut, wie es laufen und sprechen lernt, die Welt mehr und mehr erkundet. Wie es unabhängig wird von uns, wie es groß wird, wie es ein guter Gesprächspartner wird, uns unterstützt im Haushalt oder am Computer und wie es stolz ist auf seine Leistungen.
Wenn wir schlimme Nachrichten hören und sehen …
… von Kindern, die verschleppt wurden, missbraucht wurden, umgebracht wurden, dann sacken wir in uns zusammen. Solche Nachrichten und die Angst, auch unserem Kind könnte so etwas zustoßen, beschäftigen uns sehr lange.
Es gibt Eltern, die ihr Kind vielleicht warnen, sich nicht von Fremden ansprechen zu lassen, oder sie begleiten es wieder in die Schule. Sie sitzen zu Hause oder im Büro und fragen sich: Ist mein Kind in der Kindergartengruppe gut aufgehoben? Wird es sicher seinen Schulweg meistern? Und: Wird ihm auch nichts zustoßen? Eltern überlegen vielleicht, wie sie ihr Kind wieder mehr kontrollieren, mehr beaufsichtigen, ihm mehr verbieten können. Um es zu schützen.
Eltern möchten ihr Kind vor dem »bösen, schwarzen Mann« schützen, dem Fremden, der vielleicht auf dem Spielplatz lauert oder das Kind an der Straßenecke anspricht. Und sie besprechen mit ihrem Kind, wie es sich verhalten soll, wenn ein Fremder es anspricht, wenn jemand ihm Schokolade anbietet oder es nach Hause fahren möchte mit der Begründung: »Deine Mutter ist ins Krankenhaus gekommen.«
Dabei »lauern« die größeren Gefahren für Kinder im Freundes- und Bekanntenkreis. Und dort wirken sich die Warnungen der Eltern paradox aus: Sie müssten eigentlich vor dem lieben Onkel warnen. Aber vor welchem genau? Die meisten Onkel und Tanten missbrauchen ja keine Kinder.
Dieses Dilemma zeigt vor allem eins: Punktuelle Warnungen nützen gar nichts. Kinder sind am besten geschützt durch Sexualerziehung, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Eltern und anderen erwachsenen Personen, die ihre Grenzen achten, die ein offenes Ohr für ihre Wünsche und Ängste haben, die sie als ganze Personen ernst nehmen und die sie mit einem guten Selbstvertrauen ausstatten.
Was sich in der öffentlichen Diskussion getan hat …
Mit dem Aufdecken von Missbrauchsfällen in Institutionen und den Bemühungen der Bundesregierung um eine Aufarbeitung (Einrichtung der Stelle zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs) hat das Thema »Sexueller Missbrauch« in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen. Viel mehr Menschen als angenommen sind von diesem Thema betroffen, sei es als Missbrauchsopfer, sei es als Angehörige oder Freunde. Viele Angehörige von Missbrauchsopfern machen sich große Vorwürfe: Wie konnte meinem Bruder, meiner Schwester, meinem Kind so etwas passieren? Wie konnte es sein, dass ich das nicht gesehen habe? Was habe ich falsch gemacht?
Gleichzeitig sind durch die öffentliche Diskussion über sexuellen Missbrauch das Bewusstsein und die Sensibilität heutiger Eltern größer geworden. Sie fragen sich: Was kann ich tun, damit meinem Kind so etwas nicht passiert? Wie kann ich mein Kind schützen? Worauf muss ich achten?
Historisch gesehen …
… hat es sexuellen Missbrauch an Kindern schon immer gegeben. Er wurde zu verschiedenen Zeiten allerdings sehr unterschiedlich bewertet und geahndet. Im antiken Griechenland war die Liebe mit einem Knaben eine Sache des Prestiges und im alten Rom war die Prostitution auch von ganz jungen Sklaven ganz normal. Im Mittelalter galt sexueller Missbrauch von Kindern zwar als Normverstoß, jedoch nicht in dem Maße wie heute. Sexuelle Gewalt richtete sich häuftig gegen Kinder, da ein Kinderleben weniger galt als das Leben eines Erwachsenen. Im 18. Jahrhundert wurden sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern zwar scharf verurteilt, allerdings mit der moralischen, christlichen Haltung, dass Sexualität von Kindern Sünde ist oder dass Kinder grundsätzlich keine Sexualität haben. 2
Die Tatsache, dass Kinder von Geburt an sexuelle Wesen sind, kindliche Sexualität sich aber grundsätzlich von erwachsener Sexualität unterscheidet, wurde erst von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, festgestellt. Und der musste für seinen neuen Erkenntnisse ordentlich »Prügel« einstecken. Aber auch heute, fast ein Jahrhundert später, sieht es nicht viel besser aus. So musste die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vor Kurzem ihre Broschüre zum Thema »Kindliche Sexualität« zurückziehen, weil ihr von einigen Kritikern, die kindliche Sexualität mit erwachsener Sexualität gleichsetzen, »Anstiftung zur Pädophilie« vorgeworfen wurde.
Die Rechte der Kinder
Kinderschutz ist »die Umsetzung von Kinderrechten, denn Kinder haben das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung und das Recht auf Schutz vor allen Formen der sexuellen Ausbeutung und der sexuellen Gewalt«.3
Dr. Christine Bergmann, Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs
Der Schutz der Kinder – auch vor sexuellem Missbrauch – ist abhängig davon, ob Kinder als vollwertige Menschen geachtet werden oder ob sie nur als kleine Wesen betrachtetet werden, deren Wohl und Wehe ausschließlich von ihren Eltern abhängt, die sie sogar als Besitztümer ansehen können. Erst in Zeiten der Aufklärung im 18. Jahrhundert begann man, Kindheit als eigenständigen Lebensabschnitt zu verstehen. Davor wurden Kinder wie »kleine Erwachsene« behandelt, das heißt, es gab keinen besonderen Kinderschutz. Das 19. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Entdeckung der Kindheit. Kinder gelten nun als erziehungsfähig und -bedürftig. Sie brauchen Anleitung, um in der komplizierten Gesellschaft überleben zu können. Im 20. Jahrhundert begann man, Kinderschutzprogramme aufzustellen. Die englische Grundschullehrerin und Kinderrechtsaktivistin Eglantyne Jebb entwarf erstmals eine Children’ s Charter, ein Fünf-Punkte-Programm, das sie dem Völkerbund in Genf zukommen ließ und das im September 1924 von der Generalversammlung des Völkerbundes verabschiedet wurde.
1959 wurde von der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Erklärung der Rechte des Kindes auf den Weg gebracht. Dreißig Jahre später verabschiedete die UN dann die internationale Kinderrechtskonvention. Diese Konvention, in der sich die UN-Staaten verpflichten, alles zu tun, um Kindern menschenwürdige Lebensbedingungen zu bieten, beruht auf vier Prinzipien. Diese sind:
Das Recht auf Gleichbehandlung: Kein Kind darf benachteiligt werden – sei es wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Staatsbürgerschaft, seiner Sprache, seiner Religion oder Hautfarbe, einer Behinderung oder wegen seiner politischen Ansichten.
Das Wohl des Kindes hat Vorrang: Wann immer Entscheidungen getroffen werden, die sich auf Kinder auswirken können, muss das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt werden – dies gilt in der Familie genauso wie für staatliches Handeln.
Das Recht auf Leben und Entwicklung: Jedes Land verpflichtet sich in größtmöglichem Umfang, die Entwicklung der Kinder zu sichern – zum Beispiel durch Zugang zu medizinischer Hilfe und Bildung und durch Schutz vor Ausbeutung und Missbrauch.
Achtung der...