II. Zukunftssorgen. Unsicherheiten und Dauerkrisen
1. Wovon sollen wir in Zukunft leben?
1.1 Das Schlaraffenland ist abgebrannt
Wir erleben derzeit die dritte Phase der Wohlstandsentwicklung in Deutschland:
- In Phase 1 – den Kriegs- und Nachkriegszeiten der Vierziger- und Fünfzigerjahre – waren die meisten Menschen in Deutschland froh, ein Dach über dem Kopf zu haben und keine Not zu leiden. Es dominierte der Versorgungskonsum.
- In Phase 2 – nach dem deutschen Wirtschaftswunder – wurde in den Sechziger- bis Neunzigerjahren »Wohlstand für alle« möglich und veränderte sich die Anspruchshaltung der Deutschen: »Ich will Spaß, ich will mehr ...« Der Erlebniskonsument wurde geboren.
- In Phase 3 – nach der Jahrtausendwende, dem 11. September 2001 und der weltweiten Finanzkrise seit 2009 – nehmen die finanziellen Sorgen auf breiter Ebene wieder zu und wächst die Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit: »Sicher leben statt viel haben« lautet die neue Leitlinie des Lebens.
Dies geht aus dem Nationalen WohlstandsIndex für Deutschland (NAWI-D) hervor, den das Sozialforschungsinstitut Ipsos in Zusammenarbeit mit dem Autor entwickelt hat. Im Zeitraum von 2012 bis 2014 wurden 16.000 Personen repräsentativ danach befragt, wie sie ihre eigene Lebenssituation einschätzen. Das Ergebnis: Den meisten Deutschen geht es heute gut – aber ihre Zukunft scheint vielen nicht mehr sicher. Das Wohlstand-für-alle-Versprechen droht zur Enttäuschung für große Teile der Bevölkerung zu werden.
Dafür spricht auch, dass die Familie mittlerweile »der wichtigste Pflegedienst« (Gesundheitsminister Hermann Gröhe im April 2014) in Deutschland ist: »Deutschlands Pflegedienst Nummer eins« steht in der Förderung gesundheitspolitischer Maßnahmen an oberster Stelle. Die Unterstützung für pflegende Familienangehörige soll den drohenden Pflegenotstand verhindern, der schon heute mit 2,5 Millionen Pflegedienstkräften an seine professionellen und finanziellen Grenzen stößt.
In Zeiten, in denen sich weltweit Krisenherde ausbreiten, wächst die Sehnsucht der Bevölkerung nach Sicherheit und verändert sich ihre Vorstellung von Wohlstand und Lebensqualität. Drei Viertel der Deutschen (75 %) antworten auf die Frage, was sie unter Wohlstand verstehen: »Keine finanziellen Sorgen haben.« Es dominiert der Wunsch nach einem sicheren Einkommen (68 %) und einem sicheren Arbeitsplatz (62 %). Aber auch Werte wie »sich eine gute medizinische Versorgung leisten können« spielen für jeden zweiten Befragten (55 %) eine Rolle.
Es ist schon bemerkenswert, dass das Wohlergehen der Deutschen mehr negativ definiert wird. Die Bundesbürger wollen
- »keine« finanziellen Sorgen und
- »keine« Angst vor der Zukunft
haben. Das steht ganz obenan auf ihrer Wunschliste: Von satten Wohlstandsbürgern keine Spur. Es geht um Leib und Leben – und nicht um Glücksgefühle. Die Deutschen haben ganz andere Sorgen. Da mag es der Wirtschaft noch so gut gehen: Vor dem Hintergrund stetig steigender Lebenserwartung in unsicheren Zeiten wird die persönliche Zukunftsvorsorge immer fragwürdiger.
Wohlstand fängt für die Bundesbürger mit dem persönlichen Wohlergehen an und hat mittlerweile mehr mit der Erhaltung der Lebensqualität als mit der Steigerung des Lebensstandards zu tun. Vor dem Hintergrund steigender Lebenserwartung werden mit zunehmendem Alter Gesundheit und Lebensqualität (und nicht etwa Konsum und Lebensstandard) immer wichtiger. Die Lebensdevise lautet dann: »Lieber ein neues Knie als ein neues Auto!« Eine lohnende Investition in die Zukunft angesichts der Tatsache, dass die meisten Menschen in Zukunft ein Vierteljahrhundert im Ruhestand leben »müssen«.
Die Frage »Wovon sollen wir künftig leben?« ist für viele Bundesbürger bisher unbeantwortet geblieben. Fast zwei Drittel der Bevölkerung (60 %) würden gern für die Zukunft vorsorgen, aber nur 38 % der Bundesbürger können es auch wirklich tun. Dies bedeutet: Nicht nur der Staat, auch die Bürger bilden keine Rücklagen und Reserven für die Zukunft. Auch eine Erklärung dafür, warum sich das Wohlstandsdenken der Deutschen verändert: »Sicher leben statt viel haben!« heißt die neue Leitlinie des Lebens.
Drei Viertel der deutschen Bevölkerung (75 %) erwarten von einem Leben im Wohlstand, keine finanziellen Sorgen zu haben. Doch nur 36 % geben an, aktuell keine Geldsorgen zu haben. Die Hoffnungen, gut und sorgenfrei leben zu können, haben sich für die meisten Deutschen nicht erfüllt. Die Verheißungen der Wohlstandsgesellschaft, sich über den Lebensunterhalt hinaus besondere materielle Wohlstandswünsche erfüllen zu können, erweisen sich für fast jeden dritten Bundesbürger (30 %) als Illusion. Ebenfalls nur jeder Dritte (36 %) gibt an, »keine finanziellen Sorgen« und »keine Angst vor der Zukunft zu haben« (38 %).
Die Wohlstandsgesellschaft entlässt ihre Kinder in eine relativ unsichere Zukunft. Die Wohlstandswende kommt im Lebensalltag der Deutschen an. Die Menschen spüren dies. Die fetten Jahre sind vorbei – das Schlaraffenland ist abgebrannt. Die Erkenntnis macht sich breit: Für die nächste Generation wird es in Zukunft viel schwieriger sein, ebenso abgesichert und im Wohlstand zu leben wie die heutige Elterngeneration. Die Zeiten im warmen Bad des Wohlstands sind vorbei.
Die Hoffnungen auf ein gutes Leben erfüllen sich nicht. Zu groß ist die Sorge um die Sicherheit von Job und Einkommen. Die Wohlstandsfrage ist für viele Bundesbürger zur Existenzfrage geworden. Die spürbaren Wohlstandsdefizite verändern das Anspruchsniveau der Deutschen. Sorgenfrei leben und keine Existenzängste haben: Ist das der neue Wohlstand der Deutschen?
1.2 Leben im Unwohlstand
Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist kein Gradmesser für Wohlstand und Lebensqualität mehr. Auch wenn die Wirtschaft wächst, bleibt das Lager der »gefühlten« Wohlstandsverlierer stabil. Fast jeder vierte Deutsche (23 %) fällt nach Berechnungen aus dem NAWI-D in die Kategorie »niedrig« beim ökonomischen Wohlstand. Dies bedeutet: Fast jeder Vierte in Deutschland ist nicht arm, aber fühlt sich armutsgefährdet. Die Armutsschwelle bedroht zunehmend die mittleren Einkommensbezieher, die um den Erhalt ihres Wohlstands bangen. Statt Wohlstand heißt es für viele Unwohlstand: Sie können sich nicht mehr richtig wohlhabend fühlen, sind aber auch noch nicht richtig arm. Sie leben prekär und haben Angst, abgehängt zu werden.
Das NAWI-D-Ergebnis stimmt fast punktgenau mit den Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) überein. Das DIW hat 2014 auf Basis der Langzeitstudie Sozio-ökonomischer Panel (SOEP) ermittelt: »Gut ein Fünftel« aller Erwachsenen in Deutschland (22 %) verfügt über »kein persönliches Vermögen« (DIW Wochenbericht Nr. 9/2014, S. 156).
Ein Ende prekärer Lebensverhältnisse in Deutschland ist nicht in Sicht. Über 16 Millionen Menschen in Deutschland leben zwischen Nicht-mehr-Wohlstand und Noch-nicht-Armut. Sie fühlen sich vom Wohlstandsleben zwischen Ausgehen, Shopping und Urlaubsreise weitgehend ausgegrenzt.
Ein Wohlstandsgraben zieht sich durch Deutschland. Die Hamburger (15 %) und die Bayern (18 %) sind von Armutsrisiken am wenigsten, die Bewohner in Sachsen (36 %) und Mecklenburg-Vorpommern (37 %) am meisten betroffen. Und auch fast jeder dritte Berliner (31 %) muss nicht darben, hungern oder frieren, aber hat Angst vor finanziellen Wohlstandsverlusten. Befristete Jobs im Niedriglohnbereich und schlechtere berufliche Absicherungen lassen trotz bundesweiter Rekordbeschäftigungen die Armuts- und Wohlstandsgrenzen in Deutschland immer fließender werden.
1.3 Die ungleiche Verteilung des Wohlstands
Die Verteilung des Wohlstands in Deutschland entscheidet über das Wohlergehen der Menschen – in der Familie genauso wie am Arbeitsplatz. Wer – wie die Große Koalition in Meseberg – das »gute Leben« in Deutschland programmatisch fordert, muss von einem umfassenden Wohlstandsverständnis der Bevölkerung ausgehen, das nicht nur ökonomische Interessen im Blick hat.
Nach dem repräsentativen NAWI-D auf der Basis von 16.000 Befragten geht es den Menschen in Deutschland derzeit unterschiedlich gut. In den WohlstandsIndex fließen Parameter des ökonomischen, ökologischen, gesellschaftlichen und individuellen Wohlstands ein. Im Bundesländervergleich sind Bayern (53 %) und Hamburg (54 %) die Gewinner und Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt (je 33 %) die eindeutigen Verlierer der Wohlstandsverteilung. Die Wohlstandskarte Deutschlands lässt dennoch keine Rückschlüsse auf ein mögliches West-Ost-Gefälle erkennen. Denn die Thüringer schätzen sich ähnlich wohlhabend ein (40 %) wie die Hessen (39 %). Und die Bewohner in Mecklenburg-Vorpommern (40 %) können durchaus einem Vergleich mit den Rheinland-Pfälzern (39 %) standhalten, weil sie den größten ökologischen Wohlstand in Deutschland aufweisen.
Naturnähe und Nachhaltigkeit sind auch jenseits von Arbeit und Brot ein Indikator für Wohlstand und Lebensqualität.
Andererseits liegen geradezu Welten zwischen einzelnen Bundesländern, wenn es um die Sicherheit des...