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Sokrates. Apologie der Pluralität

AutorHannah Arendt
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783957572011
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Hannah Arendt dachte zeitlebens im Horizont Sokrates'. Schon in den amerikanischen Anfängen stellte sie den Lehrer Platons in den Mittelpunkt ihrer Versuche, ein politisch relevantes und persönlich haltbares Denken für die Moderne zu begründen. Meisterhaft entfaltet diese Vorlesung aus den 50er Jahren eine Apologie der menschlichen Pluralität. So wendet sich Arendt gegen die platonische Versuchung, der Relativität der möglichen Wahrheiten mit der absoluten Autorität eines wegweisenden Denkansatzes begegnen zu wollen. Entscheidend ist für Arendt der innere Dialog, den Sokrates philosophisch initiierte. Zudem hebt sie die Kommunikation unter Bürgern und Freunden hervor, die im Austausch der Meinungen gemeinsame Perspektiven der Weltgestaltung eröffnen könne. In den Erinnerungen 'In Hannah Arendts Seminar' berichtet ihr letzter Assistent Jerome Kohn, wie sich entlang platonischer Texte das gemeinsame Nachdenken mit der Philosophin an der New School of Social Research gestaltete.

Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Sie war Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York, wo sie 1975 starb.

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Leseprobe

Hannah Arendt


Sokrates


I


»Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« Was Hegel von der Philosophie sagt, kann eigentlich nur für die Geschichtsphilosophie gelten. Es gilt für die Geschichte und entspricht der Perspektive der Historiker. Hegel kam natürlich zu dieser Formulierung, weil er glaubte, die eigentliche Philosophie habe in Griechenland erst mit Platon und Aristoteles begonnen – und diese schrieben, als die Polis und die ruhmreiche Zeit der griechischen Geschichte bereits am Ende waren. Heute wissen wir, dass Platon und Aristoteles nicht den Beginn, sondern den Höhepunkt des griechischen Philosophierens darstellen. Und dieses hatte seinen Flug begonnen, als Griechenland seinen Höhepunkt erreichte oder kurz davor stand. Doch wurden Platon und Aristoteles zum Beginn der abendländischen philosophischen Tradition, und dieser Beginn – im Unterschied zum Anfang des griechischen Philosophierens – trat in der Tat ein, als das lebendige politische Leben Griechenlands schon seinem Ende entgegenging. In der gesamten Tradition des philosophischen und insbesondere des politischen Denkens ist vielleicht kein Umstand von solcher Bedeutung und von so großem Einfluss gewesen wie der, dass Platon und Aristoteles im vierten Jahrhundert schrieben – also unter dem massiven Einfluss einer politisch verfallenden Gesellschaft.

Es stellte sich nämlich das Problem, wie der Mensch der Polis auch außerhalb der Politik existieren kann. Diese Frage – die manchmal eine seltsame Ähnlichkeit mit der Problematik unserer Epoche hat – bedeutete, ob es möglich ist, zu leben, ohne einem politischen Verband anzugehören, also in einem apolitischen Zustand im Sinne der (wie wir heute sagen würden) Staatenlosigkeit. Noch bedeutsamer war die Kluft, die sich zwischen Gedanke und Tat öffnete und seitdem nie wieder geschlossen hat. Alles Denken, das nicht lediglich die Mittel zur Erreichung eines Zieles kalkuliert, sondern sich mit einem Sinn (in des Wortes allgemeinster Bedeutung) befasst, wurde zu einem »Nachdenken«, einem Denken, das nachträglich erfolgte – nachdem das Handeln die Wirklichkeit bestimmt und entschieden hatte. Das Handeln andererseits, die Aktion, wurde in den sinnlosen Bereich des Akzidentiellen verwiesen.

II


Der Abgrund zwischen Philosophie und Politik öffnete sich historisch mit dem Prozess und der Verurteilung des Sokrates, die in der Geschichte des politischen Denkens denselben Wendepunkt markieren wie Prozess und Verurteilung Jesu in der Geschichte der Religion. Unsere Tradition des politischen Denkens begann, als Platon angesichts von Sokrates’ Tod am Leben in der Polis verzweifelte und gleichzeitig an einigen Grundsätzen des sokratischen Denkens irre wurde. Dass es Sokrates nicht gelungen war, die Richter von seiner Unschuld und seinen Verdiensten zu überzeugen (die doch für die besseren und die jüngeren unter den athenischen Bürgern so offensichtlich waren), ließ Platon an der sokratischen Überredungskunst zweifeln. Es fällt uns schwer, diesen furchtbaren Zweifel nachzuvollziehen, weil »überreden« nur eine schwache Übersetzung des griechischen peithein ist. Dessen politische Bedeutung zeigt sich darin, dass Peitho, die Göttin der Überredung, in Athen einen Tempel hatte. Das Überreden, peithein, war die spezifisch politische Form der Rede, und die Athener waren stolz darauf, im Gegensatz zu den Barbaren ihre politischen Angelegenheiten durch die öffentliche Rede und nicht durch den Zwang zu regeln. Die Rhetorik, die Technik der Überredung, galt ihnen als die höchste, die wahrhaft politische Kunst. Die Apologie des Sokrates ist eines der großen Beispiele hierfür, und gegen diese Verteidigungsrede schreibt Platon im Phaidon eine »revidierte Apologie«, die er ironisch »noch überredungskräftiger« nennt (pithanoteron, 63b), da sie mit einem Mythos vom Jenseits endet, wo körperliche Strafen und Belohnungen stattfinden werden (was die Zuhörer eher erschreckt als argumentativ überredet). Sokrates hatte in seiner Verteidigungsrede vor den Bürgern und Richtern Athens betont, dass sein Verhalten zum Besten der Stadt sei. Im Kriton hatte er seinen Freunden erklärt, dass er vor dem Verfahren nicht fliehen durfte, sondern aus politischen Gründen die Todesstrafe erleiden musste. Anscheinend misslang es ihm nicht nur, die Richter zu überzeugen, auch seine Freunde erreichte er nicht mit seinen Argumenten. Also wusste die Polis mit einem Philosophen nichts anzufangen und dessen Freunde nichts mit seiner politischen Argumentation. Das gehört zu der Tragödie, von welcher Platons Dialoge Zeugnis ablegen.

In enger Verbindung mit seinem Zweifel an der Effektivität des Überredens steht Platons wütende Polemik gegen die doxa, die bloße Meinung. Diese Polemik zieht sich nicht nur wie ein roter Faden durch seine politischen Werke, sie gehört zu den Grundlagen seines Wahrheitsbegriffs. Die platonische Wahrheit ist selbst dort, wo diese doxa nicht eigens erwähnt wird, immer der genaue Gegensatz zur beliebigen Meinung. Das Schauspiel, wie Sokrates seine eigene doxa gegen die unverantwortlichen Meinungen der Athener stellt und von einer Mehrheit niedergestimmt wird, brachte Platon dazu, Meinungen insgesamt zu verachten und sich nach absoluten Maßstäben zu sehnen. Maßstäbe, an denen sich Handlungen messen ließen und an denen das Denken eine gewisse Verlässlichkeit gewinnen konnte, waren von nun an das Hauptziel seiner politischen Philosophie; der Wunsch nach ihnen beeinflusste selbst die rein philosophische Lehre von den Ideen entscheidend.

Ich glaube zwar nicht, dass die Ideenlehre – wie man oft hören kann – vor allem ein Repertoire von Regeln sein sollte oder dass ihr Ursprung politisch war. Eine solche Interpretation lässt sich aber durchaus begründen. Sie ist sehr verständlich, weil Platon selbst als Erster die Ideen zu politischen Zwecken gebrauchte – um absolute Maßstäbe in das Reich der menschlichen Angelegenheiten einzuführen, wo sonst – ohne Maße, die das Irdische transzendieren – alles relativ bliebe. Wie Platon selbst bemerkte, wissen wir nicht, was absolute Größe ist, wir wissen nur, dass etwas größer oder kleiner in Bezug auf etwas anderes ist.

III


Unter den Schlüssen, die Platon aus dem Prozess gegen Sokrates zog, kehrte sich gewiss jener am stärksten gegen Sokrates selbst: dass es einen unversöhnlichen Gegensatz gibt zwischen Wahrheit und Meinung. Insofern es Sokrates nicht gelang, die Polis zu überzeugen, hatte er bewiesen, dass der Staat kein sicherer Ort für den Philosophen ist – nicht nur, weil er dort wegen der Wahrheit, die er besitzt, seines Lebens nicht sicher ist, sondern auch in dem viel wichtigeren Sinne, dass man der Polis nicht zutrauen kann, das Andenken des Philosophen zu bewahren. Wenn die Bürger Sokrates zum Tode verurteilen konnten, dann würden sie ihn sehr wahrscheinlich auch nach seinem Tode vergessen. Seine irdische Unsterblichkeit war nur dann gesichert, wenn die Philosophen eine eigene Solidarität entwickelten, welche jener der Polis entgegengesetzt war. Das alte Argument gegen die sophoi, die Weisen, das sich bei Platon ebenso wie bei Aristoteles findet: dass sie nicht einmal wissen, was gut für sie selbst ist (was doch Voraussetzung politischer Weisheit wäre), und dass sie lächerlich wirken, wenn sie auf dem Marktplatz erscheinen, wo sie zum Gespött werden (wie Thales von einer Magd ausgelacht wurde, als er im Einhergehen nach den Sternen sah und in einen Brunnen fiel) – dieses Argument kehrte Platon gegen den Staat.

Um ermessen zu können, was so ungeheuerlich an Platons Forderung war, dass der Philosoph Herrscher im Staat werden solle, müssen wir uns jener Vorurteile erinnern, welche die Polis gegen die Philosophen hatte (nicht jedoch gegen die Künstler und Dichter). Der sophos, der nicht weiß, was gut für ihn ist, weiß umso weniger, was gut für den Staat wäre. Der sophos als Herrscher muss als Gegensatz des zeitgenössischen Ideals vom phronimos gesehen werden, dem verständigen Mann, dessen Einsichten in die menschlichen Angelegenheiten ihn zur Führerschaft befähigen, wenn auch natürlich nicht zur Herrschaft. Philosophie, die Liebe zur Weisheit, galt als völlig verschieden von dieser phronësis. Der Weise ist allein mit Dingen außerhalb der Polis beschäftigt, und Aristoteles stimmt ganz mit dieser verbreiteten Vorstellung überein, wenn er sagt: »Anaxagoras und Thales waren weise Männer, aber nicht verständig. Sie waren nicht an dem interessiert, was gut ist für die Menschen (anthropina agatha).« (Nikomachische Ethik 1140a 25–30; 1141b 4–8) Platon bestritt nicht, dass es die Aufgabe des Philosophen war, sich mit ewigen, unveränderlichen, nichtmenschlichen Dingen zu befassen. Doch glaubte er nicht, dass ihn dies unfähig mache, eine politische Rolle zu spielen. Er teilte...

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