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E-Book

Solidarität

Die Zukunft einer großen Idee

AutorHeinz Bude
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783446262997
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Solidarität war einmal ein starkes Wort. Es geriet in Verruf, als jeder für sein Glück und seine Not selbst verantwortlich gemacht wurde. Heute ist die Gesellschaft tiefer denn je zwischen Arm und Reich gespalten. Natürlich gibt es ein Sozialsystem, das einen Ausgleich bewirkt. Dazu brauchen wir aber ein neues Verständnis von Solidarität. Wir sollten uns nicht damit begnügen, materielle Not zu lindern, sondern im anderen uns selbst als Mensch wiedererkennen. Erst durch diese freie Entscheidung zur Mitmenschlichkeit findet eine Gesellschaft wieder zusammen. Heinz Budes Reflexionen über die solidarische Existenz liefern die Antworten auf die soziale Frage unserer Zeit.

Heinz Bude, geboren 1954, studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 2000 bis 2023 war er Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Er lebt in Berlin. Im Carl Hanser Verlag erschien zuletzt: Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968 (2018), Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee (2019) und, gemeinsam mit Bettina Munk und Karin Wieland, Aufprall (2020).

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Leseprobe

Die Unschuld des Trittbrettfahrers


Der Gegentyp zum solidarischen Menschen ist der Trittbrettfahrer. Trittbrettfahrer nehmen für sich ohne Bedenken die Vorteile und Vergünstigungen in Anspruch, die andere für ihn und für Menschen in ihrer oder seiner Lage erstritten haben. Sie denken keinen Moment daran, dass sich daraus für sie solidarische Verpflichtungen gegenüber der Gruppe ergeben, deren Repräsentanten in Tarifverhandlungen, in politischen Auseinandersetzungen oder in der Arena der Öffentlichkeit höhere Löhne, längere Ferien, breitere Fahrradwege oder das Recht auf eine bezahlte Elternzeit erstritten haben.

Im Gegenteil: Man brandmarkt gewerkschaftliches Funktionärswesen, die Selbstbedienungsmentalität der politischen Klasse und die moralische Überheblichkeit von stehen gebliebenen Ökoaktivisten. Trittbrettfahrer verurteilen gern, wovon sie selbst profitieren, weil sie den anderen genau jenes Verhalten unterstellen, das sie selbst an den Tag legen. Augenscheinlich dient dieser Selbstwiderspruch nur einem einzigen Ziel: der Abwehr von Teilnahme, Verpflichtung und Rechtfertigung. Man schaut zu, beschwert sich und nimmt mit, was mitzunehmen ist.

Aber verhält sich der Trittbrettfahrer nicht völlig normal und rational? Mancur Olson hat in einer klassischen Analyse der prinzipiellen Widersinnigkeit von kollektivem Handeln3 den solidarischen Menschen, der an den sozialen Zusammenhalt, an die Wirksamkeit und Anziehungskraft der Gemeinschaft und an die Macht des großen Zusammenschlusses glaubt, für eine Schimäre wirklichkeitsfremder Sozialphilosophen erklärt. Er führt seinen Beweis am Beispiel der Steuern: Trotz der Anziehungskraft geschlossener Ideologien, trotz des Bandes einer geteilten Kultur und trotz des Glaubens an Recht und Ordnung war in der europäischen Neuzeit kein bedeutender Staat in der Lage, seine Aufgaben mit freiwilligen Beiträgen und Abgaben zu finanzieren. Man kann sich auch keine moderne Demokratie vorstellen, in der sich die Staatsbürger als Steuerzahler selbst bestimmen und aus Verantwortung für das Gemeinwesen einen Teil ihres Einkommens abzweigen. Steuern sind Zwangszahlungen, die festgelegt und nicht ausgehandelt oder erbeten werden. Im Steuerstaat können die einzelnen Steuerzahler noch nicht einmal darüber befinden, was mit ihren Steuern geschieht. Zwar wird immer wieder der liberale Gebührenstaat als Alternative zum autoritativen Steuerstaat ins Gespräch gebracht, aber schon wenn man nur einen Augenblick überlegt, wie eine Gebührenordnung, die die unterschiedlichen Einkommen berücksichtigen müsste, aussehen könnte, wird man schnell von diesem Gedanken Abstand nehmen. Niemand wird ernsthaft die Notwendigkeit von steuerlichen Zwangsabgaben zur Aufrechterhaltung eines Gemeinwesens in Frage stellen, auf die Einsicht der einzelnen in eine solidarische Kostenverteilung wird man sich dabei jedoch nicht verlassen wollen. Wir sind alle ohne schlechtes Gewissen Empfänger staatlicher Leistungen, weil wir als Steuerzahler ihre Bereitstellung zwangsweise finanzieren. Der eine trägt weniger, die andere mehr dazu bei, aber im Prinzip wird niemand vom Steuerzwang befreit.

Die Sache sieht etwas anders aus, wenn man an die gesetzlichen Krankenkassen, an die zwischen den Tarifparteien ausgehandelten Manteltarifverträge oder an »nicht-wirtschaftliche« Lobbygruppen wie politische Parteien denkt. Inwieweit sind starke Beitragszahler zu einer Gesundheitskasse, wie sich Krankenkassen heute gern nennen, die sich ein persönliches Bewegungsprogramm auferlegen, auf den unmäßigen Verzehr von Weißmehl, Fett und Zucker verzichten und die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen selbstverantwortlich wahrnehmen, bereit, die erheblichen Kosten von Mitgliedern mitzufinanzieren, die das alles nicht machen? Die keinen Weg zu Fuß gehen, die sich vor allem von Junkfood ernähren und denen Vorsorgeuntersuchungen lästig sind. Die einen halten durch ihr persönliches Sorgeverhalten die Kosten des Systems in Grenzen, die anderen scheren sich nicht um Prävention und hören auch nach der dritten, relativ kostspieligen Bypass-Operation mit dem Rauchen nicht auf. Das Verständnis der kostenbewussten für die kostenphlegmatischen Beitragszahler wird nicht grenzenlos sein. Verhalten sich die einen als solidarische Mitglieder der Versicherungsgemeinschaft, und sind die anderen bedenkenlose Trittbrettfahrer?

Das gleiche Problem stellt sich für Gewerkschaften, die schließlich nicht nur für ihre Mitglieder mehr Geld, längeren Urlaub und kürzere Arbeitszeiten erkämpfen. Oder für politische Parteien, die für mehr Mieterrechte, für einen Mindestlohn oder für eine Stärkung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr eintreten. Ihr Erfolg kommt am Ende auch denjenigen zugute, die die Partei nicht gewählt oder die sich an der Wahl gar nicht beteiligt haben.

Mancur Olson sieht das Problem in den sogenannten Kollektivgütern. Damit meint er Leistungen oder Vorteile, die gleichmäßig und allgemein verteilt werden und auch Personen, die an ihrem Zustandekommen nicht beteiligt waren, praktisch nicht vorenthalten werden können4. Mit anderen Worten: Selbst diejenigen, die sich weder für die Erhaltung dieser öffentlichen oder kollektiven Güter engagieren noch etwas dafür bezahlen, kommen in deren Genuss. Altruismus findet man vielleicht bei jenen kleinen Gruppen, die sich mit den Verdammten solidarisieren oder das Reich der Gnade durch das der Gerechtigkeit ersetzen wollen. Aber wenn die Verlorenen in einem sozialen Rechtsstaat Gerechtigkeit verlangen können und nicht mehr auf Gnade hoffen müssen, dann dauert es nicht lange, und man weiß gar nicht mehr, was es bedeutet, dass alle ein Recht haben, mit am Tisch zu sitzen, und niemand vor der Tür stehen bleiben muss. Die Kollektivgüter werden als Selbstverständlichkeit empfunden und mit der Zeit verliert sich das Gefühl, dass sich jeder für ihren Erhalt und ihr Wachstum engagieren muss. Gewerkschaften bieten ihren Mitgliedern eine Tagegeldversicherung für den Fall eines Krankenhausaufenthalts an, Parteien werben unverhohlen mit der Verteilung von Pfründen nach dem Wahlsieg. Jedenfalls braucht es offenbar ein Angebot sekundärer Vorteile für den Einzelnen, damit eine wechselseitig verpflichtende Kultur kollektiver Güter aus der fühl- und sichtbaren Addierung individueller Vorteile entstehen kann.

Olson glaubt deshalb, die folgenreiche Unterscheidung zwischen einem kollektiven Gut und einem individuellen Vorteil treffen zu müssen. Obwohl alle Bürgerinnen und Bürger ein gemeinsames Interesse daran haben, einen kollektiven Gewinn durch eine solidarisch finanzierte Krankenversicherung oder ein allgemeines Recht auf bezahlbaren Wohnraum zu erlangen, haben sie doch kein gemeinsames Interesse daran, die Kosten für die Beschaffung und die Pflege dieses Kollektivgutes zu tragen. Sie verhalten sich wie Trittbrettfahrer bei der Wahrnehmung von Vorteilen, die allen zugutekommen, ohne selbst dafür etwas hergeben oder aufwenden zu wollen.

Die politische Pointe von Olsons Gedanke wird sofort klar, wenn man über das Entstehen von klassenbewusstem Handeln im Sinne einer marxistischen Gesellschaftstheorie nachdenkt5. Marx zufolge lassen sich in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aufgrund der Eigentums- und Besitzverhältnisse im Prinzip zwei große Klassen mit bestimmten Klasseninteressen unterscheiden: die Kapitalisten als die »objektiven« Ausbeuter, die Arbeitskraft zur Verwertung ihres Kapitals kaufen, und die Proletarier als die »objektiv« Ausgebeuteten, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben. Wenn die einzelnen Angehörigen dieser beiden Klassen im Sinne ihrer Klasseninteressen rational handeln, werden sie nach Olsons Auffassung bestimmt kein klassenorientiertes Handeln ausbilden. Ein Angehöriger der Bourgeoisie wird sich eine Regierung wünschen, die die Interessen seiner Klasse befördert. Aber daraus folgt nicht automatisch, dass er sich auch dafür einsetzt, dass eine solche Regierung an die Macht kommt. Nach der Unterstellung von Marx kann sich im Kapitalismus sowieso keine Regierung halten, die nicht die Marktkonformität ihres Regierungshandelns an die erste Stelle setzt. Außerdem wird ein einzelner Kapitalist ohnehin nicht so viel Einfluss auf den Wahlausgang ausüben können. Daher wäre es für einen Angehörigen der Bourgeoisie durchaus folgerichtig, seine Klasseninteressen nach hinten zu stellen und sich in erster Linie auf seine eigenen und die Interessen seines Betriebs zu konzentrieren.

Das gilt freilich auch für die Arbeiterinnen und Arbeiter, die von einer sozialdemokratischen oder sozialistischen Regierung eine Unterstützung ihrer Position erwarten. Warum sollten sie die Vorteile, die sie in einem kapitalistischen Betrieb durch schrittweisen Statusgewinn ...

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