VORWORT:
Bobby Kennedy und der Wohlstand von Nationen und Konzernen
Am Montag, den 18. März 1968, drei Monate, bevor die Kugel eines Attentäters seinem Leben ein vorzeitiges Ende setzte, hielt Senator Robert F. Kennedy an der University of Kansas eine leidenschaftliche Rede. Er sprach vom Gesundheitszustand seiner Nation, der enormen Wirtschaftsmacht der Vereinigten Staaten von Amerika, und von unserer Angewohnheit, die nationale Gesundheit an Zahlen wie dem Gross National Product (GNP, entspricht dem Bruttosozialprodukt, BSP) abzulesen. Kennedy sagte:
In zu großem Ausmaß und für zu lange Zeit haben wir die Qualität eines Menschen und den Wert einer Gemeinschaft lediglich nach der Anhäufung materieller Dinge bemessen. Unser Bruttosozialprodukt beläuft sich gegenwärtig [1968] auf über 800 Milliarden Dollar pro Jahr, aber wenn wir die USA nach diesem Bruttosozialprodukt beurteilen, dann gehören dazu auch Luftverschmutzung und Zigarettenwerbung und Rettungsfahrzeuge, die die Opfer von Verkehrsunfällen von unseren Highways abtransportieren, außerdem Spezialschlösser für unsere Haustüren und Gefängnisse für die Leute, die sie aufbrechen. Die Zerstörung der Mammutbäume gehört dazu und der Verlust der natürlichen Schönheiten unseres Landes, die einer außer Kontrolle geratenen Zersiedelung zum Opfer gefallen sind. Napalm gehört dazu und Atomsprengköpfe und gepanzerte Polizeifahrzeuge, mit denen die Aufstände in unseren Städten bekämpft werden müssen. Whitmans Gewehr gehört dazu und Specks Messer und die Fernsehprogramme, die Gewalt verherrlichen, um Spielzeuge an unsere Kinder zu verkaufen. Was für das Bruttosozialprodukt andererseits keine Rolle spielt, sind die Gesundheit unserer Kinder, die Qualität ihrer Erziehung, die Freude, die sie beim Spielen haben. Die Schönheit unserer Dichtung zählt nicht, es zählen nicht die Stabilität unserer Ehen, die Intelligenz unserer öffentlichen Debatten oder die Anständigkeit unserer Beamten. Es zählen nicht unsere Klugheit und unser Mut, weder unsere Weisheit noch unsere Ausbildung, weder unser Mitgefühl noch die Liebe zu unserem Land, kurz: Es zählt alles außer dem, was das Leben lebenswert macht.
Wie bereits viele vor und nach ihm (darunter auch Simon Kuznets, der »Erfinder« des Bruttosozialprodukts), war Robert Kennedy überzeugt, dass etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt mit der Methode, mit der wir unseren nationalen Wohlstand bemessen, sowie mit den Zahlen – dem schon genannten GNP sowie dem Gross Domestic Product (GDP, Bruttoinlandsprodukt, BIP), die wir zu diesem Zweck heranziehen. Kennedy wies darauf hin, dass die fraglichen Zahlen zu alarmierenden Anomalitäten führten: Nach ihrer Logik ist Zigarettenwerbung wertvoller als die Gesundheit eines Kindes. Über vierzig Jahre nach der Rede von Robert Kennedy bilden Bruttosozial- und Bruttoinlandsprodukt noch immer die Grundlage politischer Entscheidungen von Regierungen, Finanzinstituten, Konzernen und Gemeinwesen. Nach wie vor beherrschen diese irreführenden Zahlen unser Leben. Wie konnte es dazu kommen, dass wir so viel falsch gemacht haben?
Und nicht nur in unserer Volkswirtschaft ist vieles schiefgegangen. Von der weltweit bekannten Pleite des Energiegiganten Enron im Jahr 2001, der in den 1990er Jahren noch hochgelobt wurde, bis zum fast vollständigen Zusammenbruch der weltweiten Finanzmärkte im Jahr 2008 erlebten wir eine Sturzflut spektakulärer Beispiele völlig irreführender und abgründig fehlerhafter Berichterstattungen der betroffenen Unternehmen.
Am 27. Februar 2008 wurde die Jahresabrechnung 2007 der Royal Bank of Scotland (RBS) abgezeichnet. Die RBS war hinsichtlich ihrer Vermögenswerte ein Titan – das weltweit größte Unternehmen. Ihr Vermögen war größer als das Bruttoinlandsprodukt vieler Nationen, auch größer als dasjenige Großbritanniens: Letzteres belief sich auf 1,762 Billionen Englische Pfund, das Vermögen der RBS-Gruppe betrug 1,9 Billionen Pfund. Wie man es von einer bedeutenden Institution auf dem Finanzmarkt erwarten darf, die mit der Verwaltung des Geldes anderer Menschen betraut ist, verströmte die Rhetorik des Jahresberichts 2007 wohlüberlegte, maßvolle Verantwortlichkeit: »Die Politik der Gruppe besteht darin, eine starke Kapitalbasis aufrechtzuerhalten, sie angemessen zu erweitern und sie in all ihren Aktivitäten effizient einzusetzen, um die Rendite der Aktionäre zu optimieren, und dabei ständig auf eine ausgewogene Beziehung zwischen der Eigenkapitalausstattung und den fundamentalen Geschäftsrisiken zu achten.«
Nur zwei Monate später, im April 2008, wurde die Bank mitsamt ihrer ausgewogenen Strategie in den Abgrund gerissen. Sie war torpediert worden, weil sie sich mit toxischen Kapitalanlagen eingelassen hatte, die ihre Bilanz vergifteten und ein klaffendes Loch von 12 Milliarden Pfund rissen – eine Zahl, die binnen kurzem auf 100 Milliarden Pfund hochschnellte, Tendenz weiterhin steigend. Und dieser Abgrund von vielen Milliarden Pfund wird in den Firmenkonten an keiner Stelle deutlich. Dabei sind diese Konten doch als Werkzeuge gedacht, die den Aktionären, dem Markt und der Öffentlichkeit Transparenz garantieren sollen. Müsste also eine massive Deckungslücke von 12 Milliarden Pfund aus den Geschäftsbüchern der RBS nicht ersichtlich sein? Oder mit den Worten des Schriftstellers John Lanchester: »Von Rechts wegen, nach den Gesetzen der Logik und nach allem, was uns heilig ist, müsste es doch in den Geschäftsbüchern und der Bilanz Hinweise auf das geben, was schiefgelaufen ist – vor allem, weil bei einem derart harten Schlag für das Unternehmen schon mehr als zwei Monate zuvor etwas schiefgelaufen sein muss.«
Später stellte sich heraus, dass sich die Gruppe in sehr viel größerem Ausmaß dem Markt der Subprime-Hypothekendarlehen exponiert hatte, als sie öffentlich zugab. Trotz dieser offensichtlichen schwerwiegenden Falschdarstellung des Gesellschaftsvermögens im Februar 2008 äußerte sich ein Sprecher der RBS folgendermaßen: »Der Geschäftsleitung lagen sämtliche Informationen vor, und die Details, die in allen Finanzberichterstattungen an den Markt weitergegeben wurden, spiegelten die tatsächliche Meinung des Instituts zum damaligen Zeitpunkt wahrheitsgemäß wider.«
Das sollte in den darauffolgenden Monaten zu einem nur allzu bekannten Refrain werden, als die Giganten der Finanz- und Bankenwelt ins Wanken gerieten – Lehman Brothers, Lloyds-HBOS, AIG, Anglo Irish Bank, die isländischen Banken Glitnir und Landsbanki –, allesamt zu Fall gebracht durch »immense Löcher«, die sich – scheinbar aus dem Nichts – auf der Aktivseite ihrer Bilanzen auftaten. Und der Abstieg jener Giganten hatte zur Folge, dass das gesamte internationale Finanzsystem in die Knie ging. Für die Kosten dieser Zusammenbrüche werden die Steuerzahler noch jahrzehntelang aufzukommen haben.
Mittels Buchführung werden jährlich publizierte Vermögensaufstellungen erzeugt, die die Transparenz eines Unternehmens garantieren und dadurch die Leistung eines Unternehmens überprüfen und sicherstellen sollen, dass die Märkte effizient funktionieren. Solche Aufstellungen umfassen die Bilanz, die Gewinn- und Verlustrechnung, den Cashflow-Bericht und die Feststellung der thesaurierten Gewinne. Allerdings hat sich herausgestellt, dass man diesen Werkzeugen nicht trauen kann, wenn es um die Darstellung des tatsächlichen Zustands eines Betriebes geht. Dennoch verlassen sich bei ihren Entscheidungen, die das Leben von uns allen beeinflussen, Regierungen, Manager, politische Entscheidungsträger und Aktionäre gleichermaßen auf diese Informationen.
Wie also konnte es dazu kommen, dass wir so viel falsch gemacht haben?
Unsere Welt wird von Zahlen regiert, die in den Geschäftsbüchern von Nationen und Konzernen produziert werden. Aber diese Zahlen sind beliebig und illusorisch. Wie konnte es so weit kommen, dass wir uns an diesen in die Irre führenden Leuchttürmen orientieren, dass wir bei der Ausrichtung unserer Politik, unserer Institutionen, unserer Volkswirtschaften und Gesellschaften von ihnen abhängig wurden? Woher stammen diese falschen Propheten, diese Zahlen und Konten?
Ich möchte mit meinem Buch versuchen, auf diese und weitere Fragen eine Antwort zu geben. Als ich mit der Abfassung begann, hatte ich mir allerdings andere Fragen gestellt. Seine Entstehung umfasst drei unterschiedliche Stadien. Die ursprüngliche Idee kam mir in jenem Sommer, den ich als Praktikantin des Peggy Guggenheim-Museums in Venedig verbrachte, damals, als ich in die Geheimnisse und die Symbolsprache der italienischen Renaissance-Malerei eingeführt wurde, und im Zusammenhang mit dem Abschluss meines Volkswirtschafts-Studiums im Jahr darauf. Renaissance-Kunst und volkswirtschaftliche Fragen vermischten sich für mich, und ich entwickelte eine gewisse Neugier hinsichtlich ihrer Beziehung zueinander – hinsichtlich des Wohlstands, der die Kunst ermöglichte. Ich habe die gelbe Post-it-Notiz aufgehoben, auf der ich das ursprüngliche Vorhaben für dieses Buch festhielt. Es heißt da: »Ich würde gern die materiellen Ursprünge der Renaissance ebenso würdigen, wie wir ihre kulturellen Früchte würdigen.« Meine erste Idee bestand also darin, die vernachlässigten materiellen Grundlagen der großen Renaissancekunst zu untersuchen, ich...