Prolog
Im Juli 2013 flog ich von London nach Berlin, um das Sommerhaus zu besuchen, das mein Urgroßvater gebaut hatte.
Am Flughafen Schönefeld nahm ich mir einen Leihwagen, fuhr über die Autobahn bis zu einem Funkturm, der ein bisschen wie der Eiffelturm aussah, und von dort weiter Richtung Olympiastadion und Spandau. An einer Tankstelle bog ich nach links ab. Die Landstraße führte mich durch einen dichten Birkenwald, der nur gelegentlich den Blick auf ausgedehntes Ackerland freigab. Ich wusste, irgendwo zu meiner Linken floss die Havel, aber sie versteckte sich hinter Bäumen. Es war 20 Jahre her, dass ich zuletzt hier gewesen war, und nichts kam mir vertraut vor.
Nach 15 Minuten hieß mich ein Schild in der Ortschaft Groß Glienicke willkommen. Ein paar Meter weiter stand ein zweites Schild. Es markierte einen ehemaligen Grenzübergang zwischen Westberlin und Ostdeutschland. Ich drosselte das Tempo. Nach einem halben Kilometer sah ich den Orientierungspunkt, den ich gesucht hatte: einen cremefarbenen Torbogen gegenüber einer kleinen Feuerwache. Ich fuhr hindurch und parkte das Auto.
Ich wusste nicht mehr genau, welche Richtung ich einschlagen sollte. Ich hatte keine Karte der Ortschaft und es gab niemanden, den ich hätte fragen können, also verriegelte ich das Auto und ging ein paar Schritte auf einem kleinen Pfad entlang, der von Unkraut und Brombeersträuchern überwachsen war. Dann entdeckte ich ein Straßenschild mit der Aufschrift »Am Park«. War es das? War der Weg nicht sandig gewesen? Ich erinnerte mich vage an ein Gemüsebeet und eine Hundehütte, an einen ordentlich angelegten Garten und schmucke Blumenrabatten. 50 Meter weiter endete der Weg abrupt an einem breiten Metalltor mit dem Hinweis »privat«. Mir war bewusst, dass ich hier ohne Erlaubnis eindrang, dennoch duckte ich mich unter einem Stacheldraht hindurch und suchte mir einen Weg durch schulterhohes Gras in die Richtung, in der ich den See vermutete. Links stand eine Reihe moderner Backsteinhäuser und rechts erstreckte sich eine wild wuchernde Hecke. Und plötzlich sah ich es: das Haus meiner Familie. Es war kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, nicht viel größer als ein Sportpavillon oder eine Doppelgarage, zugewachsen von Büschen, Kletterpflanzen und Bäumen. Die Fenster waren mit Sperrholzplatten zugenagelt, das nahezu flache schwarze Dach war rissig und mit herabgefallenen Zweigen bedeckt, die gemauerten Schornsteine bröckelten und wirkten einsturzgefährdet.
Langsam umrundete ich das Haus, berührte abblätternde Farbe und verrammelte Türen, bis ich auf ein zerbrochenes Fenster stieß. Ich kletterte hinein. Mithilfe meines I-Phones beleuchtete ich das Innere. Was ich sah, waren Berge von schmutziger Kleidung und gammeligen Kissen, mit Graffiti beschmierte Wände, Schimmel, zerstörte Haushaltsgeräte, Teile der Einrichtung, verrottende Dielen und leere Bierflaschen. Ein Raum schien als Drogenhöhle genutzt worden zu sein; er war übersät mit kaputten Feuerzeugen und verrußten Löffeln. Ein trauriger Ort mit der Melancholie eines verlassenen Gebäudes.
Ich kletterte durch das Fenster wieder nach draußen und ging zu dem Haus nebenan. Vielleicht würde ich jemanden antreffen. Ich hatte Glück, eine Frau arbeitete im Garten. Unbeholfen stellte ich mich in gebrochenem Deutsch vor. Sie antwortete auf Englisch. Ich erklärte, dass ich zu der Familie gehörte, die in dem Haus gelebt hatte. Ob sie wisse, was damit passiert war und wem es gehörte. »Es steht seit mehr als einem Jahrzehnt leer«, sagte sie und deutete zum Ufer. »Die Berliner Mauer wurde dort errichtet, zwischen dem Haus und dem See«, erklärte sie. »Es hat viel durchgemacht, aber jetzt ist es ein Schandfleck.« Seltsamerweise schien sich ihr Ärger gegen mich zu richten. Ich nickte bloß.
Mein ganzes Leben hatte ich von dem Haus am See oder von »Glienicke« erzählen gehört. Für meine Großmutter Elsie war es zu einer fixen Idee geworden, sie sprach wie verzaubert davon; die Erinnerung daran beschwor für sie eine Zeit herauf, in der das Leben leicht und glücklich und das Haus ihr Ort für die Seele war.
Meiner Familie, den Alexanders, war es im liberalen Berlin der 1920er Jahre gut gegangen. Sie waren wohlhabende, weltoffene Juden, die die deutschen Werte teilten: Sie arbeiteten hart, gingen gern in die neuesten Ausstellungen, in Theateraufführungen und Konzerte und unternahmen ausgedehnte Wanderungen im Berliner Umland. Sobald sie es sich leisten konnten, bauten sie sich ein kleines Holzhaus am Groß Glienicker See, ein Symbol ihres Erfolgs. Hier verbrachten sie jeden Sommer und genossen ihr einfaches, rustikales Leben, das mit Gartenarbeit, Schwimmen im See und Partys auf der Terrasse ausgefüllt war.
Dem machte der Aufstieg der Nazis ein Ende. Sie waren gezwungen zu fliehen und ließen sich in London nieder, wo sie hart kämpfen mussten, um sich ein neues Leben aufzubauen. Zwar waren sie entkommen, was so vielen anderen nicht gelungen war, aber sie hatten Deutschland mit fast nichts verlassen. Und so war Glienicke für meine Familie im Rückblick ein einst geliebter Ort, der ihnen gestohlen wurde und nun in einem verabscheuten Land lag.
Soweit ich mich erinnern kann, mied meine Familie alles Deutsche. Wir kauften keine deutschen Autos, Waschmaschinen oder Kühlschränke. Wir machten überall in Europa Urlaub – in Frankreich, der Schweiz, in Spanien, Italien –, aber niemals in Deutschland. In der Schule lernte ich Spanisch und Französisch, sogar Latein, nur kein Deutsch. Die Älteren – meine Großmutter und mein Großvater, meine Großonkel und -tanten – erzählten kaum von ihrem Leben in Berlin, von den Jahren vor dem Krieg. Dieses Kapitel war abgeschlossen. Sie wollten sich nicht mehr mit der Vergangenheit befassen, sondern konzentrierten sich auf das neue Land. Jeder emotionale Bezug zu ihrem Leben in den 1920ern war abgerissen. Sie wurden britischer als die Briten, sie schickten ihre Kinder auf die besten Schulen und ermutigten sie, Ärzte, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer zu werden.
Als ich älter wurde, begriff ich, dass unsere Beziehung zu Deutschland nicht so schwarz-weiß war, wie man mich glauben gemacht hatte. Mein Großvater weigerte sich vom Tag seiner Ankunft in England an, je wieder ein Wort Deutsch zu sprechen, aber meine Großmutter Elsie pflegte ihr Deutsch. Sie begleitete als Reiseleiterin regelmäßig Busladungen deutscher Touristen durch England und hielt bewusst überschwängliche Lobreden auf Shakespeare, die Magna Charta und das, was sie »British Fair Play« nannte. Durch ihre Erinnerungen, Kommentare und gelegentlichen Witze bekam ich Spuren eines verlorenen Lebens mit.
1993, vier Jahre nach dem Mauerfall, sah ich das Haus zum ersten Mal. Ich war 25 Jahre alt. Zusammen mit Elsie und meinen Cousins und Cousinen unternahm ich damals einen Wochenendtrip nach Deutschland. Endlich war sie bereit, uns die Stadt ihrer Kindheit zu zeigen. Wir, die jüngere Generation, betrachteten es als einen schönen Familienausflug, eine Reise in die Vergangenheit unserer Großmutter. Doch erst während des Flugs nach Berlin begann ich zu verstehen, was diese Reise eigentlich bedeutete – was dieses andere Leben war. Im Flugzeug saßen wir getrennt. Irgendwann stand meine Großmutter auf, kam durch den Gang auf mich zu und setzte sich auf meine Armlehne. »Darling«, sagte sie mit ihrem starken deutschen Akzent, »ich will, dass du das siehst«, und gab mir einen braunen Umschlag. Darin befanden sich zwei olivgrüne Reisepässe aus der Nazizeit, die ihrem Ehemann und ihrem Schwiegervater gehört hatten, sowie ein gelbes Stück Stoff, auf dem ein schwarzes J prangte. Ich wusste, dass die Nazis die Juden gezwungen hatten, solche Kennzeichen zu tragen. Die Botschaft war klar: Das ist meine Geschichte, und das ist deine Geschichte. Vergiss das nicht.
Und ich vergaß es nicht. Als wir wieder in London waren, begann ich Fragen zu stellen – zur Vergangenheit meiner Familie und warum so sorgfältig vermieden wurde, darüber zu sprechen. Mein Interesse war geweckt und es sollte nie mehr nachlassen. Deshalb buchte ich zwei Jahrzehnte später einen Flug nach Berlin und kam zurück zum Sommerhaus – um herauszufinden, was mit dem »Seelenort« meiner Großmutter passiert war.
Am nächsten Tag fuhr ich zur Kommunalverwaltung in Potsdam, 20 Minuten südlich von Groß Glienicke. Dort fand ich im Keller des Verwaltungsgebäudes einen Informationsschalter, an dem eine ältere Dame vor ihrem Computer saß. Ich zog meinen Sprachführer heraus und bat stockend um die Grundakte des Hauses. Die Frau erklärte mir, ich bräuchte die Erlaubnis des Eigentümers, um die Dokumente einzusehen. Als ich sagte, dass mein Urgroßvater 1950 gestorben war, zuckte sie bloß mit den Schultern. Ich versuchte, sie zu überreden, und nachdem ich meinen Reisepass und Kreditkarten vorgelegt und einen groben Familienstammbaum aufgezeichnet hatte, gab sie schließlich nach und verschwand in ein Hinterzimmer. Mit einem Bündel Unterlagen tauchte sie nach einiger Zeit wieder auf. Sie tippte mit ihrem Finger auf das oberste Blatt und erklärte, das Haus und das zugehörige Grundstück seien nun Eigentum der Stadt Potsdam. Ich fragte, was das bedeute – was würde aus dem Haus werden? Sie wandte sich wieder ihrem Computer zu, tippte die Parzellennummer ein und drehte den...