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E-Book

Über das Sterben

Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen

AutorGian Domenico Borasio
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783423429900
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Der Tod gehört zum Leben #h3#Schweizer Ausgabe#/h3# Gian Domenico Borasio, einer der führenden Palliativmediziner Europas, steht seit vielen Jahren für eine Medizin am Lebensende, die das Leiden lebensbedrohlich Erkrankter lindert, ihre Lebensqualität und die ihrer Angehörigen verbessern will - statt künstlich den Sterbeprozess zu verlängern. In seinem Buch beschreibt er, was wir heute über das Sterben wissen und welche Mittel und Möglichkeiten wir haben, unsere Angst vor dem Tod zu verringern sowie uns auf das Lebensende vorzubereiten.    Wie das Gesundheitswesen organisiert und geregelt ist, einschließlich der ärztlichen Ausbildung und der Patientenversorgung am Lebensende, unterscheidet sich von Land zu Land. Damit sind auch die Strukturen der Sterbebegleitung in der Schweiz ganz andere als in Deutschland. Das gilt für den Krankenhaussektor wie für den ambulanten Bereich, für die Patientenvertretung und Patientenverfügung sowie für den Umgang mit dem Thema Sterbehilfe. Mit der Nationalen Strategie Palliative Care wurden zudem in der Schweiz seit 2010 grundlegende Impulse für die weitere Entwicklung der Versorgungsstrukturen am Lebensende gesetzt. Um all dem Rechnung zu tragen, legt der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio jetzt eine komplett überarbeitete, auf die Situation in der Schweiz zugeschnittene Ausgabe vor.     

Gian Domenico Borasio, geb. 1962, ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne (Schweiz) und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der Technischen Universität München. Er gilt als einer der führenden Palliativmediziner Europas. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass sich heute jeder Medizinstudent in Deutschland in seiner Ausbildung mit der Begleitung Sterbender und ihrer Familien auseinandersetzen muss. Von 2006 bis 2011 hat er als Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin an der Universität München ein bisher einzigartiges Netzwerk an Professuren geschaffen, das alle Bereiche der physischen, psychosozialen und spirituellen Sterbebegleitung in die Lehre und Forschung integriert. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Borasio durch sein engagiertes Eintreten für ein Gesetz über Patientenverfügungen. 

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Leseprobe

2
Das Lebensende: Wunsch und Wirklichkeit


Bei Vorträgen über das Lebensende frage ich gerne die Zuhörer nach ihren Wunschvorstellungen für ihr eigenes Sterben und bitte sie, sich zwischen folgenden Möglichkeiten zu entscheiden:

  1. einem plötzlichen, unerwarteten Tod aus voller Gesundheit heraus, z. B. durch Herzinfarkt;
  2. einem mittelschnellen Tod durch eine schwere, fortschreitende Erkrankung (z. B. Krebs) über ca. zwei bis drei Jahre hinweg bei klarem Bewusstsein, mit bester Beschwerdelinderung und Palliativbegleitung;
  3. einem langsamen Tod durch eine Demenzerkrankung über einen Zeitraum von acht bis zehn Jahren, auch hier bei bester Pflege und Palliativversorgung.

Die Zuhörer bekommen nur 15 Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen – Sie als Leser dürfen sich gerne etwas mehr Zeit lassen und in Ruhe für sich überlegen, welche Möglichkeit Sie wählen würden und warum. Wenn Sie möchten, können Sie die Gründe für Ihre Entscheidung auch schriftlich niederlegen – Sie werden diese in Kapitel 8 wieder brauchen. Sie können auch überlegen, wie wohl die Mehrheit der Menschen entscheidet. Die Antwort dazu: Etwa zwei Drittel der Menschen entscheiden sich für Alternative 1 (unerwarteter Sekundentod). Das übrige Drittel entscheidet sich fast komplett für Alternative 2 (mittelschneller Tod über zwei bis drei Jahre bei klarem Verstand). Nur vereinzelt entscheiden sich Menschen für Alternative 3, den langsamen Tod durch Demenz.

Das zeigt uns schon sehr gut die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, die dem Leben nun einmal innewohnt und auch vor dem Sterben nicht haltmacht. Alternative 1, die von den meisten Menschen gewünscht wird, ereignet sich tatsächlich nur bei weniger als 5 % der Todesfälle. Alternative 2 betrifft ungefähr 50 bis 60 % der Sterbenden, Alternative 3 (die Demenz) wird in Zukunft für 30 bis 40 % der Todesfälle verantwortlich sein, die Tendenz hier ist deutlich steigend.

Die nächste Frage betrifft den gewünschten Sterbeort. Es ist schon fast eine rhetorische Frage, die man auch umformulieren kann: Wer wünscht sich nicht, zu Hause zu sterben? Das sind immer nur ganz wenige Zuhörer. Passend dazu sagen alle Umfrageergebnisse, dass 73 bis 90 % der Menschen am liebsten zu Hause sterben möchten. Aber dieses Privileg geniesst in der Schweiz nur eine kleine Minderheit. Über 80 % der Todesfälle treten in Spitälern und Pflegeheimen auf (Tabelle 2.1). Der Rest, knapp 20 %, umfasst alle Unfälle und sonstige Todesfälle ausserhalb von Spital und Pflegeheim. Damit lässt sich der Prozentsatz der Todesfälle zu Hause in der Schweiz auf ca. 15 % schätzen. Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Kantonen: Der Anteil der Todesfälle, die sich weder im Spital noch im Pflegeheim ereignen, liegt zwischen 13 % im Tessin und 25 % im Kanton Schwyz, mit zwei Ausnahmen: 38 % im Kanton Schaffhausen und 42 % in Appenzell Innerrhoden.

Tabelle 2.1: Sterbeorte in der Schweiz 2009

Spital

41 %

Pflegeheim

40 %

zu Hause/andere Orte

20 %

Quelle: Bundesamt für Statistik, Nationale Strategie Palliative Care. Aufgrund von Rundungseffekten ist die Summe der Werte grösser als 100 %.

Die nun folgende Frage an das Auditorium lautet: Welcher Faktor ist – nach den vorliegenden wissenschaftlichen Daten – ausschlaggebend für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch in den eigenen vier Wänden sterben kann? Was brauchen wir dafür? Die reflexhafte Antwort ist: viel Geld. Das passt zwar gut in den Wertekanon der modernen Gesellschaft. Aber genauso wie Geld bekanntlich nicht glücklich macht, ist Reichtum keine Garantie für einen Tod zu Hause. Als nächste Antwort kommt oft: gute Ärzte. Das ist schon nicht ganz falsch, wie wir später sehen werden, aber erstens gibt es dazu keine Daten (unter anderem, weil Ärzte sich nicht gerne in gute und schlechte einteilen lassen), und zweitens ist es bisher für den Einzelnen schwierig, diesen Faktor selbst zu beeinflussen (Privatpatient zu sein ist keine Garantie). Die dritte Antwort geht in die richtige Richtung: Familie bzw. Angehörige. Auf die Nachfrage «Welche?» kommt meist die Antwort «Ehepartner». Das hört sich logisch an, aber bei näherem Hinschauen muss man leider feststellen, dass die meisten Sterbenden hochbetagt sind und ihre Ehepartner, soweit noch vorhanden, damit in der Regel auch – keine gute Voraussetzung für eine Pflege zu Hause. Die dann folgende Antwort «Kinder» ist schon besser, bedarf aber einer Präzisierung: «Welche Kinder?» Hier dämmert es dann vor allem den Damen unter den Zuhörern, und sie antworten richtigerweise: Töchter!

Das ist kein trivialer Unterschied. Nach den vorliegenden Daten ist die Wahrscheinlichkeit, von der eigenen Tochter zu Hause gepflegt zu werden, viermal höher, als wenn dies der eigene Sohn tun soll. Gegenüber den Söhnen ist sogar die Wahrscheinlichkeit höher, von der Schwiegertochter gepflegt zu werden, allen Klischees zum Trotz. Es ist also jedem zu raten, als wichtigste Vorsorgemassnahme für das Lebensende mindestens eine, möglichst aber mehrere Töchter zu zeugen (das ist kein Witz). Wem nur Söhne gelingen, der sollte wenigstens die Auswahl der Schwiegertöchter sehr genau überwachen und sich mit ihnen beizeiten gut stellen.

Das grösste Problem bezüglich der Versorgung am Lebensende lässt sich anschaulich darstellen: Es ist der demographische Wandel. Die Abbildung 2.1 zeigt die voraussichtliche Alterspyramide in der Schweiz im Jahr 2050.

Abbildung 2.1: Voraussichtliche Altersverteilung in der Schweiz im Jahr 2050.
Quelle: Bundesamt für Statistik

Auch die weniger Geometriebegabten, einschliesslich des Verfassers dieser Zeilen, erkennen sofort, dass diese Altersverteilung mit einer Pyramide wenig gemein hat: Es fehlt die Basis. Es fehlen die nicht gezeugten Kinder, und diese lassen sich auch nicht «nach»zeugen, sondern sind einfach nicht da. Die Schweiz liegt mit ihrer Geburtenrate seit Jahren weltweit im untersten Bereich.1 Die Gesamtfruchtbarkeitsrate stagniert bei etwa 1,5 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter (1,53 in 2012). Das ist weit unterhalb des Reproduktionsniveaus, das notwendig wäre, um die Bevölkerungszahlen konstant zu halten. Dieses ist in den Industrieländern erreicht, wenn jede Frau im Durchschnitt 2,1 Kinder zur Welt bringt. Die Folgen werden wir alle noch zu spüren bekommen, zumal sich die Zahl der Todesfälle in der Schweiz von heute ca. 60 000 in 20 Jahren auf ca. 80 000 erhöhen wird.

Mit ihrem fachspezifischen Humor haben die Demographie-Forscher auch die zukünftige Form der Altersverteilung umbenannt: Sie sprechen nicht mehr von «Pyramide», sondern von der «Urnenform». Das ist insofern interessant, als für viele von uns das Jahr 2050 einen Zeitpunkt markiert, um welchen herum wir uns von der abgebildeten Urne in die nächste Urne werden verabschieden müssen. Womit wir wieder beim Thema wären. Schauen wir uns die in Frage stehenden Sterbeorte etwas näher an.

Spitäler


Vier von zehn Todesfällen (41 %) ereignen sich in der Schweiz in Spitälern (die Spanne geht von 22 % in Schaffhausen bis 53 % in Genf). Daran wird sich auch auf absehbare Zeit wenig ändern, wenngleich mit der Einführung erster mobiler Palliativdienste (siehe Kapitel 3) ein wichtiger Schritt getan wurde, um möglichst vielen Schwerstkranken ein Sterben zu Hause zu ermöglichen. Schweizer Spitäler haben im internationalen Vergleich einen sehr guten Ruf, die Qualität der medizinischen Versorgung gehört anhand der verfügbaren Statistiken zu den besten der Welt. Allerdings beziehen sich diese Statistiken auf objektive Parameter wie beispielsweise Säuglingssterblichkeit oder Sterberate nach Operationen. Die Qualität der Betreuung Sterbender ist dabei nicht berücksichtigt.

Tatsache ist, dass in Schweizer Spitälern ein sterbender Mensch immer noch häufig als eine Art «Betriebsstörung» gesehen wird. Die Häufigkeit und Dauer der Visiten verringern sich, und nach dem Tod wird der Leichnam nicht selten ganz rasch in einen Kellerraum überführt, ohne dass ein würdiges Abschiednehmen seitens der Angehörigen möglich ist – das Bett wird ja schliesslich gebraucht.

Glücklicherweise findet in immer mehr Spitälern mittlerweile ein Umdenken statt, auch dank der Zunahme palliativmedizinischer Einrichtungen. Allmählich entsteht eine neue Kultur der Abschiedsräume, in denen Angehörige und Freunde sich auf gute Art und Weise vom Verstorbenen verabschieden können.

Intensivstationen


Ein hoher Anteil der Sterbefälle findet auf Intensivstationen statt. Hier ist die Diskrepanz zwischen heilungsorientiertem (kurativem) und sterbebegleitendem Ansatz besonders gross. Die Fortschritte der modernen Intensivmedizin haben vielen Menschen das Leben gerettet. Trotzdem hat die Vorstellung, auf einer Intensivstation sterben zu...

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