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E-Book

Sonderpädagogik in der Regelschule

Konzepte - Forschung - Praxis

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl354 Seiten
ISBN9783170295001
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
In der Grundschule erfolgen die entscheidenden Weichenstellungen für die weitere Schullaufbahn unserer Kinder. Die PISA-Studie hat dem deutschen Bildungssystem jedoch bescheinigt, bei der Förderung schwächerer Schüler besonders wenig erfolgreich zu sein. Zeigen Kinder Leistungsprobleme, so passen gängige Fördermethoden oft nicht. Dieses Buch möchte für Eltern, Lehrer und Therapeuten Lösungswege aufzeigen. Unter dem Motto 'Lernen muss erfolgreich sein!' werden für den Erwerb der Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und Rechtschreibung auf der Basis lernpsychologischer und neurowissenschaftlicher Forschungserkenntnisse einfache und effektive Strategien und Methoden für den täglichen Gebrauch vorgestellt.

Prof. Dr. Manfred Wittrock lehrt Pädagogik bei Verhaltensstörungen.an der Universität Oldenburg. Prof. Dr. Stephan Ellinger hat den Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen an der Universität Würzburg.

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Leseprobe

Ängstlichkeit als pädagogisches Problem


Roland Stein

1 Einleitung


Lange Zeit standen im Hinblick auf das Spektrum der Verhaltensauffälligkeiten, die in pädagogischen Handlungsfeldern zutage treten, die Phänomene Aggressivität und Gewalt im Vordergrund der Diskussion und der Aufmerksamkeit – sowohl in der Praxis als auch in der Literatur. Das ist vielleicht auch kein Wunder, denn diese Probleme „drängen“ sich den Pädagogen1 auf; sie stellen unvermeidbare pädagogische Herausforderungen dar.

Ängstlichkeit ist aber ein Phänomen, das mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit verdient hat. So zeigt die Metaanalyse von Ihle/Esser (vgl. 2002), in der eine Fülle von seriösen Untersuchungen zur Häufigkeit psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen zusammengefasst wurden, eine Auftretenshäufigkeit (Prävalenz) von durchschnittlich 7 % Angststörungen sowie weiteren 1,5 % depressiven Störungen bei den untersuchten Kindern und Jugendlichen. Damit stellen Angststörungen in dieser Analyse die häufigste Einzelkategorie der Störungen dar. In einer recht jungen Untersuchung von Hartmann/Mutzeck/Fingerle (2003) wurden spezifischer Verhaltensauffälligkeiten an Grundschulen untersucht. Hier ergab sich zwar zum einen nur eine Rate von 3,5 % „internalisierenden“ Auffälligkeiten – allerdings wurden zum anderen 36,2 % der Kinder diesbezüglich in einen Übergangsbereich zwischen unauffällig und auffällig eingeordnet. Ein großer Anteil der untersuchten Kinder kann demzufolge im Hinblick auf ein auffällig internalisierendes Verhalten und Erleben zumindest als gefährdet gelten.

Das Phänomen der Ängstlichkeit ist also recht verbreitet und wird häufiger zu einem – mehr oder weniger klar erkannten – pädagogischen Problem. Mädchen sind tendenziell stärker betroffen, wobei die Unterschiede nicht so klar sind, wie es „alltagspsychologisch“ erscheinen mag (vgl. Ihle/Esser 2002).

2 Grundlagen


Aber inwiefern ist Ängstlichkeit überhaupt ein pädagogisches Problem oder kann dazu werden? Hier gilt es Vorsicht walten zu lassen, denn es geht zunächst um eine, möglicherweise die grundlegende menschliche Emotion: Angst.

2.1 Angst

Angst ist ein durch Abneigung und Unbehagen zu kennzeichnendes Gefühl (vgl. Mayring 1992, 137 f.), das Hackfort/Schwenkmezger (1985, 19) wie folgt definieren:

„Angst ist eine kognitive, emotionale und körperliche Reaktion auf eine Gefahrensituation bzw. auf die Erwartung einer Gefahren- oder Bedrohungssituation. Als kognitive Merkmale sind subjektive Bewertungsprozesse und auf die eigene Person bezogene Gedanken anzuführen ... Emotionales Merkmal ist die als unangenehm erlebte Erregung, die sich auch in physiologischen Veränderungen manifestieren und mit Verhaltensänderungen einhergehen kann.“

Angst ist insbesondere gekennzeichnet durch zwei Erlebniskomponenten: zum einen die Aufgeregtheit („emotionality“) im Sinne einer physiologischen Erregung, zum anderen die Besorgnis („worry“) im Sinne von belastenden, insbesondere zukunftsgerichteten Gedanken. Im Hinblick auf die inhaltlichen Hauptbereiche von Ängsten unterscheidet Schwarzer (vgl. 1993) grundsätzlich zwischen sozialen Ängsten, Leistungsängsten und Existenzängsten – wobei diese bei einem konkreten Angstanlass auch durchmischt auftreten können.

Die Begriffe Angst und Furcht werden häufig synonym verwendet, in der wissenschaftlichen Literatur jedoch teilweise auch unterschieden: Dann bezeichnet Furcht die Reaktion auf konkrete Situationen, während Angst das unangenehme Erleben angesichts von unklaren Situationen und Befürchtungen meint. Diese Unterscheidung geht auf eine bedeutende Arbeit des Philosophen Kierkegaard (vgl. 1996; im Original 1844) zurück.

Schreck wird allgemein üblich als kurzes, stark physiologisch und verhaltensmäßig geprägtes Angstmoment beschrieben, insbesondere eine automatische Reaktion des Zusammenfahrens. Mayring (1992, 146) sieht Schreck eng verbunden mit Überraschung: „Überraschung ist eine kurzfristige emotionale Reaktion auf ein plötzliches, unerwartetes Ereignis. Überraschung und Erstaunen beziehen sich dabei eher auf positive Situationen, Schreck eher auf Bedrohungen.“ Damit sind Überraschung und Schreck evolutionsbiologisch wichtige Orientierungs- und Überlebensreaktionen. Das Erleben ist unterschiedlich: bei der Überraschung eher angenehm, beim Schreck eher unangenehm.

Phobie bezeichnet eine bestimmte Gruppe abnormer Ängste: „Eine Phobie ist eine übertriebene Furcht vor einem bestimmten Objekt oder Ereignis, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende dabei Schaden nimmt, sehr gering ist“ (Levitt 1979, 16). Strian (1996, 41) stellt die Abgrenzung zu anderen abnormen Angstformen heraus: „Objekt- und Situationsphobien sind der Gegenpol zur ‚frei flottierenden‘, spontan auftretenden Angst. Der wesentlichste Unterschied zwischen Phobie und Spontanangst besteht aber weniger im Angsterleben selbst – das in beiden Fällen einer ‚Panikangst‘ entsprechen kann –, sondern in der Auslösung der phobischen Angst durch ganz bestimmte äußere Bedingungen (Objekt- und Situationsangst) gegenüber der des Panikanfalls durch innere Bedingungen.“ Bei der Phobie handelt es sich also um eine immer wieder auftretende, an konkrete Anlässe gebundene, starke Angstreaktion, die aus „objektiver“ Sicht wenig realistisch oder gerechtfertigt ist.

Auch der Terminus Stress ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Als verwandte Begriffe nennt Mayring (vgl. 1992, 177 ff.) Anspannung, Nervosität und Unruhe. Der Stressforscher Selye (1977, 38 f.) definiert das Phänomen wie folgt: „Stress ist die unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Anforderung, die an ihn gestellt wird ... Die unspezifische Forderung, dass etwas zu geschehen hat, ist im ureigensten Sinne Stress“ (im Original tlw. kursiv). Dabei unterscheidet Selye zwischen positivem „Eustress“ und negativem „Distress“: Generell sorgt Stress für eine Aktivierung; man kann Situationen anregender Aktivierung unterscheiden von solchen der Belastung und Überforderung des Organismus. Selyes Verdienst besteht darin, die differentielle Bedeutung des Stresserlebens herausgearbeitet zu haben: Ohne Stress im Sinne der Anregung ist ein Leben nicht vorstellbar. Die vollständige Abwesenheit von Stress würde bedeuten, absolut ungerührt zu sein – der Zustand des Todes. „Selbst wenn wir völlig entspannt sind und schlafen, ist unser Körper noch in gewissem Maße unter Stress“ (ebd., 42). Angst kann als besondere Form von – zumeist – negativem Stress verstanden werden – oder auch Stress als Begleiterscheinung zur Angst. Konzepte von Stress und von Angsterleben gehen Hand in Hand, wie die Theorie von Lazarus (siehe 3.3) zeigt.

Beim Menschen führen als unkontrollierbar erlebte Ereignisse nach Krohne (1996, 281) u. a. zu verstärkter autonomer Erregung, vermehrten negativen Affekten und insbesondere erhöhter Angst. Wenn Situationen immer wieder als unkontrollierbar erlebt werden, also das eigene Handeln nichts bewirkt oder zu bewirken scheint, entwickelt sich Seligman (vgl. 1995) zufolge die Extremform einer erlernten Hilflosigkeit im Sinne eines dreifachen Defizits: motivational (indem nichts mehr oder zuwenig getan wird, die Person also passiv reagiert), kognitiv (indem die Lernfähigkeit für Neues eingeschränkt wird) sowie emotional (in Form einer depressiven Grundstimmung).

Angst als solche ist aber grundsätzlich ein alltägliches Erleben, das jeden Menschen betrifft. Und obgleich das Negative der Angst häufig im Vordergrund des Erlebens steht, hat Angst auch wichtige Funktionen: Sie warnt uns nicht nur in Hinblick auf Gefahrensituationen und dem (falschen, missglückenden) Umgang damit, sondern sie ist ganz allgemein ein „Gradmesser“ des persönlichen Erlebens in einer Situation. Insofern sprechen Lang/Faller (vgl. 1996, 8 f.) auch von einer „fundamentalen Doppelgesichtigkeit“ des Phänomens Angst: Nützlichkeit und Hinderlichkeit. Diesem Phänomen wohnt allerdings noch eine zweite „Doppelgesichtigkeit“ inne: Auf der einen Seite stehen negative Affekte, etwas Unangenehmes, bisweilen Schreckliches, das es zu vermeiden oder zu bekämpfen gilt – auf der anderen Seite gibt es auch den Reiz der Angst, den Nervenkitzel. So schauen sich Menschen Horrorfilme an, lassen sich auf „Bunjee Jumping“ ein – und Jugendliche wagen sich an gefährliche Autorennen oder „S-Bahn-Surfen“. In diesem Sinne kann Angst auch Aspekte von „Eustress“ beinhalten.

Angst ist letztlich ein „Konstrukt“: eine abstrakte Kategorie, die nur anhand konkreter Indizien „dingfest“ gemacht werden kann. Wesentliche dieser Ebenen oder Bereiche, in denen sich Angst manifestiert, sind die Folgenden:

  • physiologische Ebene: beispielsweise Veränderungen des Blutdrucks, der Herzschlagrate oder des Hautwiderstands, Schwitzen oder Erröten
  • motorische/Verhaltens-Ebene: beispielsweise sich zu ducken oder zu fliehen
  • Ausdrucksebene: Körperhaltung, Stimme, Gestik oder Mimik
  • sprachliche Ebene: direkte oder indirekte Aussagen über die eigene Angst
  • subjektiv-emotionale Ebene: das ganz individuelle Erleben von Angst.

Hinter diesen konkreten Indizien des Verhaltens und Erlebens steht das, was als Angst bezeichnet wird, ein Gesamtkomplex, ein Phänomen, das nur über diese konkretisierten Ebenen erfassbar wird.

2.2...

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