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E-Book

Sonja 'negativ - dekadent'

Eine rebellische Jugend in der DDR

AutorSilke Kettelhake
VerlagOsburg Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783955100490
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Abhängigkeiten und Macht, vom Schrei nach Freiheit - mundtot gemacht im Zusammenschluss von Staat und Familie. Rostock, Mai 1968: Wir saßen hier fest. We're not going to San Francisco, some flowers in our hair. Während in Paris, Berlin, Warschau die Straßen brannten, waren wir als Gammler verschrien und im Visier von Volkspolizei und MfS´. Parka, Jeans, lange Haare und den Beat aus dem Kofferradio dabei, die 16-jährige Sonja und ihre Freunde halten in den Händen ein Transparent, nicht mehr als ein Stück Pappe: `Russen raus aus der CSSR!´ Sie lachen. Sind lebensdurstig und leichtgläubig. Überschätzen sich, unterschätzen die Staatsmacht. Sonja wird verhaftet. Ihre Strafe: Jugendwerkhof Torgau, geschlossene Abteilung. 1989: Das Ende der DDR. Freiheit! Mit den Jahren holt die Vergangenheit Sonja immer wieder ein, die Bespitzelungen, Denunziationen, Demütigungen. Wer sind die Täter? Sonja fasst einen Entschluss: Die Ereignisse von damals müssen ans Licht. Sie beginnt zu erzählen.

Silke Kettelhake, freie Journalistin für Tageszeitungen und Magazine, war zehn Jahre in einer Filmredaktion im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung tätig. 2008 veröffentlichte sie unter dem Titel `Erzähl allen, allen von mir!´ die erste Biografie zu Libertas Schulze- Boysen. 2010 erschien im Osburg Verlag `Renée Sintenis. Berlin, Boheme und Ringelnatz´. 2012 veröffentlichte sie bei Droemer `Mutter Corsage, die Lebensgeschichte einer Berliner Miederwarenverkäuferin´. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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Leseprobe

Im Laufrad


Mit der Präzision eines Uhrwerks verschloss Mutter die Wohnungstür. Einmal, zweimal knarzte der Schlüssel, mit einem leichten Klirren zog sie ihn ab. Das war getan. Alles lag abgeschlossen. Die Speisekammer, ihr Schlafzimmer mit dem dreifach verspiegelten Frisiertischchen, der Bücherschrank im Wohnzimmer. Das Bad war ihre letzte Station, bevor sie ging. Konturenkontrolle, Lidstrich, Lippenstift, passend, perfekt. Ich war fünf Jahre alt. Manchmal tätschelte sie mir beiläufig, als hätte sie mich ganz vergessen und erinnere sich nun wieder an meine Existenz, über den Kopf. Oder legte mir die Hand auf die Wange, um zu sehen, ob sie passt. Ob die Ohrfeige auf die Wange passt. In Gedanken nannte ich sie immer Mutter, denn eine Koseform wie Mami oder Mutti wäre ihr nicht gerecht geworden. Um die peinliche Anrede drückte ich mich. Hart war sie in ihren Ansprüchen, hart gegen sich selbst. Und hart gegen mich. Eine Perfektionistin mit kampflustig ausgerupften Augenbrauen, die sie viel zu hoch, kurz vor dem Haaransatz, zurück auf die Stirn malte. Allmorgendlich torpedierte sie sich mit dem Klappern der Brennschere in den vergangenen Chic der vierziger Jahre. Mitte der Fünfziger trug sie ihr Haar immer noch im Stil von Zarah Leander.

Das Ritsch-Ratsch des Reißverschlusses ihrer Handtasche blieb mir als ihr durch die Stille tönender Startschuss haften. Ich lauschte dem sich entfernenden Stakkato ihrer Schritte im Treppenhaus, sah ihren weit schwingenden Rock mit den gelben Monden auf dem Schwarz sie wie eine aufblühende Blume umfangen, sah, wie sie auf die Sekunde genau in den noch wartenden Bus sprang, der sie verschluckte und von mir wegtrug. Häuserdächer und Lindenbäume, unbunt, farblos, lichtleer in der Erinnerung. Der Stoff für ihre Kleider kam aus dem Westen. Ihre Schwester ging. Ihr Mann ging. Seine Brüder, seine Eltern gingen. Jedes Jahr zu meinem Geburtstag am 4. März fing Lore die Westpakete meines Vaters ab und sandte sie zurück. Ich bekam seine Geschenke nie zu Gesicht. Nur ihre Eltern blieben hier. Hatten doch alles verloren im Krieg, das Haus mit dem Personal, die Offiziersstellung, alles war hin. Den Alten fehlte die Kraft, die Kraft zum neuen Leben.

Mutter war fort. Und ich, ihr verhasster, magerer Kobold mit den großen, braunen Augen, die sie täglich an meinen Vater erinnerten, wusch ihre Strümpfe. Tagtäglich hatte sie das Bild der Schande vor Augen. Die Erinnerung an den Mann, der sie hat sitzen lassen. Sein Lachen, sein Rufen, sein Eigenwillen, alles in mir. Wir hatten diese schicke Wohnung mit Balkon im vierten Stock, und es wurde gemunkelt, Protektion von ganz oben. Woanders saßen sie im Winter alle zusammen in der Küche, um Koks zu sparen. Flüchtlinge, alles verloren, die zitternden Hände an den Schläfen, gebeugt auf Leiterwagen, und die Tiefflieger kamen. Man hockte zusammen und teilte. Gas gab es immer nur wenige Stunden, kaum war Druck – und die Suppe wurde wieder nicht fertig. Das war bei uns anders. Eine junge Frau, alleinstehend, in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Gasheizung, das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Kohlenschleppen war bei uns passé. Arbeit hatte sie ja, Chemikerin an der Universität Rostock, „Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit.“1 Gelernt hatte Leonore Katerina Thümmel, alleinerziehend, Jahrgang 1926 und eigentlich ist sie eine „von“, an der Deutschen Versuchsanstalt und Fachschule für Lederindustrie in Freiberg, mit dem Abschluss Chemotechnikerin. Sofort fand sie Anstellung im Metallhütteninstitut der Bergakademie Freiberg, wurde vom Arbeitsdienst freigestellt, kriegswichtiger Forschungsauftrag. Die Bergwerksakademie war einbezogen in die Planungen etwa des Reichsluftfahrtministeriums.2 Radium und Uran galten plötzlich als die kostbarsten Güter der Welt. Geforscht wurde für das alles verzehrende, mäandernde Monstrum des Krieges. Als eine der wenigen weiblichen Studenten fuhr Leonore ein in die „Reiche Zeche“ und in die „Alte Elisabeth“. Das Leben unter Tage ohne Licht, nur mit den Geräuschen, die im Bauch des Berges geboren wurden, gehörte zu ihr wie der Glaube an den Endsieg. Sie wusste, dass der Endsieg eine Lüge war, doch für Lore gab diese Lüge einen Sinn.

Ihre Eltern besaßen Geld. Geld, das es ihnen erlaubte, in einem doppelstöckigen Haus in Leipzig-Leutzsch zu residieren. Es ging ihnen gut, so, wie es ihnen zustand. Das Auto und der Chauffeur waren eine Selbstverständlichkeit. Ausgebombt waren die anderen. Sechs Jahre lang kam der Vater auf Heimaturlaub, sonst gehörte er dem Krieg. Mutter und ihre Schwester Ursel erhielten Klavier- und Geigenunterricht und ihr Hausmädchen sprach ein wenig Französisch, weil es einmal in Berlin gearbeitet hatte. Für einen Schauspieler. Das waren die Geschichten, ungeheuer elegant, noblesse oblige, lächelte Oma. Die Erinnerung wie ein Vorhang aus einer anderen Welt. Wir saßen in ihrem hell tapezierten Salon mit den Regalen voller Glastiere, in deren filigranen Beinchen sich das Licht brach, da waren die auf Glanz polierten Blätter der Gummibäume, das Chinesenporzellan und der rahmenverbrämte Spiegel. Hier hatten Mutter und ihre Schwester in die blaue Stunde eines jeden frühen Abends hinein musiziert, und Oma erzählte von den Ausritten und den Sonntagsausfahrten durch die sanft hügelige Landschaft. Von Rinderbrust mit Meerrettichsoße, schweigend vorgelegt. Bei Tisch nur ein leises Klingen des täglich polierten Silberbestecks am Meißner Porzellan. Die Kinder durften nicht sprechen und vom Teller wurde aufgegessen, egal was es gab.

Auch wenn Mutter und ich nur zu zweit waren, immer aßen wir mit Silberbesteck und Damasttischdecke. Den Kopf hatte ich über den Teller gesenkt, um Mutters missbilligendem Blick nicht zu begegnen. Halte! Dich! Gerade! Bei Tisch klemmte mir Mutter den Stiel des Schrubbers hinter den Rücken, damit ich endlich aufrecht saß. Die Arme eng an den Körper geklemmt, starrte ich für volle drei Tage auf die mit Hackfleisch gefüllten Paprikaschoten, die ich partout nicht mochte. Gegen den Hunger trank ich literweise Wasser aus dem Hahn, bis sich mein Bauch wölbte wie der einer Hochschwangeren. Die Paprika, deren oberer Rand sich rötlich-braun wellte, die starb und trocknete wie ein totes Organ, rührte ich nicht an. Keinen Bissen würde ich hinunterbringen. Nimm die Gabel in die Hand. Die Gabel. Mit der flachen Hand schlug Mutter auf den Tisch. Die Teller bebten. Du isst. Jetzt. Ich beugte den Kopf, weil mein böses Lächeln kam. Es kitzelte die Mundwinkel, kitzelte, bis sie sich nach oben zogen, obwohl ich mir fest auf die eingesaugten Wangen biss. Lachen stieg in mir auf, unaufhaltsam, es hielt mich fest im Griff und schüttelte mich. Atemnot, unterdrücktes Prusten ließ mich rot anlaufen. Du lachst noch. Warte nur, dir wird das Lachen schon vergehen. Sollst sehen, was Hunger ist. Dir geht es doch viel zu gut. Ich in deinem Alter, das hätte ich mir mal erlauben sollen. Du weißt doch gar nicht, wie gut du es hast. Respekt fehlt dir. Frolleinchen, dir werd ich helfen. Wer geht denn hier Tag für Tag arbeiten? Wer? Sie wollte keine Antworten. Morgens bekam ich kein Brettchen, wie das, auf dem sich Mutter ihre zwei Brotscheiben mit Butter bestrich, sie mit Marmelade versüßte und viertelte, morgens bekam ich Paprika, mittags den weißen Goldrandteller mit der Paprika, abends. Bis Mutter nach drei Tagen klein beigab. Dieses eine Mal. Das Sprechen bei Tisch war mir strengstens verboten, ganz wie in den alten Romanen.

Seit ich vier Jahre alt war, hängte Mutter mir ein Pappschild um den Hals mit meinem Namen, mit ihrer Adresse und der ihrer Eltern, dann ging sie in kurzen, eiligen Schritten mit mir zum Bahnhof, gab dem Bahnpersonal ihre Weisungen – Mutter war schlecht im Bitten – und der Interzonenzug brachte mich von Rostock nach Leipzig. In diesem deutsch-deutschen Reisezug, Rostock–München über Leipzigs Sackgassenbahnhof, fuhren viele aus dem Westen und nur manche mit einer Ausreisegenehmigung aus dem Osten. Kontrolliert wurden Reisende und Gepäck von den Genossen der Transportpolizei, unterstellt dem Ministerium für Staatssicherheit. Immer rutschten ihnen die Gewehre vom Rücken, wenn sie sich bücken mussten, und in der Steifheit ihrer Uniformen bewegten sie sich einförmig wie mein Aufziehaffe mit der Trommel, der immer nur eine Bewegung kannte. Für mich gab es geschälte Apfelsinen und Eckchen Schokolade und Buntstifte und Plastikautos und manchmal ein kleines quadratisches Buch. Das hieß Pixi-Buch und es ging darin um Petzi, Pelle, Pingo, Seebär, Schildkröte und Papagei. Petzi war der Anführer mit den guten Ideen, die anderen die Gefolgsleute, die willfährig jeden Blödsinn mitmachten.

Leonore Siberg mit ihrer Tochter Sonja

Manchmal hüpfte ich Schdobblhobbser, hallwe Borrdzschon, an der Hand meiner Thümmel-Oma durch die Straßen Leipzigs – ich höre noch ihr silbernes Armband mit den Maiglöckchen klingen, ein Freundschaftsarmband, das sie immer noch mit ihrer besten Kinderfreundin teilte – und wir wurden von ihrem ehemaligen Personal gegrüßt, das mittlerweile ganz anderen Herren gehorchen musste. Meine Großeltern wollten ihren Besitz, ihr Haus nicht verlassen. Also saßen sie und wir im Osten fest. Doch das große Haus mit dem weitläufigen Garten, die dazugehörenden Ställe, alles gehörte nun dem Staat. Den Großeltern blieben nur wenige Zimmer, darunter der Salon mit dem Erkerchen und der Kissenbank. Alles drum herum verfiel, niemand fühlte sich zuständig. Schon ließ sich ablesen, woran die DDR krankte, und das machte meine Oma ganz kümmerlich. Die dort nun sonst in ihrem Haus Einquartierten waren Flüchtlinge, offiziell Umsiedler. Glück nur, dass Opa nicht ins Gefängnis oder ins Lager gesteckt wurde. Oder...

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