1.2 Sozialisationstheorie
In dem vorangegangenen Abschnitt wurde der Gegenstandsbereich ‹Sozialisation› so abgegrenzt und strukturiert, dass er wissenschaftlich bearbeitbar erscheint. Darüber hinaus wurde verdeutlicht, welche Implikationen über das Subjekt-Umwelt-Verhältnis sich mit dem Sozialisationsbegriff verbinden. Aufgrund dieser Überlegungen konnten bereits Anforderungen an eine Sozialisationstheorie formuliert werden: Sie habe das Verhältnis zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zu erklären, müsse systematisch die ontogenetische Dimension des Lebenslaufs berücksichtigen und soll von einem aktiv aneignenden Subjekt ausgehen. Nun sind solche Anforderungen an eine Sozialisationstheorie im Grunde zu früh gestellt; denn zunächst muss erläutert werden, was denn unter einer Theorie verstanden werden soll, wie sie erstellt werden kann, was sie leisten soll. Mit anderen Worten: Nachdem erläutert wurde, was unter Sozialisation zu verstehen ist, gilt es nun, in ähnlicher Weise den Theoriebegriff zu klären. Das Zusammenfügen beider Überlegungen soll dann zu einem hinreichenden Vorverständnis darüber führen, was Sozialisationstheorien sind und was sie leisten können.
Auf die Frage, was denn eine Sozialisationstheorie ist, lässt sich eine erste und nur sehr vorläufige Antwort formulieren: Weil Sozialisation weder unmittelbar sinnlich fassbar noch dinglich greifbar ist, kann man darüber nur nachdenken und reden, wenn man sich begriffliche Vorstellungen macht, die zugleich bildhaft und abstrakt sind (vgl. Hurrelmann 2002, S. 155). Solche Vorstellungen lassen sich als Modelle bezeichnen; sie gehen von Erfahrungen aus und formulieren in verallgemeinernden Begriffen Erkenntnisse, die sich auf die gesellschaftliche Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung beziehen. Jedem von uns sind alltagssprachliche Aussagen bekannt, in denen solche modellhaften Vorstellungen auftauchen: «Die Jugend heute will sich nicht mehr anstrengen.» – «Zu viel Fernsehen schadet der Konzentrationsfähigkeit.» Derartige Aussagen von Alltagserfahrungen sind nicht gemeint, wenn von einer Theorie gesprochen wird. Zwar sind solche Verallgemeinerungen nie ganz falsch, aber immer willkürlich und beliebig, oft einseitig und daher kurzschlüssig. Im Kontrast dazu ist an wissenschaftliche Theorien der Anspruch zu stellen, dass dort die Begriffs- und Modellbildung in systematischer, kritischer und nachvollziehbarer Weise erfolgt. In einer ersten Annäherung lässt sich somit eine Theorie als ein nach wissenschaftlichen Prinzipien erstelltes Aussagesystem bezeichnen. Eine Sozialisationstheorie ist demnach ein wissenschaftliches Aussagesystem, das sich mit dem (zuvor definierten) Gegenstandsbereich Sozialisation befasst.
Mit dieser Formulierung ist das angesprochene Problem aber keinesfalls gelöst, sondern lediglich verschoben; denn erst jetzt stellt sich die Frage, wann ein Aussagesystem als ‹wissenschaftlich› gelten kann und daher als Theorie bezeichnet werden darf. Indem wir in solche Überlegungen eintreten, wird die Theorie zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht: Wir denken nicht mehr über einen Ausschnitt der sozialen Realität (Sozialisation) nach, sondern reflektieren jetzt über Theorien über soziale Realität. Ein solches Denken wird als metatheoretisch bezeichnet. Es ist an dieser Stelle hilfreich, die verschiedenen Ebenen des Theoretisierens präzise auseinanderzuhalten: Wir haben es mit einer Objektebene zu tun, den real ablaufenden Sozialisationsprozessen. Darüber gelagert ist die Ebene der Objekttheorie: ein strukturiertes Gefüge von Aussagen über den Gegenstandsbereich, das als Sozialisationstheorie bezeichnet wird. Welche Kriterien eine solche Objekttheorie erfüllen muss, ist ein Problem der Metatheorie.
Die Frage nach den wissenschaftlichen Regeln und den damit verbundenen Ansprüchen an eine Theorie ist ein metatheoretisches Problem. Wir betreten das Gebiet der Wissenschaftstheorie, in dem über logische und methodische Grundlagen von wissenschaftlichen Theorien und Vorgehensweisen nachgedacht wird. Der Ort unserer Frage lässt sich somit genau bestimmen, die Antwort dagegen ist äußerst schwierig zu geben; denn im Unterschied etwa zur Physik2 gibt es in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften keine Einigkeit über ein gemeinsames wissenschaftstheoretisches Grundkonzept. Im Gegenteil, unterschiedliche Wissenschaftsauffassungen konkurrieren miteinander oder bekämpfen sich sogar. Die Vorgehensweise bei der Theoriebildung, die der eine Wissenschaftler für richtig und einzig sinnvoll hält, kann von einem anderen als völlig falsch, nutzlos oder gar schädlich angesehen werden. Dieser Streit ist kein aktueller, sondern begleitet Psychologie, Soziologie und Pädagogik (und damit auch die Sozialisationstheorie) seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Er ist eng verknüpft mit der Entstehung bestimmter theoretischer Grundparadigmen (Psychoanalyse, Behaviorismus, Marxismus etc.), die jeweils ihre eigenen metatheoretischen ‹Überzeugungen› und damit ihre spezielle Vorstellung von Aufbau und Funktion einer Theorie haben. Metatheoretisch strittig sind dabei vor allem die folgenden Fragen:
Wie lassen sich Erkenntnisse über soziale Wirklichkeit gewinnen? Was wird als ‹Datengrundlage› akzeptiert, was nicht?
Wie lassen sich Verallgemeinerungen vollziehen? Wann gilt eine theoretische Aussage als hinreichend abgesichert?
Ist es notwendig, ist es erlaubt, Wertungen und normative Setzungen in den Forschungs- und Theoriebildungsprozess einzubringen?
Welches Erkenntnisinteresse fließt in Forschung und Theoriebildung ein, welches gesellschaftliche Interesse soll (darf) damit verfolgt werden?
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auch nur annähernd auf diese wissenschaftstheoretischen Probleme im Einzelnen einzugehen (vgl. dazu Geulen/Veith 2004). Hier soll lediglich an einem Beispiel verdeutlicht werden, wie unterschiedlich die angesprochenen Fragen beantwortet werden können.
1.2.1 Zur Theoriediskussion in den Sozialwissenschaften
Eine der bekanntesten – und nach wie vor bedeutsamsten – metatheoretischen Auseinandersetzungen um die Anforderungen an sozialwissenschaftliche Theoriebildung ist der «Positivismusstreit in der deutschen Soziologie» (vgl. Adorno u. a. 1972). Die eine Position in diesem Streit wird von den Sozialwissenschaftlern eingenommen, die sich dem positivistischen Wissenschaftsprogramm des Kritischen Rationalismus verpflichtet fühlen (vor allem Popper, Albert). Dieses metatheoretische Konzept ist auch für die Sozialisationsforschung von erheblicher Bedeutung (vgl. Beer/Bittlingmayer 2008, S. 63 f.), weil einige der noch zu behandelnden Basistheorien (behavioristische Lerntheorie, struktur-funktionale Rollentheorie) sich eng daran orientieren. Die andere Position im Positivismusstreit wird von den Vertretern der Kritischen Theorie (vor allem Horkheimer, Adorno, Habermas) eingenommen. Auch dieses metatheoretische Konzept ist von erheblicher Bedeutung, weil es vor allem in interaktionistische und materialistische Sozialisationskonzepte Eingang gefunden hat.
Im Kritischen Rationalismus ist die Forschung vor allem auf die Ermittlung und Analyse von beobachtbaren Fakten, Ereignissen und Sachverhaltenangelegt. Eine solche wissenschaftstheoretische Grundhaltung, die davon ausgeht, die Quelle aller Erkenntnis seien allein die durch Beobachtung des Gegebenen gewonnenen ‹positiven› Tatsachen, wird seit Comte (1798 – 1857) als Positivismus bezeichnet (vgl. Klaus/Buhr 1971, S. 856 f.). Positivistische Forschung der Gegenwart ist im strengen Sinn empirisch-statistisch angelegt, sie beginnt bei der Operationalisierung von Begriffen und der Formulierung von Hypothesen. Mit kontrollierten Messverfahren (z. B. Fragebogen, Verhaltensbeobachtungen) werden solche Hypothesen auf ihre Übereinstimmung mit der beobachtbaren Wirklichkeit getestet. Auf diese Weise entstehen als gesichert geltende Teilerkenntnisse, die auch als empirische Gesetze bezeichnet werden. Davon ausgehend wird als Theorie eine Menge von Gesetzen bezeichnet, die durch logische Ableitbarkeitsbeziehungen miteinander verbunden sind (vgl. Friedrichs 1983, S. 60 ff.). Ein solches empirisches Gesetz – und damit die Teilaussage einer positivistischen Sozialisationstheorie – könnte z. B. lauten: «Je größer der Alkoholkonsum in einer Familie ist, desto häufiger treten bei den Kindern Verhaltensstörungen auf.» Und weiter: «Je länger bei Erwachsenen Arbeitslosigkeit andauert, desto größer ist der Alkoholkonsum.» In diesem Sinn besteht eine Theorie aus einer Vielzahl von Sätzen, die ständig durch Forschung an der Erfahrung geprüft, d. h. entweder vorläufig angenommen oder aber falsifiziert (als falsch zurückgewiesen) werden. Diese Forschungs- und Theoriearbeit zielt darauf ab, mit der Zeit immer mehr empirische Gesetze zusammenzufügen und damit immer größere Bereiche der sozialen Realität abzubilden. Die Erarbeitung einer allgemeinen Theorie der Sozialisation scheint auf diesem Wege möglich. Ihre wissenschaftliche Erstellung ist an das Postulat der Werturteilsfreiheit geknüpft: Über den Gegenstandsbereich...