KEINE ANGST VOR GROSSEN ZAHLEN
ODER
SECHS MOLEKÜLE VON GOETHE
«Die Mathematik als Fachgebiet ist so ernst, dass man keine Gelegenheit versäumen sollte, sie unterhaltsamer zu gestalten.»
Blaise Pascal (1623 – 1662)
«Mehr Licht!», soll Johann Wolfgang von Goethe gesagt haben, bevor er seinen letzten Atemzug tat. Dann entschlief der große deutsche Dichter.
Der letzte Atemzug Goethes – gewiss ein kostbarer Hauch für eingefleischte Fans des Geheimrats (und vielleicht eine unappetitliche Vorstellung für andere). Aber wo ist er hin? Ist in der Luft, die wir hier und heute in unsere Lungen ziehen, ein Molekül enthalten, das Goethe einmal ausgeatmet hat? Vielleicht sogar eines aus diesem einen, letzten Atemzug?
Man kann über so eine Frage ins Philosophieren verfallen. Oder aber ins Rechnen. Die wenigsten Leute kommen auf die letztere Idee – dabei ist die Sache gar nicht so schwierig, wenn man ein paar grundlegende Zahlenwerte kennt.
Manche erinnern sich vielleicht noch aus der Schule an die Einheit «Mol». Ein Mol eines Stoffes ist eine Menge von 6 · 1023 Molekülen. Also 600 000 000 000 000 000 000 000 Moleküle. Solche Einheiten braucht man im Umgang mit diesen winzigen Bausteinen der Materie.
Für Gase aller Art gilt: Bei normalem atmosphärischem Druck hat ein Mol des Gases ein Volumen von etwa 25 Litern. Ein Atemzug – zum Beispiel der letzte von Goethe – hat etwa ein Volumen von einem Liter, enthält also ein fünfundzwanzigstel Mol oder 2,4 · 1022 Moleküle. Wir atmen im Durchschnitt vielleicht 20-mal pro Minute, das macht in 83 Jahren (so alt wurde Goethe) 20 · 60 · 24 · 365 · 83 = 872 496 000 Atemzüge – oder aber 2 · 1031 Moleküle. (Hier steckt schon mal eine grobe Vereinfachung drin: Sicher hat Goethe eine Menge der Moleküle zweimal ein- und ausgeatmet, insbesondere wenn nachts das Fenster geschlossen war).
Man kann davon ausgehen, dass sich die Luft in unserer Atmosphäre seit Goethes Tod sehr gut durchmischt hat und deshalb in jedem Liter Luft etwa gleich viele Goethe-Moleküle enthalten sind. Wie viel Luft enthält die Atmosphäre? Ihre Masse, das habe ich irgendwo nachgelesen, beträgt 5 · 1021 Gramm. Ein Mol Luft wiegt etwa 30 Gramm. Das macht also 5 · 1021: 30 = 1,7 · 1020 Mol Luft – oder auch die unvorstellbar große Zahl von 1044 Molekülen.
Nun haben wir alle Zahlen zusammen für die finale Rechnung: Wir dividieren die Zahl aller Luftmoleküle durch die Zahl der Goethe-Moleküle und erhalten: Eines von 5 · 1012 (oder 5 Billionen) Luftmolekülen hat Goethe irgendwann mal geatmet, eines von 4 · 1021 Molekülen war sogar in jenem letzten Atemzug. Da wir, wie schon Goethe, mit jedem Atemzug 2,4 · 1022 Moleküle einatmen, sind darunter im Durchschnitt 5 Milliarden Moleküle, die Goethe irgendwann einmal geatmet hat – und 6 Moleküle aus dem Atemzug, mit dem der Dichter sein Leben aushauchte. Im Durchschnitt. Auf ähnliche Weise kann man übrigens die Zahl der Moleküle in einem Glas Wasser berechnen, die irgendwann einmal durch Goethes Körper gegangen sind.
Sechs Moleküle aus Goethes letztem Hauch in jedem Liter Luft, den wir einatmen! Da atmet man gleich sehr viel ehrfürchtiger. Zwar ist die ganze Rechnung eine ziemliche Spinnerei. Ich habe sehr grobe Schätzungen vorgenommen und das Ergebnis bei jedem Schritt großzügig auf- oder abgerundet. Aber darum geht es gar nicht. Gefragt war hier nach der Größenordnung: Ob es plausibel ist, dass wir ständig Goethe-Moleküle einatmen. Und das ist es offenbar – egal ob es nun 6 sind oder 2 oder 20.
Die Fragestellung ist natürlich völlig irrelevant, aber die Beschäftigung mit solchen Zahlen gibt uns ein Gefühl für Größenordnungen. Und ein solches Gefühl zu haben ist wichtig, spätestens wenn es um Geld geht: Es ist eben nicht egal, ob man 100 oder 10 000 Euro ausgibt. Wir hatten einmal einen Wirtschaftsminister, der auf die Frage eines Reporters, wie viele Nullen eine Milliarde hat, raten musste: «Ach du lieber Gott! Sieben? Acht?» Es sind neun, Herr Bangemann!
Nun kann es jedem einmal die Sprache verschlagen, wenn er plötzlich eine Fernsehkamera oder ein Mikrofon auf sich gerichtet sieht. Ein bisschen Bedenkzeit muss schon erlaubt sein. Aber vielen Politikern muss man leider zutrauen, dass sie es tatsächlich nicht wissen. Und trotzdem täglich über Beträge mit sieben, acht oder neun Nullen entscheiden.
Auch wenn wir ständig in den Nachrichten mit Berichten über Milliarden-Beträge überschüttet werden – ein richtiges Gefühl dafür, wie groß so eine Milliarde ist, haben die wenigsten Menschen. Psychologen haben das Verhältnis der Menschen zum Geld untersucht und festgestellt, dass sie bis etwa 500 000 (damals waren es noch D-Mark) noch eine sinnliche Vorstellung von der Höhe der Beträge haben («Eigenheim» antworten sie auf die Frage, was man dafür kaufen kann), aber dann hört es auf. Ein Minister mag dafür kämpfen, in diesem Jahr einen Etat von 21 Milliarden Euro zu bekommen, weil es letztes Jahr 20 Milliarden waren – aber ob er sich den Betrag wirklich vorstellen kann, darf man getrost bezweifeln.
Aber auch wenn große Zahlen das sinnlich Fassbare oft übersteigen, ist es nicht nur für Minister sinnvoll, den Umgang mit ihnen zu üben, um sie auf Plausibilität überprüfen zu können, indem man sie mit anderen, bekannten Größen vergleicht. Das Rechnen mit ihnen ist eigentlich genauso einfach wie das Rechnen mit kleineren Zahlen, wie man an dem Goethe-Beispiel sehen konnte (dabei waren die Exponenten sehr nützlich: Näheres dazu steht im Anhang auf S. 223).
Ein Beispiel zum Thema Geld: Nehmen wir an, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, sitzt an seinem Computer und arbeitet. Da erspäht er vor der Tür seines Büros einen 5-Euro-Schein auf dem Gang, den jemand verloren hat. Lohnt es sich für Ackermann, aufzustehen und den Geldschein aufzuheben? Dabei nehmen wir an, dass er in der Zeit, die er nicht am Computer sitzt, kein Geld verdient (was natürlich Unsinn ist). Die Frage ist also eigentlich: Wie lange muss Herr Ackermann für 5 Euro arbeiten? Schätzen Sie erst einmal, bevor Sie es ausrechnen!
Im Jahr 2006 hat Ackermann etwa 12 Millionen Euro verdient. Das ist eine Menge Geld. Wir nehmen zu seinen Gunsten an, dass er dafür pro Woche 60 Stunden gearbeitet und keinen Urlaub genommen hat. Dann ergibt sich, bei 52 Wochen, ein Stundenlohn von 3846 Euro. Runden wir die Zahl noch einmal ab und sagen 3600 Euro. Das heißt: Jede Sekunde verdient Josef Ackermann einen Euro. Damit es sich lohnt, den 5-Euro-Schein aufzuheben, darf die Aktion also nicht länger als 5 Sekunden dauern. Sputen Sie sich, Herr Direktor!
Ein anderer Vergleich, der verdeutlicht, wie viel unsere Spitzenmanager verdienen: Herr Ackermann muss 345 Sekunden oder knapp 6 Minuten arbeiten, bis er den Hartz-IV-Regelsatz von 345 Euro beisammen hat. Apropos Hartz IV: Schätzen Sie doch bitte noch einmal, wie viele Hartz-IV-Empfänger man für den Preis eines Eurofighters ein Jahr lang mit dem Regelsatz versorgen kann? 180, 1800 oder 18 000?
Ein Eurofighter kostet den Steuerzahler 75 Millionen Euro. Geteilt durch den Regelsatz, geteilt durch 12 – macht ungefähr 18 000. Das ist die Zahl sämtlicher Hartz-IV-Empfänger in einer Stadt wie Bochum. Nun gut, das kann man nicht gegeneinander aufrechnen. So ein Jet muss ja auch sein. Deutschland hat aber nicht einen dieser Flieger bestellt, sondern 180.
Man kann gewiss politisch argumentieren, dass diese Rechnung demagogisch sei und Äpfel mit Birnen vergleiche. Dass wir die modernen Kampfjets zu unserer Verteidigung dringend bräuchten und der Preis gerechtfertigt sei. Das mag ja vielleicht so sein, die Rechnung stimmt aber trotzdem. Und wer sich für derartige Investitionen einsetzt, der darf nicht nur qualitativ argumentieren («Wir brauchen das, weil …»), sondern sollte auch quantitativ überzeugen: «Wir können uns diese Ausgabe leisten.» Und dann muss er sich auf einen entsprechenden Äpfel-Birnen-Vergleich einlassen, weil jeder Euro eben nur einmal ausgegeben werden kann.
MUT ZUR UNGENAUIGKEIT Stellen Sie sich – noch ein Beispiel – folgendes Spiel vor: Jemand hat am Rand der Autobahn von Hamburg nach Berlin eine zwei Zentimeter breite und zwei Meter hohe Latte in den Boden geschlagen. Irgendwo zwischen Hamburg und Berlin, Sie haben keine Ahnung, wo. Sie fahren die Strecke nachts mit dem Auto und haben eine Pistole dabei. Zu einem beliebigen Zeitpunkt, den Sie frei wählen können, kurbeln Sie die Fensterscheibe herunter und schießen in Richtung Straßenrand. Einmal. Wenn Sie die Latte treffen, haben Sie gewonnen.
Würden Sie auch nur einen Euro auf dieses Spiel wetten, selbst wenn der Gewinn im Fall eines Treffers eine Million betrüge? Nein? Genau das machen aber Millionen von Menschen jede Woche, wenn sie einen Lottoschein ausfüllen. Die Chance, sechs Richtige zu tippen, ist nämlich genauso groß...