Einleitung
Dieses Buch richtet sich an Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen sowie Studierende der Sozialen Arbeit, deren Interesse sich auf multiproblembelastete Kinder und Jugendliche in der Jugendhilfe bezieht. In der Sozialen Arbeit stehen wir häufig mit Klient*innen in Kontakt, deren emotionale Balance aus verschiedenen Gründen aus dem Gleichgewicht geraten scheint. Wenn emotionale Überforderung nicht mehr nur auf eine akute Krise zurückzuführen ist, stehen dahinter meist emotionale Lerngeschichten, die es dem Menschen fast unmöglich erscheinen lassen, anders zu denken oder zu handeln. Vor allem der Eindruck, dass sich missliche Situationen immer wieder in ähnlicher Art und Weise zeigen, ist ein typisches Kennzeichen für eine dysfunktionale Bewältigungsstrategie bei der emotionalen Verarbeitung von Alltagssituationen.
Was passiert in der Regel mit jungen Menschen, die in der Jugendhilfe scheitern? Sie kommen in die nächste Maßnahme, die möglicherweise auch der Symptomatik nicht gewachsen ist. Es folgen weitere Maßnahmen, Ausbildungsabbrüche, Arbeitslosigkeit, möglicherweise Drogenabhängigkeit oder Kriminalität bis hin zu einem Leben auf der Straße. Für solche unrühmlichen Hilfekarrieren liegen viele Belege vor.
Hier soll eine neue sozialtherapeutische Konzeption vorgestellt werden, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, jungen Menschen mit Störungen der Impulskontrolle, deren subjektives Erleben von Versagen gekennzeichnet ist, wieder oder auch erstmalig zur Kontrolle über das eigene Verhalten zu verhelfen. Sozialtherapie soll hier verstanden werden als eine gezielte, sozialprofessionelle Beeinflussung, die sich an Menschen in ihren komplexen Lebens- und Alltagssituationen richtet, denen mit den Mitteln der individualisierten Psychotherapie nicht oder nicht ausreichend geholfen werden kann. Sie versteht sich somit als eine Form sozialer Psychotherapie, die die engen Grenzen der individuellen Psychotherapie ebenso überwindet wie die unspezifischen Ansätze der generalistischen Sozialen Arbeit.
Das Buch ist eine Entwicklung aus der Praxis für die Praxis. Die Autoren und Autorinnen sind ausschließlich Praktiker*innen, sie sind Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen mit Zusatzausbildungen, die in typischen Praxisfeldern der Sozialen Arbeit tätig sind und hier nach einerseits professionellen, andererseits konkret handhabbaren Lösungen suchen. Die Sprache ist deshalb frei referierend und sucht eher das Gehör anderer Praktiker*innen als die theoretische Auseinandersetzung.
Dieses Buch ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil werden die theoretische Einordnung der Sozialtherapie in die Landschaft der Sozialtherapien und ihr Verhältnis zur generalistischen Sozialen Arbeit und den Rahmenbedingungen der Psychotherapie betrachtet ( Kap. 1), aus denen sich die Notwendigkeit einer Sozialtherapie Impulssteuerung ergibt (Eva Maria Schuster).
Mit der Entwicklung der Konzeption Sozialtherapie Impulssteuerung soll eine Versorgungslücke geschlossen werden ( Kap. 2), die sich durch einen Mangel an Hilfsangeboten für junge Menschen zeigt, die sich scheinbar ihren Emotionen hilflos ausgeliefert fühlen und deren Zukunftsprognosen in den bisherigen Jugendhilfeangeboten und Psychotherapien eher als ungünstig betrachtet werden müssen (Stefan Werner).
Mit einem spezifischen, mehrstufigen Konzept wird eine Sozialtherapie Impulssteuerung entworfen ( Kap. 3), die zum Ziel hat, junge Menschen zu befähigen, eine angemessene Toleranz im Umgang mit negativen Emotionen zu entwickeln und sich über sprachliche und symbolische Mittel ausdrücken zu können (Mareike Hildebrandt).
Der Stellenwert der therapeutischen Beziehung und die Klärung der ethischen Haltung der Sozialtherapeut*innen als Realisierung therapiebezogener kognitiver Strukturen stehen ebenso im Fokus der Betrachtung ( Kap. 4) wie die Bedeutung stimmiger innerer Einstellungen, Überzeugungen und Denkweisen (Stefan Reis).
Im zweiten Teil werden Ansätze und Handlungsinstrumente eingeführt, mit denen die Sozialtherapie Impulssteuerung operationalisiert werden kann.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen emotionalen Lerngeschichte und ihrer Bedeutung für das Handeln in der Gegenwart kann unerfüllte Bedürfnisse offenbaren und einen Weg zu einer Neubewertung öffnen. Über ein Fallbeispiel kann nacherlebt werden ( Kap. 5), wie die Klientin Mia sich von dysfunktionalen Bewältigungsstrategien löst und neue Erfahrungen in Kompetenzen umsetzt (Michael Herting & Stefan Werner).
Stärker methodisch orientiert ist die Auseinandersetzung mit der Struktur der Sozialtherapie Impulssteuerung von der Anamnese bis zur Durchführung der Sozialtherapie ( Kap. 6) und der Frage, wie viel Lösung bereits in einer bewussten Aufbereitung der Vergangenheit für den*die Klient*in erkennbar ist (Stefanie Werner).
Neben der Klärung, ob sich andere Hilfsansätze (psychotherapeutische, pädagogische oder psychiatrische) besser eignen, dem*der Klient*in eine angemessene Unterstützung zur Verfügung zu stellen ( Kap. 7), werden Kontraindikationen und generelle Ausschlusskriterien für die Sozialtherapie Impulssteuerung herausgearbeitet (Christin Linhardt).
In welchem Zusammenhang steht die Akzeptanz gegenüber primären Emotionen mit dem Selbstwert eines Menschen? Mit dieser Frage und der, wie die Erhöhung des Selbstwerts zur Stärkung selbstwertfördernder Konfliktbewältigungsstrategien und zur Verringerung selbstwertschädigender Komponenten beträgt, befassen sich Kirsten Gottwald & Stefan Werner ( Kap. 8).
Auch Kinder können sich als »immer schon problematisch« erleben. Ausgehend davon, dass Emotionen und Kognitionen zirkulär wirken, werden verschiedene Techniken zur Emotionsregulation dargestellt ( Kap. 9) und am Fallbeispiel expliziert (Hanna-Kari Bach).
Die Bedeutung der Emotionsanalyse und des damit möglicherweise verbundenen Stresspotenzials steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Rebecca Tullius ( Kap. 10). Die Autorin geht der Frage nach, wie durch den Einsatz von Entspannungstechniken Stress abgesenkt und die Aufnahmefähigkeit von Klienten verbessert werden kann.
In der Sozialtherapie Impulssteuerung ist die Akzeptanz der eigenen Emotionen von besonderer Bedeutung. Es wird der Frage nachgegangen, welche grundlegenden Konzepte der Emotionstoleranz Anwendung finden ( Kap. 11). Dazu werden emotionsfokussierte Techniken, von der Emotionsedukation bis zur Emotionsexposition aufgezeigt (Yvonne Heinrich).
Die Bedeutung von Achtsamkeit, verstanden als Würdigung des gegenwärtigen Augenblicks und der Entwicklung einer engen Beziehung zum Jetzt, kann die Emotionstoleranz erheblich steigern. Neben der Bedeutung der Achtsamkeit des*der Klient*in ( Kap. 12) wird auch die des Therapeuten im wechselseitigen Beziehungsgefüge beleuchtet (Kordula Bendler).
Die sogenannte Stühlearbeit widmet sich der therapeutischen Arbeit mit ungeklärten inneren Anteilen des*der Klient*in ( Kap. 13). Eva-Maria Baumgärtner stellt Funktionen, Abläufe, Kontraindikationen und Ergebnisse dieser überwiegend emotionsfokussierten Methode dar.
Der äußerst sensiblen Bearbeitung der Emotion Scham widmet sich der Beitrag von Stefanie Umbreit ( Kap. 14). Es werden sowohl die verschiedenen Formen und der Ursprung von Scham aufgezeigt wie auch die von vielen erlebte sozial vernichtende Beschämung.
Wut als Beschützer der Traurigkeit weist auf eine primäre Emotion (Traurigkeit) hin, die durch eine schützende Emotion (Wut) erträglich gemacht wird. Die Autorinnen zeigen ( Kap. 15) Erklärungsmodelle und Veränderungsstrategien auf, die Chancen zu höherer Authentizität für den Klienten bieten (Esther von Gries & Lisa Weyrich).
Der dritte Teil »Sozialtherapie in der Praxis« geht der Frage nach, ob und wie unfreiwillige Klient*innen im Zwangskontext erfolgreich behandelt werden können ( Kap. 16) und welche Grundhaltungen und -annahmen seitens des Therapeuten hierfür Bedingung sein müssen (Ilka Becker).
Alexander Hennicke stellt einen Fall von Schulverweigerung vor, in dem typische sozialpädagogische Aufgaben (wie Elternarbeit) mit Sozialtherapie zu einem ganzheitlichen Vorgehen verknüpft werden ( Kap. 17).
Esther von Gries erläutert, inwiefern sozialtherapeutisches Vorgehen in einer sozialpädagogischen Tagesgruppe sinnvoll ist, und belegt dies mit den zentralen Ansprüchen und rechtlichen Vorgaben dieser Jugendhilfemaßnahme ( Kap. 18).
Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren für ihr Engagement und die Bereitschaft, ihre praktischen Erfahrungen im Zusammenhang mit den theoretischen Orientierungen darzulegen und zur Diskussion zu stellen.
Wir wünschen uns, dass dieser Ansatz zumindest basal in das Studium der Sozialen Arbeit integriert würde und zwar in die...