1. Einleitung
Über fast 50 Jahre erlebte Geschichte zu berichten, ist immer ein Risiko. Der Historiker weiß natürlich, dass derlei Aussagen der subjektiven Wahrnehmung des Berichterstatters unterliegen und beansprucht nicht, dass die Nachgeborenen erfahren, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke). So ist der folgende Beitrag in dem Bewusstsein geschrieben, dass auch hier die wissenschaftliche Biographie der Autorin dem historisch Erlebten eine unvermeidlich subjektive Färbung verleiht und dass die Geschichte der Fremdsprachendidaktik auch ganz anders gesehen und dargestellt werden kann.
Doch nicht nur die Darstellung in ihrer Auswahl und Akzentuierung unterliegt der Interpretation. Die Fremdsprachendidaktik selbst ist in ihrer geschichtlichen Entwicklung – wie jede andere Disziplin – als psycho-soziales Phänomen zu begreifen, das sowohl durch individuell-menschliche als auch durch gruppendynamische, politische und wirtschaftliche Gegebenheiten beeinflusst ist. Die Soziologie wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen wird selten thematisiert. Man beschränkt sich auf die Beschreibung ihrer Inhalte und Methoden und deren Veränderung. In den einschlägigen Lexika (z.B. Schröder / Finkenstaedt 1977), Handbüchern, Sammelbänden und Monographien zur Fremdsprachendidaktik werden üblicherweise die historischen Abrisse des Lehrens bzw. Lernens von Fremdsprachen immer wieder aktualisiert, die Entwicklung der Disziplin und der sie bestimmenden psycho-sozialen und sozio-ökonomischen Faktoren wird kaum in den Blick genommen. Eine Ausnahme bilden hier die Veröffentlichungen von H. Sauer, der schon früh z.B. auf den Zusammenhang zwischen „schulpolitischen Empfehlungen und Entscheidungen“ und der „Entwicklung der Fachdidaktik“ aufmerksam gemacht hat (Sauer 1968, 160).
Die Diskussion um das Lehren und Lernen von Fremdsprachen ist uralt. Sie ergab sich zwangsläufig in jeder Kultur, sobald diese mit fremden Sprachen in Berührung kam, deren Prestige groß genug war, um sie lernen zu wollen. Dieser sozio-ökonomische Faktor steht also am Anfang jeder Beschäftigung mit einer fremden Sprache und er hat auch entscheidend auf die wechselvolle Geschichte der (west)deutschen Fremdsprachendidaktik eingewirkt, deren Entwicklung als wissenschaftliche Disziplin ich in den letzten fünf Jahrzehnten in den verschiedensten Funktionen aktiv miterlebt habe. Nach dem Ersten Staatsexamen war ich während der turbulenten Jahre um die Studentenunruhen (1966–1970) zunächst Assistentin am Romanischen Seminar der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum in der Abteilung Literaturwissenschaft (wo ich auch promovierte), dann Referendarin am Studienseminar Bochum. Danach (1970–1995) wurde ich – fast ein Kuriosum – zunächst vom Seminar für Englische Sprache und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ruhr, Abteilung Dortmund als Romanistin ‚kooptiert‘1 und erwarb hier durch meine Mitarbeitertätigkeit bei der Ausbildung von Englischlehrern für die Volks- bzw. Hauptschule erstmals selbst eine solide fremdsprachendidaktische Ausbildung. Nach der Integration der PH in die Universität Dortmund übernahm ich als kommissarische Leiterin das dem Fachbereich Sprachen angegliederte Sprachenzentrum. Schließlich folgte ich 1995/96 dem Ruf der Universität Jena auf eine Professur für die Didaktik der romanischen Sprachen, die ich bis zu meinem Eintritt in den Ruhestand (2007) innehatte. Aufgrund der vielfältigen Erfahrungen in und mit den Institutionen, die sich mit dem Lehren und Lernen fremder Sprachen beschäftigen (von der Philologie über das Studienseminar, die Pädagogische Hochschule, den Arbeitskreis der Sprachenzentren bis hin zur didaktischen Professur in einem philologisch geprägten Institut für Romanistik), scheint es mir nicht ganz abwegig, die Disziplin, in der ich fast 50 Jahre gearbeitet habe, rückblickend einer Betrachtung zu unterziehen.
So spannt sich in meinem Verständnis ein großer Bogen von der auf die Verbesserung der Sprachpraxis gerichteten Aufbruchsstimmung der 60er Jahre über eine Phase der stetigen thematischen Ausweitung durch die Berücksichtigung von Forschungsergebnissen der sog. Bezugswissenschaften – was zu mehr oder weniger heftigen Kontroversen führte. Aufgrund der unterschiedlichen wissenschaftsbiographischen und -soziologischen Kontexte der Protagonisten kam es danach jedoch zu keiner echten Konsolidierung. Die Entwicklungslinien der beiden Hauptakteure, der traditionellen Fremdsprachendidaktik und der mit dem Anspruch eines kompletten Neuanfangs auftretenden Sprachlehrforschung, verliefen weitgehend parallel und verbinden sich in den internationalen Handbüchern höchstens zu einem Schrägstrich-Paar (Fremdsprachendidaktik / Sprachlehrforschung). Auch die 1988 erfolgte Gründung einer „Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung“ brachte keine wirkliche Integration. Die terminologisch vermeintliche Kompromissformel „Fremdsprachenforschung“ markiert eher einen Wendepunkt im Selbstverständnis der Disziplin: hin zu mehr methodologisch verfeinerten empirischen Forschungen, die sich auf mehr oder weniger relevante Teilaspekte des Fremdsprachenlehrens und -lernens bezogen – auf Kosten von Lösungsansätzen für die wirklich drängenden Probleme der Praxis. Diese jüngste Entwicklung, die in den 90er Jahren einsetzte und bis heute andauert, ist umso bedauerlicher, als die mühsam errungene Wertschätzung der Disziplin als angewandter, auf die konkrete Verbesserung der Praxis des Fremdsprachenunterrichts im weitesten Sinne gerichteter Wissenschaftszweig inzwischen weitgehend verspielt zu sein scheint. Fachdidaktische Stellen werden – nach dem Ausscheiden der Professoren der 70er, 80er und 90er Jahre – immer öfter nicht wieder besetzt, immer mehr Institute sind von der Schließung bedroht. Wie konnte es zu dieser kontraproduktiven Entwicklung kommen? Als Erklärungsversuch möchte ich hier vorweg drei Gründe anführen:
Der eine ergibt sich aus der erwähnten Interdependenz von wissenschaftlichen Disziplinen und sozio-ökonomischen Faktoren und betrifft die vielleicht überzogene Erwartung der Öffentlichkeit in Bezug auf eine messbare Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse in allen Bereichen der Gesellschaft (vor allem aber in den allgemeinbildenden Schulen). Diese Erwartung wurde weitestgehend enttäuscht.2
Der zweite betrifft das immer noch andauernde Ringen der Disziplin um ihre Anerkennung in der scientific community, was – psychologisch betrachtet – zu einer Art Überkompensierung eines Minderwertigkeitskomplexes durch vermeintlich optimierte ‚Wissenschaftlichkeit‘ führte.
Der dritte hängt mit der mangelhaften Kooperation zwischen den beteiligten Akteuren an Schulen, Studienseminaren und Hochschulen (Fachdidaktik und Fachwissenschaft) und deren heterogener Motivationslage zusammen.
Trotz vieler Bemühungen in allen drei Bereichen überwiegt in historischer Sicht der Eindruck eines – fast tragisch anmutenden – Scheiterns. Im Folgenden soll versucht werden, die verschiedenen Traditionsstränge aus ihrer Geschichte heraus zu verstehen und nachzuzeichnen.
2. Die Aufbruchsstimmung der 60er und 70er Jahre
Die auf das Lernen gerichtete pragmatisch motivierte Beschäftigung mit Fremdsprachen fällt zunächst einmal den Lehrenden als Aufgabe zu. Da schriftlich fixierte Texte von jeher einen höheren Stellenwert hatten als mündliche, standen das Lesen und das Schreiben bei der Vermittlung im Vordergrund. Diese Zielfähigkeiten wiederum ließen Wörter- und Grammatikbuch als geeignete Lehr- und Lernmittel erscheinen und führten zwangsläufig zu einer Art Grammatik-Übersetzungsmethode im weitesten Sinne. Die Lernmotivierung erfolgte vor allem durch den Inhalt der zu entziffernden Texte, die eine hohe kulturelle Wertschätzung besaßen. Für den abendländischen Kulturkreis bedeutete das Fremdsprachenlernen zunächst das Lernen von Griechisch und Latein, danach in gehörigem Abstand – wegen des geringeren Bildungswertes – auch das Lernen der europäischen sog. Vulgärsprachen. Die Bevorzugung der klassischen oder alten Sprachen setzte die modernen oder lebenden Sprachen bis ins 20. Jahrhundert unter einen bildungspolitischen Rechtfertigungsdruck. Von daher versteht sich das zähe Festhalten der neusprachlichen Gymnasiallehrkräfte3 an dem literarisch-ästhetischen und sprachlich-formalen Bildungsauftrag der von ihnen vertretenen Fremdsprachen. Auch das Bemühen um eine enge Bindung an die anglistischen und romanistischen Fachwissenschaften in Gestalt von Sprach- und Literaturwissenschaften einerseits sowie die Distanzierung von der Pädagogik andererseits finden hier ihre Erklärung. Da die Pädagogik hauptsächlich dem Methodischen und damit dem ‚unwissenschaftlichen‘ Praktischen zugewandt war, wurde sie als minderwertig eingestuft. (cf. Sauer...