1. Behinderung beginnt im Kopf
Nach einer Amputation bricht für jeden Menschen erst einmal mit einem Schlag die ganze Welt zusammen. Auch mir ist es damals nach meinem Unfall, den ich nur wie durch ein Wunder überlebt und bei dem ich meine beiden Unterschenkel verloren habe, so ergangen. Es gab so manchen Tag, an dem ich kurz davor war aufzugeben. Bis ich selbstbewusst mit meiner Behinderung umgegangen bin, war es ein langer, steiniger Weg mit vielen Rückschlägen. In dieser schlimmen Zeit braucht man Menschen, die sich um einen sorgen und die einen wieder aufbauen. Glücklicherweise haben mich meine Familie, meine Freunde, Ärzte und Therapeuten immer wieder motiviert und mir Mut gemacht. Hätte ich damals diese große Unterstützung nicht gehabt, wäre es für mich viel schwerer geworden, mit meinem Schicksal klarzukommen. Alleine hätte ich das alles nicht geschafft, das ist gar keine Frage.
Das Wichtigste, aber auch gleichzeitig Schwierigste, war für mich, meine Behinderung zu akzeptieren und zu lernen, offen mit ihr umzugehen. Wenn man sich erst einmal selbst akzeptiert hat, dann akzeptieren einen auch die anderen. Statt Mitleid schlägt einem dann Bewunderung entgegen – dafür, wie man sein Schicksal meistert. Bis heute habe ich als Behinderter kein einziges Mal schlechte Erfahrungen gemacht – nach meinem Unfall bin ich niemals diskriminiert worden.
Meistens sind es keine Vorurteile, sondern bloße Unsicherheit, die den Umgang mit uns Behinderten erschweren. Die Unsicherheit geht meistens von den Nichtbehinderten aus, die nicht wissen, wie sie sich uns gegenüber verhalten sollen. Kinder haben keine Hemmungen und trauen sich viel eher, mich direkt anzusprechen. Die schauen natürlich auch, sprechen darüber und kommen dann zu mir und wollen meine Beine anfassen. Sie sind neugierig und wollen wissen, wie sich so eine Prothese anfühlt. Leider werden Kinder oft von den Eltern verschämt weggezerrt. Dabei bin ich froh, wenn Kinder so reagieren; denn so lernen sie, damit unbefangen umzugehen und eine Behinderung als etwas ganz Normales zu betrachten. Ich würde mir wünschen, dass Eltern von ihren Kindern ein Stück Ungezwungenheit lernen und leichter mit mir ins Gespräch kommen.
Vor meinem Unfall habe ich mir nie große Gedanken über behinderte Menschen und das gemacht, was sie im Alltag leisten, geschweige denn mich für Behindertensport interessiert. Dabei leben in Deutschland rund 9,6 Millionen Menschen, die behindert sind. Bei 80 Millionen Einwohnern ist das immerhin fast jeder Achte! Doch wo sind all die vielen Menschen mit Handicap? In der Öffentlichkeit sind sie selten zu sehen. Da muss man sich nicht verstecken!
Jedes Jahr verlieren rund 60.000 Menschen durch eine Krankheit oder einen Unfall Gliedmaßen. Die meisten Fälle werden durch Diabetes und Durchblutungsstörungen, wie das klassische Raucherbein, verursacht. Meistens trifft es ältere Menschen, aber es gibt auch junge wie mich, die gerade dabei sind, im Leben durchzustarten und plötzlich einen Arm oder ein Bein verlieren. Die Zahl der Amputationen ist in den vergangenen Jahren gestiegen.
Direkt nach dem Unfall hatte mein Selbstwertgefühl erst mal einen riesigen Knacks bekommen. Das kam erst langsam wieder zurück, ich konnte nicht einfach den Schalter umlegen – und alles war wieder gut. Das war ein langer Weg, ich habe viele Stadien durchgemacht, mit Höhen und Tiefen. Es wäre schön, wenn alles reibungslos funktionieren würde, aber so ist das im wahren Leben nun mal nicht. Im Gegenteil. Ich musste mit viel Geduld lernen, Rückschläge wegzustecken und sie in etwas Positives umzumünzen, anstatt mich selbst zu bemitleiden und mich zu verstecken. Mein Selbstbewusstsein wuchs, je offener ich mit meinem Handicap umging und mich in der Öffentlichkeit ganz normal mit meinen Prothesen bewegte. Von den Amputierten lernen nur rund fünf Prozent, sich »normal« auf Prothesen zu bewegen. Ich konnte schon nach drei Monaten richtig gut mit ihnen laufen.
Viele Dinge musste ich wie ein kleines Kind ganz neu lernen, zum Beispiel das Stehen und Laufen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich hingefallen und immer wieder aufgestanden bin und von vorne angefangen habe. Bloß nicht aufgeben! Das war damals meine Devise und ist es auch heute noch. Vieles funktionierte nicht gleich auf Anhieb, ganz ähnlich wie beim Erlernen des Fahrradfahrens. Der Vergleich mag seltsam wirken, doch es war wirklich so. Ich habe es immer wieder aufs Neue probiert, bis es schließlich geklappt hat. Scheitern gehört dazu, man darf sich bloß nicht unterkriegen lassen. Ich schaue nach vorn und nicht zurück. Eine gehörige Portion Optimismus gehört zu meiner charakterlichen Grundausstattung, sonst hätte ich wohl weder den Unfall noch die zahlreichen Operationen und Rückschläge wegstecken können.
Von Anfang an wollte ich mir beweisen, dass ich alles, was ich vorher konnte und als selbstverständlich hingenommen hatte, auch mit Prothesen schaffe. Von Schmerzen hatte ich mich nie abhalten lassen, ich habe einfach die Zähne zusammengebissen.
Einige Zeit nach dem Krankenhaus habe ich meine Wohnung komplett allein renoviert. Heute kann ich mit meinen Prothesen fast alles machen: ich kann vier Kästen Wasser auf einmal die Treppe hochschleppen, ich kann Auto, Jet-Ski und Wasserski fahren, ich gehe mit ihnen schwimmen und in die Sauna. Immer wieder ernte ich erstaunte und bewundernde Blicke. Viele finden es wahnsinnig, was ich alles mit meinen Prothesen machen kann und ziehen den Hut vor meiner Leistung. Das macht mich natürlich gewaltig stolz. Die Prothesen geben mir das Gefühl, nicht gehandicapt zu sein, weil ich mit ihnen alles machen kann, was Nichtbehinderte auch machen.
Bungee-Jumping ginge wohl nicht, zumindest nicht auf die übliche Weise, an den Füßen befestigt. Das würden meine Prothesen nicht aushalten, und ich würde auf dem Boden aufschlagen. Trotzdem will ich das unbedingt einmal machen, aber dann mit einem Hüftgurt. Es gibt immer Alternativen, auch das habe ich gelernt.
Durch den Profisport habe ich eine Menge an Selbstbewusstsein gewonnen. Heute bin ich selbstbewusster, als ich es je vor dem Unfall war; denn durch meine sportlichen Erfolge konnte ich mir und anderen etwas beweisen. Heute schauen manche, auch Nichtbehinderte, zu mir auf und wollen Autogramme von mir. Wenn man auf sein Bild eine Widmung schreibt, ist das ein unbeschreibliches Gefühl. Das hätte ich mir nicht erträumt, dass ich einmal so weit kommen würde im Leben. Ein Vorbild für behinderte und nichtbehinderte Menschen zu sein erfüllt mich mit Stolz, bedeutet aber gleichzeitig auch eine große Verantwortung. Durch den Sport habe ich mir und anderen bewiesen, dass ein furchtbarer Unfall nicht das Ende aller Träume sein muss, sondern dass das Leben weitergeht und man auch mit einer Behinderung Höchstleistungen vollbringen kann.
Ich hatte Glück im Unglück, schon dass ich damals überlebt habe, war ein Wunder. Ich hatte wohl gleich mehrere Schutzengel auf einmal. Mit meinem Leben, so wie es ist, bin ich mehr als zufrieden. Meine Beine will ich gar nicht mehr zurückhaben. Ich habe nach meinem Unfall Dinge gemacht, die ich sonst nie erlebt hätte. Mir standen Wege offen, die es vorher nicht gab. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass mein Leben nach so einem tragischen Schicksalsschlag so eine positive Wendung nimmt. Auch wenn es makaber klingt, aber es hätte mir nichts Besseres passieren können. Ich bin ein rundum glücklicher Mensch – trotz Behinderung!
David Behre verkleidet und auf Sprintprothesen, bei einem Fotoshooting in der Schweiz 2013.
2. Mein Ehrenamt als Mutmacher
Weil ich nie vergessen habe, wie man mir damals nach meinem niederschmetternden Schicksalsschlag wieder auf die Beine geholfen hat, möchte ich anderen, die sich in einer ähnlich verzweifelten Situation befinden, etwas von der Hilfe zurückgeben, die ich von allen Seiten bekommen habe. Ich möchte ihnen eine Perspektive für ihr Leben als Behinderte geben und ihnen Mut machen, nicht aufzugeben. Wann immer es mein Zeitplan zulässt, besuche ich seit einigen Jahren regelmäßig Unfallopfer in der BG-Unfallklinik in Duisburg, wo mir damals das Leben gerettet wurde. Wenn ein frisch amputierter Patient auf der Station ist, ruft mich meine Physiotherapeutin Regine Stelzhamer an, und ich fahre los.
Die meisten Patienten sind erstaunt, wenn sie sehen, dass ich wie ein gesunder Mensch auf zwei Beinen in ihr Zimmer komme. Meine Behinderung sieht man mir im Alltag überhaupt nicht an. Viele sind völlig überrascht, wenn ich ihnen erzähle, dass ich keine Unterschenkel mehr habe. Nachdem ich meine Hosenbeine hochgekrempelt habe und sie meine Prothesen sehen, ist die Verblüffung darüber, wie gut ich mit ihnen laufen kann, groß. An meinem Beispiel können die Patienten mit ihren eigenen Augen sehen, was nach einer Amputation alles möglich ist. Auch für sie! Der Kopf ist das Allerwichtigste auf dem Weg zurück ins normale Leben: Bevor man sein Schicksal nicht akzeptiert hat, kommt man keinen entscheidenden Schritt weiter. Erst wenn man im Kopf mit der Behinderung klarkommt, kann man das Leben wieder mit beiden Händen anpacken und viel erreichen. Es muss einfach »klick« machen. Statt in Selbstmitleid zu versinken, muss man nach vorn blicken und sich neue Ziele setzen. Vielleicht ist mein Besuch für manchen Patienten genauso wichtig wie der von einem Psychiater oder einem Psychotherapeuten. Immerhin habe ich all das Elend, was sie durchmachen werden, selber...