Zweite Spur
Vom Wunder der Menschlichkeit
Im Jahre 1895 war der libanesische Dichter Khalil Gibran zwölf Jahre alt, als er auf Englisch ein Versgedicht verfasste, das den Titel trägt: Jesus klopft an das Himmelstor. Mit der Sehnsucht und der Sensibilität eines zutiefst religiösen Knaben stellt Gibran sich darin vor, wie Jesus am Ende seines Lebens vor Gott hintritt, um ihm all die Menschen anzuvertrauen, die inmitten der Gnadenlosigkeit der Welt nicht haben leben können ohne ihn und die er gerade deshalb mit sich nahm auf seinen Weg in eine andere, „väterlichere“, das heißt, im Grunde „mütterlichere“ Welt. Das Gedicht des jungen Gibran lautet:
Vater, mein Vater, öffne dein Tor!
Ich bringe eine glänzende Gesellschaft mit.
Öffne das Tor, dass wir eintreten können.
Jeder und alle sind wir die Kinder deines Herzens.
Öffne, mein Vater, öffne dein Tor.
Vater, mein Vater, ich klopfe an dein Tor.
Ich bringe einen Dieb, der heute mit mir gekreuzigt wurde.
Denn auch er ist eine sanfte Seele,
und er möchte dein Gast sein.
Er stahl einen Laib für den Hunger seiner Kinder.
Aber ich weiß, das Leuchten seiner Augen würde dir gefallen.
Vater, mein Vater, öffne dein Tor.
Ich bringe eine Frau, die sich der Liebe schenkte,
und sie hoben Steine auf gegen sie, aber
ich kenne dein liebendes Herz und hielt sie zurück.
Die Veilchen sind nicht verwelkt in ihren Augen,
und dein April ist noch auf ihren Lippen.
Ihre Hände halten noch die Ernte deiner Tage,
und jetzt möchte sie mit mir eingehen in dein Haus.
Vater, mein Vater, öffne das Tor.
Ich bringe dir einen Mörder,
einen Mann mit Zwielicht auf dem Gesicht.
Er jagte für seine Jungen,
aber unklug jagte er.
Die Wärme der Sonne war auf seinen Armen,
der Saft deiner Erde war in seinen Adern;
und er verlangte Fleisch für seine Leute,
da Fleisch verwehrt war,
aber sein Bogen und Pfeil waren zu schnell,
und er beging einen Mord.
Darum ist er jetzt bei mir.
Vater, mein Vater, öffne dein Tor.
Ich bringe einen Trunkenbold mit,
einen Mann, den nach anderm dürstete als dieser Welt.
Er wollte sitzen an deiner Tafel, mit einem Becher,
Einsamkeit zu seiner Rechten
und Verzweiflung zur Linken.
Er starrte tief in den Becher
und sah deine Sterne gespiegelt im Wein.
Und er trank in vollen Zügen, denn er wollte deinen Himmel
erreichen.
Er wollte sein größeres Selbst erreichen,
aber er verirrte sich auf dem Wege und strauchelte.
Außen vor der Schenke, Vater, hob ich ihn auf,
und er kam mit mir, lachte den halben Weg.
Nun ist er in meiner Gesellschaft,
doch er weint, denn Freundlichkeit tut ihm weh.
Und darum bringe ich ihn zu deinem Tor.
Vater, mein Vater, öffne das Tor.
Ich bringe einen Spieler mit, einen Mann,
der seinen Silberlöffel in eine goldene Sonne tauschte;
und wie eine deiner Spinnen
webte er sein Netz und wartete
auf die Fliege, die ebenfalls jagt, nach kleineren Mücken.
Aber er verlor, wie alle Spieler,
und als ich ihn fand, wanderte er auf den Straßen der Stadt.
Ich blickte in seine Augen,
und wusste, dass sein Silber sich nicht in Gold verwandelt hatte,
und der Faden seiner Träume war zerrissen.
Ich bot ihm meine Gesellschaft an
und sagte zu ihm: „Siehe die Gesichter deiner Brüder,
und mein Gesicht.
Komm mit uns, wir gehen zu dem fruchtbaren Land
jenseits der Hügel des Lebens.
Komm mit uns.“
Und er kam.
Vater, mein Vater, du hast geöffnet das Tor!
Siehe: meine Freunde,
ich habe sie gesucht weit und nah;
aber sie waren in Furcht und wollten nicht mit mir kommen,
bis ich ihnen deine Verheißung und deine Gnade offenbarte.
Nun, da du dein Tor geöffnet hast,
und empfangen und willkommen geheißen meine Gefährten,
gibt es auf der Erde keine Sünder mehr,
getrennt von dir und deinem Empfangen.
Es gibt weder Hölle noch Fegefeuer;
nur du und der Himmel existieren,
und auf der Erde der Mensch,
das Kind deines ehrwürdigen Herzens.
Alle Menschlichkeit und alle Religiosität, die der Mann aus Nazareth in diese Welt zu bringen kam, gründet in dem Gefühl eines solchen unverfälschten Kindseins, das selbst den „kriminell“ Gewordenen nicht ausschließt. Wer war denn jener andere als Kind, ehe er auf seine Art „erwachsen“ werden musste?
Das ganze Leben Jesu war wie ein niemals gehörtes, wie ein ganz wörtlich unerhörtes kindliches Gebet, gerichtet an die Macht, die er so gerne unseren und seinen „Vater“ nannte (Joh 20,17). Ihr ganz allein traute er zu, sie lasse niemanden aus ihren Händen fallen, sondern sie lasse die Sonne aufgehen unterschiedslos über Gute und Böse und lasse es regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Drum ging er denen nach, die von sich selbst her keine Chance mehr besaßen, im Leben je zurechtzukommen; – „kein Räuberhauptmann hätte eine wüstere Gesellschaft um sich scharen können“, spottete bereits um 170 nach Christus der wohl brillanteste Christentumskritiker aller Zeiten, der griechische Philosoph Celsus; in gewissem Sinne zu Recht, denn gerade diese Sammlung der Verlorenen wurde das wesentliche Kennzeichen, der eigentliche Ehrentitel des Nazareners: Er sei ein Freund der „Huren“ und der „Zöllner“, warfen ihm manche seiner Zeitgenossen vor. Doch wer, wenn nicht sie, die vermeintlichen „Sünder“, würde begreifen, dass einzig die Liebe, das Verstehen und die Güte den Abgrund unter unsren Füßen zu schließen vermag?
Für den Mann aus Nazareth, wenn er, nach jüdischer Weise den Gottesnamen umschreibend, von „der Macht“, von dem „Himmel“ oder von den „Engeln“ sprach, lag in diesen Worten ein Verweis auf einen Arm, der sich ganz sanft um eines jeden Menschen Leben legt; nie, unter keinem Umstand, so glaubte er und machte er die Menschen glauben, würde dieser Arm sich uns entziehen.
Und warum auch? – Wenn wir nur einmal diese Welt mit Gottes Augen sehen könnten! Rasch würden wir dann erkennen, wie unsinnig die Grenzen sind, die Menschen, zumeist sogar mit Berufung auf „Gott“, im Namen ihrer vermeintlich überlegenen Moral oder ihrer vermeintlich einzigartigen Religion oder ihrer alleinseligmachenden Konfession oder ihrer angeblich zu Erstrangigkeit berufenen Nation um andere Menschen zu ziehen pflegen. In Wirklichkeit, meinte der Nazarener, sind wir zu arm und zu armselig, als dass wir uns die Hybris solcher Unterschiede und Unterscheidungen leisten könnten. Wir brauchten nur einmal den Menschen ins Herz zu schauen, statt auf ihre Hände zu starren, wir müssten nur einmal ihre Motive und Gefühle betrachten, statt ihre „Taten“ als äußere „Tatsachen“ zu isolieren und dann nach festen Maßstäben zu „richten“, dann würde sehr bald vor unseren Augen sich das Bild einer unermesslichen Not und einer ungemessenen Verzweiflung erheben; Hilfe, nicht Verurteilung, Befreiung, nicht Kerker, Begleitung, nicht Aussperrung, die „Himmelstüre“, nicht die „Hölle“, stellten seiner Ansicht nach die einzig verantwortliche Antwort auf die Herausforderung der menschlichen Tragödie dar.
Gewiss, es gibt die Gebote. Gleichgültig, ob die Gesetzesstele des Hammurabi oder die Zehn Gebote, die man mit Moses verbindet, ob das Gesetzbuch des Justinum oder das bürgerliche Gesetzbuch eines modernen Staates – an jeder Stelle zeigt sich, wie wenig damit gewonnen ist, klare „Weisungen“, „Anordnungen“, „Verfügungen“ und „Richtlinien“ zu „erlassen“. Es gibt keine Ordnung im menschlichen Leben, außer sie wüchse von innen her auf, und eben darin, das Innere eines Menschen zu stärken, bis dass es zur Einheit und zum Einverständnis mit sich selber gelangt, liegt die Größe der menschlichen Aufgabe. Gesetze im besten Falle sind richtige Wegweiser. Doch die Wege zu wissen lehrt schon die Tiere der Instinkt; die Kraft, sie zu gehen, kommt anderswo her. Die sogenannten „Verbrechen“, umgekehrt, sind sie je etwas anderes als die Suchwege und Umwege eines versperrten Lebens, das trotz allem doch noch ans Ziel zu gelangen trachtet?
Gehen wir Gibrans Beispiele einmal durch. Siebentes Gebot etwa: „Du sollst nicht stehlen.“ Schon auf den untersten Lebensformen respektieren Tiere den Territorialanspruch ihrer Artgenossen, richten sie sich nach den Reviergrenzen eines Mitglieds ihrer Gruppe, anerkennen sie die Paarbindungen und Paarungsrechte eines überlegenen Konkurrenten. Was aber ist es mit den einsam Jagenden, was mit den ewig Zukurzgekommenen, was mit den im Schatten des „Rechtes“ chronisch...