12. Egoismus und das Gleichnis vom römischen Brunnen
„Egoismus ist zunächst ein Ausfluss des natürlichen Selbsterhaltungstriebes, der auch ethisch vom Wert des Lebens gefordert ist. Er ist notwendig zur Erkenntnis und Verwirklichung der Persönlichkeitswerte und zur Erfüllung der sittlichen Pflicht, die eigenen Anlagen und Fähigkeiten zu größtmöglicher Vollendung zu bringen. Verwerflich wird er erst, wenn dem fremden Leben und der fremden Persönlichkeit weniger Wert beigemessen wird als der eigenen, wenn die Rechte anderer verletzt werden.“
– Heinrich Schmidt, Philosophisches Wörterbuch, 1978
In der Psychopädie lernen wir schnell, uns selbst auch als Erwachsene als wichtigste Lebensaufgabe in den Vordergrund zu stellen und nicht etwa den Nächsten. Da viele Menschen gelernt haben, dass vor einem selbst der Nächste kommt, könnte zu Beginn einer psychopädischen Betreuung fälschlich der Eindruck entstehen, man solle ein „verwerflicher“ Egoist werden. Doch dies wird gerade nicht angestrebt.
In Anlehnung an die oben zitierte Definition kommt es gerade darauf an, damit zu beginnen, sich den Satz zu eigen zu machen: „Erst komme ich, und dann kommt eine Weile gar nichts. Und dann komme wiederum ich. Dann kommt wiederum eine ganze Weile gar nichts. Und dann schließlich und endlich komme ich. Und dann kommt überhaupt nichts mehr. Wenn dann noch etwas übrig bleibt, dann erst kommen die anderen.“ Tatsächlich zeigt sich, oh Wunder, dass dann die anderen im Allgemeinen noch viel mehr bekommen, als sie erhalten hätten, wenn ich es ihnen von Anfang an gegeben hätte.
Denn ist jemand verwerflich, der in erster Linie an sich denkt, der vorzugsweise im eigenen Interesse handelt, indem er seinen Hunger selbst stillt oder es vermeidet, seinen Anzug zu beschmutzen oder zu zerreißen, und der sich von einer Beschäftigung zurückhält, die er nicht mag und die er auch nicht unbedingt tun muss?
Um es Ihnen gleich vorweg zu sagen: Wir glauben nicht, dass es sich um „verwerflichen“ Egoismus handelt, wenn man sich liebt, wenn man im eigenen Interesse handelt und dafür sorgt, dass man gesund und gut eingebettet ist in wache und warmherzige Verhältnisse zu seiner Familie, zu seinem Volk, zur ganzen Menschheit, zur ganzen Welt und zu Gott. Allgemein wird unter dem, wie der Begriff Egoismus leider gemeinhin benutzt wird, nur der verwerfliche Egoismus verstanden, der tatsächlich ein neurotisches Verhalten beschreibt, nämlich das eines Menschen, der weder sich selbst noch andere liebt, der lediglich mit Argwohn und anderen autodestruktiven Einstellungen übermäßig auf sich selbst achtet und darüber andere Ganzheiten, deren Teil er ist, vergisst, falls er sich nicht sogar von ihnen beeinträchtigt fühlt.
Wir gehen davon aus, dass die Störung eines jeden, der eine psychopädische oder -therapeutische Beratung oder Behandlung braucht, unter anderem in seinem verwerflichen Egoismus liegt, und dass die Psychopädie einen Weg zeigt, wie man diesen neurotischen Egoismus ablegen kann.
Uns schwebt als Bild eine Kette vor. Man sagt, dass jede Kette so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Wenn nun jemand im Bewusstsein, selbst Glied in einer Kette zu sein, sich pflegt und stark macht, um so gleichzeitig der ganzen Kette zu dienen, dann ist er gewiss kein verwerflicher Egoist. Neurotische Menschen sind dagegen irgendwo mit dem „Wir“, zu dem sie gehören, mit der Gemeinschaft, mit der Familie, mit dem Elternhaus, mit dem Ehepartner und letzten Endes mit allen Menschen zerfallen. Wer beispielsweise sein Handeln „vom anderen her“ plant, ist deshalb keineswegs ein Liebender, wie wir im Kapitel 22, „Müllers und Schultzes“, deutlich machen. Er ist vielmehr unselbstständig und zehrt an den Kräften derer, die er für sich in Anspruch nimmt. Ja, er ist nicht selten davon überzeugt, dass es ihm zusteht, von anderen gepflegt und umsorgt zu werden, wo er sich doch – wenigstens seiner eigenen Meinung nach – zeitlebens selbstvergessen für andere kaputtmacht.
Sie hören aus der Wendung „sich für andere kaputtmacht“ ganz gewiss schon heraus, dass da ein Verhalten gezeigt wird, das wir als autodestruktiv bezeichnen, gegen das man sich in einer psychopädischen Betreuung verbündet.
Jesus hat gesagt, dass es nicht gut ist, wenn Blinde sich zum Führer von Blinden machen oder wenn man sich um die Augenverletzung eines anderen kümmert, ehe man das verletzte eigene Auge behandelt hat. Und bekanntlich fließt auch erst ein voller Topf über. So ist das unablässige Herumfummeln am eigenen Aussehen, wie es beispielsweise der Eitle tut, beileibe keine liebevolle Zuwendung zu sich selbst, sondern Ausdruck von Minderwertigkeitsgefühlen und von Selbsthass. Das Gleiche gilt für den Hypochonder, der sich unablässig betrachtet, um jeden Schmerz, jeden Pickel, jeden blauen Fleck als Signal für unmittelbar bevorstehendes Siechtum zu deuten. Das sind Beispiele für die als verwerflichen Egoismus zu bezeichnende Neurose.
Wer sich dagegen warmherzig annimmt, so, wie er ist, wer sich schon in der Frühe mit seinem eigenen Namen begrüßt und Gott dafür dankt, dass er mit seinem Körper leben darf, wer sein Leben und seine Bedürfnisse aus Gottes Hand in die eigene Verantwortung nimmt, der ist als Egoist ein wirklich Liebender mit einer belebenden Ausstrahlung.
Conrad Ferdinand Meyer hat diese Zusammenhänge in einem Gedicht mit dem Titel „Der römische Brunnen“ trefflich auf den Punkt gebracht:
„Der römische Brunnen
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.“
In unserem Verständnis entspricht die oberste Schale dem „Ich“. Sie ist die kleinste und unbedeutendste. Sie hat den kleinsten Durchmesser und das geringste Fassungsvermögen. Aber sie wird als erste mit dem Wasser des Lebens, d. h. mit Liebe angefüllt. Und erst wenn sie voll gefüllt ist, fließt sie – dabei sich verschleiernd – über und füllt nun die nächstgrößere Schale, die wir die „Du“-Schale nennen. Ihr Durchmesser und ihr Fassungsvermögen sind wesentlich größer. Sie ist das Gefäß der Nächstenliebe.
Fließt auch dieses über, füllt sich damit das große untere Rund, das der Liebe zu Gott entspricht. Christen kennen ihn als Menschensohn Jesus und können in dem römischen Brunnen ein Gleichnis des mosaischen, christlichen und islamischen Liebesgebots wiedererkennen.
Aus dem Gedicht können wir noch zwei Gedanken entnehmen, die wir nicht unerwähnt lassen wollen, nämlich erstens, dass wahre Nächstenliebe verschleiert ist im Sinne von: Tue deinem Nächsten Gutes, aber sprich nicht darüber. Zweitens schreibt der Dichter, dass jede Schale nimmt und gibt. Wir gehen daher davon aus, dass er diese Reihenfolge, Nehmen kommt vor Geben, mit Bedacht gewählt hat. Denn wie will jemand geben, der nicht zunächst dafür gesorgt hat, etwas zu haben? Wer von einem ungedeckten Konto Spenden macht, von dem heißt es, dass nur ein Lump mehr gibt, als er hat. Wer sich den lieben langen Tag für andere umbringt, wie man so sagt, dessen Gaben sind – in der Banksprache gesprochen – sämtlich Wechsel auf Zukunft. So jemand entwickelt unausweichlich eine mit der Zeit sich immer stärker ausprägende Anspruchshaltung, sei sie auf einen bevorzugten Platz im Jenseits, sei sie auf Rente oder andere Zuwendungen im Diesseits gerichtet.
Ein weiteres Beispiel für diese Zusammenhänge ist ein Orchester. Bevor ein Konzert aufgeführt wird, stimmen die Musiker zunächst ihre Instrumente. Sie erfüllen damit ihre Pflichten sich selbst und dem eigenen Instrument gegenüber. Der Grundton, an dem die Musiker sich dabei orientieren, ist vorgegeben und entspricht dem göttlichen Leben. Dies entspricht dem grundlegenden Liebesumgang des Menschen mit sich selbst. Erst wenn das eigene Instrument gestimmt ist, erfolgt – orientiert am Dirigenten – die Kooperation mit den übrigen Musikern. Dies entspricht der geübten Nächstenliebe. Die Aufführung des Musikwerks bringt nicht nur die wohlgestimmten Instrumente in ihren Eigenarten, sondern die ganze Partitur zum Erklingen: Das entspricht dem großen göttlichen Rund des römischen Brunnens.
„Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Liebesordnung scheint – entsprechend diesem universellen Liebesgebot – darin zu bestehen, dass wir Gott erst dann lieben können, wenn wir den Nächsten lieben, den wir sehen, und dass wir den Nächsten erst dann lieben können, wenn wir selbst ein gefülltes Gefäß geworden sind, das überfließt.
Bernhard von Clairvaux hat das so formuliert:
„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als eine Schale und nicht als ein Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie erfüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter.
Wir haben heutzutage viele Kanäle in der Kirche, aber sehr wenige Schalen. Diejenigen, durch die uns die himmlischen Ströme zufließen, haben eine so große Liebe, dass sie lieber ausgießen wollen, als dass ihnen eingegossen wird, dass sie lieber sprechen als hören, dass sie bereit sind zu lehren, was sie nicht gelernt haben, und sich als Vorsteher über die anderen aufspielen, während sie sich selbst nicht regieren können.
Lerne auch...