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Standort Schweiz im Umbruch

Etappen der Wirtschaftspolitik im Zeichen der Wettbewerbsfähigkeit

AutorSilvan Lipp
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783038239536
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,30 EUR
Vor 20 Jahren lehnte das Schweizer Volk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ab. Als Folge hatte die Schweiz keinen freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt, und der EWR-bedingte Liberalisierungsschub im Innern blieb aus. Die Schweiz drohte im internationalen Standortwettbewerb den Anschluss zu verlieren. In einem Umfeld des innenpolitischen Zweifelns und Haderns stand der Bundesrat vor der Aufgabe, eine neue Wirtschaftspolitik zu formulieren und die Standortbedingungen aus eigener Kraft zu erneuern. Nach wirtschaftlich schwierigen Jahren ist es der Schweiz nach der Jahrtausendwende gelungen, die Wachstumsschwäche zu überwinden und an die Spitze der wettbewerbsfähigsten Länder aufzuschliessen. Der Autor untersucht die Etappen der Wirtschaftspolitik des Bundes in den letzten Jahrzehnten.

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Leseprobe

2    Wirtschaftspolitik mit Hang zum Status quo. Die Jahre 1973 bis 1989

In den Nachkriegsjahren ging es der Schweizer Wirtschaft blendend. Die Unternehmen konnten in den 1950er- und 1960er-Jahren Tausende von neuen Arbeitsplätzen schaffen. Die Arbeitslosigkeit lag bei null Prozent. Das Land erfreute sich steigender Löhne und neuem Wohlstand. Der Aufschwung begünstigte den Konsum.44 Die steigende Kaufkraft im In- und Ausland und die Konsumfreudigkeit ermöglichten der Schweizer Wirtschaft ein hohes Wachstum. Vor allem seit den 1960er-Jahren drohte ständig eine Überhitzung der Konjunktur. Die Wirtschaftspolitik des Bundes in jenen Jahren lässt sich mit den beiden Begriffen «Freihandel» und «Binnenmarktschutz» charakterisieren. Der Bund war nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich bestrebt, den Handel zu liberalisieren und im Innern wieder zu einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung zurückzukehren, allerdings nicht ohne gewisse Branchen mit protektionistischen Regulierungen weiterhin zu schützen. Ein weiteres Merkmal der Wirtschaftspolitik jener Jahre war das Steuerungsdenken. Dieses machte sich etwa im Bereich der Konjunkturmassnahmen bemerkbar. Angesichts der ständig drohenden Konjunkturüberhitzung war der Bund bestrebt, die Preis- und Konjunkturstabilität sicherzustellen, wobei er eine antizyklische Finanzpolitik im keynesianischen Verständnis zu betreiben versuchte.45 Gemäss diesem war die Konjunkturüberhitzung eine Folge davon, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage das gesamtwirtschaftliche Angebot überstieg. Es galt entsprechend, die Nachfrage zu senken. So wurden 1972 verschiedene dringliche und befristete Bundesbeschlüsse verabschiedet, beispielsweise um den Kreditschöpfungsspielraum der Banken einzuschränken oder den Baumarkt mit Abbruch- und Bauverboten zu stabilisieren.

2.1    Wirtschaftskrise 1973 trifft die Schweizer Wirtschaft hart

Im Jahr 1973 setzte weltweit eine deutliche Trendwende in der Wirtschaftsentwicklung ein. Es handelte sich nicht nur in Bezug auf das Wirtschaftswachstum, sondern auch in Bezug auf die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen um einen markanten Wendepunkt.46 Im März 1973 brach das System der festen Wechselkurse zusammen. Die USA als tragende Säule dieses Systems hatte durch ihre expansive Geldpolitik seit 1971 die Funktionsfähigkeit dieser Dollar-Weltwährungsordnung zunehmend untergraben. Auf diese Nachkriegsordnung folgte nach 1973 eine «international economic disorder»:47 Der Übergang zu flexiblen Wechselkursen ermöglichte den Staaten zwar, die Inflation mit eigenen währungs- und geldpolitischen Massnahmen in den Griff zu bekommen. Das führte aber zu weltweiten Währungsturbulenzen, was viele Länder veranlasste, ihre Volkswirtschaften mit protektionistischen Praktiken zu schützen. Als im Oktober 1973 die Erdölproduzenten-Organisation OPEC die Öllieferungen in die westlichen Industrieländer einschränkte und der Ölpreis massiv anstieg, war die Abwärtsspirale nicht mehr aufzuhalten. Die hohen Preise für Öl und Energieträger begünstigten die Inflation zusätzlich. Es entstand Stagflation – die Wirtschaft stagnierte bei gleichzeitiger Inflation. Die sich ausbreitenden rezessiven Kräfte erreichten die schweizerische Volkswirtschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 1974 und trafen sie ausgesprochen hart. Im Jahr 1975 verzeichnete die Schweiz ein Negativwachstum von rund 7 Prozent. Es kam zu etlichen Zusammenbrüchen von Unternehmen. Ganze Regionen litten unter dem Zerfall wichtiger Firmen und Branchen. In der Folge mussten in der Schweiz rund 300 000 Arbeitsplätze bzw. rund 10 Prozent der Stellen abgebaut werden. Dieser Verlust an Arbeitsplätzen schlug sich aufgrund des starken Rückgangs der ausländischen Bevölkerung jedoch nicht in einer höheren Arbeitslosigkeit nieder. Es handelte sich aber dennoch um den schwersten Einbruch der Schweizer Volkswirtschaft seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Der Übergang zu flexiblen Wechselkursen stellte vorab die Schweizerische Nationalbank (SNB) vor eine grosse Herausforderung. Um der Inflation entgegenzutreten, schlug die SNB einen restriktiven Kurs ein und senkte die Wachstumsrate der Geldmenge im Jahr 1973 von 17,9 auf 2,3 Prozent.48 Die Inflation war rasch unter Kontrolle. Doch der Restriktionskurs verschlechterte die Rahmenbedingungen für die exportorientierte Wirtschaft. Die starke Aufwertung des Frankens liess die Preisvorteile der Schweizer Unternehmen auf den Weltmärkten schmelzen. Die Folge war, dass die exportorientierte Schweizer Volkswirtschaft im OECD-Vergleich sehr stark vom Konjunktureinbruch erfasst wurde. «Ich bekam es mit der Angst zu tun», hielt der damalige Nationalbankpräsident Fritz Leutwiler fest. «Die Textilindustrie lag am Boden, die Uhren kämpften mit bedrohlichen Problemen, die Maschinenindustrie klagte wegen des stratosphärischen Frankenkurses über grosse Schwierigkeiten.»49

 

Die Währungs- und Wirtschaftskrise von 1973 traf die Schweiz ausgesprochen hart.

2.2    Wettbewerbsfähigkeit wird zum Gegenstand der Wirtschaftspolitik

Niemand hatte damit gerechnet, dass die Schweizer Wirtschaft derart abrupt und stark in eine Krise rutschen könnte. Das Steuerungsdenken und die Planungseuphorie, welche die Wirtschaftspolitik noch in den 1960er-Jahren prägten, verflogen rasch. Schlagartig rückte die Sorge um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Unternehmen ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Debatte. Der Bundesrat gab 1974 eine Studie zur «Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz» am Beispiel der schweizerischen Metall- und Maschinenbauindustrie in Auftrag.50 Für die neue Legislatur 1975–1979 nahm sich die Landesregierung vor, «der Aufrechterhaltung und Verstärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unserer Exportindustrie»51 besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die konkrete wirtschaftspolitische Reaktion auf die Krise war allerdings durch Widersprüche gekennzeichnet. Auf der einen Seite setzte der Bundesrat auf Konjunkturstützungsmassnahmen und lancierte nach 1975 Investitions- und Beschäftigungsprogramme. Auf der anderen Seite aber begannen auch die 1973 beschlossenen Massnahmen zur Dämpfung der Konjunktur und die wegen der wachsenden Staatsverschuldung relativ restriktive Finanz- und Steuerpolitik zu wirken.52 Dem Bund gelang es nicht, eine kohärente Wirtschafts- und Finanzpolitik zu betreiben, was ihm Kritik von Ökonomen und Finanzwissenschaftlern einbrachte.53 Auch der Spitzenverband der Schweizer Wirtschaft, der Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrievereins, übte Kritik. Es gelte, in der Wirtschaftspolitik gründlich umzudenken. «Die Erhaltung der Wettbewerbskraft der schweizerischen Wirtschaft» müsse «das oberste Ziel der allgemeinen Wirtschaftspolitik» sein.54 «Um dieses Ziel zu erreichen, benötigt die Wirtschaft jedoch günstige Rahmenbedingungen, die nicht von ihr selber, sondern vor allem durch die Politik […] gesetzt werden.»55 Der Vorort forderte den Bundesrat auf, von einer Strukturerhaltungspolitik abzusehen und auch konjunkturpolitische Feuerwehrübungen zu unterlassen. Was die Unternehmen zur Wiedererlangung ihrer Wettbewerbsfähigkeit bräuchten, sei neben einer erfolgreichen Stabilitätspolitik mit einer geringen Inflationsrate vor allem ein günstiges Steuer-, Investitions- und Wettbewerbsklima.

Wettbewerbsfähigkeit als Ziel der Wirtschaftspolitik

Im Vergleich zu anderen Industrieländern gab es in der Schweiz keine intensive Debatte über die Frage, ob der Staat eine nachfrage- oder eine angebotsseitige Wirtschaftspolitik verfolgen soll. Die Schweiz hatte nur eine schwache keynesianische Tradition, sodass die Verlagerung von der nachfrageseitigen zur angebotsseitigen Wirtschaftspolitik schneller und reibungsloser vonstattenging als in anderen Industrieländern.56 Doch mit welchen angebotsseitigen Massnahmen könnte die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft am besten gestärkt werden? Und welche wären überhaupt mehrheitsfähig? Für den Bundesrat war klar, dass sich wirtschaftspolitische Massnahmen im Rahmen des korporatistischen Arrangements zwischen Bund und Wirtschaft bewegen müssten. Die Wirtschaftspolitik sollte zurückhaltend sein. So lehnten die Wirtschaftsverbände eine Industrie- und Strukturpolitik kategorisch ab. Sie kam auch für den Bundesrat nicht in Frage. EVD-Vorsteher Ernst Brugger betonte im September 1975, dass zwar eine regionale Strukturpolitik durchaus möglich sei, eine branchenmässige Strukturpolitik aber «noch heftiger umstritten sei als die Konjunkturpolitik».57 Aber auch eine stärker marktwirtschaftliche Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik kam nicht in Frage. Das korporatistische «Gentlemen’s Agreement» zwischen Export- und Binnenwirtschaft, zu dem auch die Tolerierung von privaten Kartellen zählte, liess eine solche Wirtschaftspolitik nicht zu.

Im Frühjahr 1977 schlug die Schweizerische Nationalbank dem Bund vor, angesichts der währungs- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen wissenschaftlichen Rat einzuholen. Der SNB schwebte eine von ihr und dem EVD getragene «Gesellschaft zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz» vor.58 Diese Forschungsgesellschaft sollte fundierte Analysen zur Wirtschaftslage erstellen, die vorhandenen Informationen methodisch vereinheitlichen und diese den Bundesbehörden und der Nationalbank im Sinne von Entscheidungshilfen...

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