1. Warum wollen wir überhaupt frei sein?
Der gewaltige Stein des Sisyphos
Auch den Sisyphos sah ich, der, starke Qualen ertragend,
Einen gewaltigen Stein mit beiden Armen daherschob.
Ja, fürwahr, mit Händen und Füßen dagegen sich stemmend,
Stieß er den Stein den Hügel hinan; doch wenn er ihn grade
Über den Gipfel zu wälzen gedachte, dann trieb seine Wucht ihn
Immer zurück, und der tückische Stein rollt' wieder zu Tale.
Aber er stieß ihn von neuem und strengte sich an, und der Schweiß rann
Ihm von den Gliedern herab, und Staub stieg über sein Haupt auf.
(Homer, Odyssee, 11. Buch, Vers 593–600, in: Hampe 1979b, S. 190f.)
Sisyphos, eine Gestalt aus der antiken griechischen Mythologie, können wir als den ersten Philosophen ansehen. Soweit wir wissen, hat er als Erster versucht, sich gegen eine göttliche Übermacht aufzulehnen und als Mensch sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Er wollte frei sein. Hierfür musste er mit dem qualvollen Schicksal büßen, das Homer in den zitierten Versen der Odyssee beschreibt. Sisyphos «strengte sich an», immer wieder denselben «gewaltigen Stein» den Hügel hinauf zu stemmen. Kaum war er kurz davor, ihn über den Gipfel zu wälzen, entglitt er ihm jedes Mal und rollte wieder den Hügel hinunter. Sisyphos musste seine Arbeit von neuem beginnen und ohne Erfolg wiederholen. Wie man sich vorstellen kann, bereitete ihm diese Arbeit «starke Qualen».
Warum aber sollten wir uns mit einem Sisyphos näher beschäftigen, der für sein Aufbegehren, wie es scheint, nichts als Qualen erlitt? War es überhaupt gut für ihn, frei sein zu wollen? Ist es gut für uns? Wäre es nicht besser, wenn durch irgendwelche Götter oder durch ein perfektes System alles für uns geregelt wäre, ohne dass wir uns um irgendetwas noch Gedanken machen und frei entscheiden müssten? Was wollen wir mehr, als sorglos nach unseren Wünschen leben und einfach glücklich sein? Die Glücksmaschine ist ein alter Traum der Menschheit und bis heute ein beliebtes Kinderspiel oder Gedankenexperiment der Philosophen: Was wäre, wenn uns wirklich alle, nicht nur einige Wünsche automatisch erfüllt würden, für die wir uns erst mühsam entscheiden müssten? Wären wir dann wunschlos glücklich, auch wenn wir uns nur in einer Illusion befänden? Man sollte sich zur Erfüllung eines solchen Traums aber nicht nach der Herrschaft der Götter Homers zurücksehnen. Denn seine Götter waren keine guten Herrscher, sondern unter sich zerstritten und den Menschen nicht immer wohlgesinnt. Auch die Vorstellung eines glücklichen Lebens unter der Herrschaft eines allwissenden, allmächtigen und allgütigen christlichen Gottes war spätestens seit dem verheerenden Erdbeben von Lissabon (1755), das schlimmes Unheil über Gerechte und Ungerechte brachte, für viele kaum mehr glaubwürdig. Der Versuch der Theodizee, als Rechtfertigung Gottes zu zeigen, dass seine Wege uns Menschen eben verborgen sind, ist für die meisten Menschen nicht überzeugend. Warum sollten wir uns trotz unserer Erfahrungen mit dem Übel in der Welt einem guten Gott anvertrauen?
Den Versuch, eine perfekte Herrschaft des Guten und des Glücks ohne die Risiken und Mühen freien menschlichen Selbstdenkens und Entscheidens zu errichten, beschreibt aus der Sicht der fortgeschrittenen wissenschaftlich-technischen Gesellschaft Dave Eggers in seinem Weltbestseller Der Circle (2014). Was von ihm als Dystopie einer totalitären Welt der Datenerfassung gemeint ist, gegen die George Orwells 1984 harmlos war, verstehen die Ingenieure des Circle in Eggers Buch als Utopie des paradiesischen Endzustandes menschlichen Zusammenlebens. Unter dem «Circle» verstehen sie den Zustand einer zukünftigen Gesellschaft, in dem ein geschlossener Informationsfluss über sämtliche vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse vorliegt und von jedermann abrufbar ist, ein Zustand, den Eggers bereits heute in Ansätzen verwirklicht sieht. Der Circle wäre ein optimales Service-System für die Benutzer und böte optimale Sicherheit und Wellness für alle, aber auch totale Kontrolle. Für Bailey, einen der Gründer und «weisen Männer» des Circle, zählt dabei der Verlust an Privatheit und Selbstdenken nicht. Nicht nur der Gewinn vollkommener Sicherheit und Sorglosigkeit, sondern auch der erhoffte Zustand vollkommener Moralität überwiegt für ihn alles: «Was wäre, wenn wir alle uns so verhielten, als ob wir beobachtet würden? Das hätte einen moralischen Lebenswandel zur Folge. Wer würde noch etwas Unethisches oder Unmoralisches oder Illegales tun, wenn er beobachtet würde? (…) wir wären endlich gezwungen, bessere Menschen zu sein. Ich glaube, die Menschen wären erleichtert. Es würde einen gewaltigen globalen Stoßseufzer der Erleichterung geben.» (Eggers 2014, S. 331) Nicht nur die moralischen Probleme, sondern auch die alten Geißeln der Menschheit wären verschwunden, wie der «weise» Bailey überzeugt ist: «Wir können jedes Problem lösen. Wir können jede Krankheit heilen, den Hunger besiegen, alles, weil wir uns nicht mehr von unseren menschlichen Schwächen behindern lassen.» (S. 333)
Selbst wenn man die kaum realistische Prämisse akzeptiert, dass «jedes Problem» durch optimales Wissen und totale Transparenz gelöst werden könne, ist die Circle-Utopie aus mehreren Gründen unhaltbar: Erstens unterstellt sie einen physikalisch gesehen unmöglichen lückenlosen Determinismus sämtlicher physischen und psychischen Vorgänge (vgl. Kapitel 9); zweitens klammert sie das Problem aus, wer die Kontrolleure kontrolliert, ob sie wirklich auch selber ihre eigenen Handlungen transparent machen und somit «moralisch» sind; drittens lässt sie offen, ob Moralität mit Legalität gleichzusetzen und ohne Zustimmung des Einzelnen möglich ist; außerdem, so viertens, rechnet sie nicht damit, dass Menschen trotz aller zugegebenen Vorzüge des «Circle» misstrauisch sind, ob wirklich alles für sie bestens geregelt ist; fünftens übersieht sie, dass viele Menschen selber entscheiden wollen, was für sie wünschenswert ist und was nicht. Insgesamt reduziert die Circle-Utopie den Menschen auf eine Marionette, die alles mit sich geschehen lässt, ohne frei selber denken zu können und auch nur zu wollen. Möglicherweise missachtet sie damit einen entscheidenden Selektionsvorteil der Evolution, den menschliche Lebewesen durch ihre Fähigkeit besitzen, sich auf ihre Entscheidungen zurückzubeziehen und dabei flexibel auch unerwartete Anomalien zu berücksichtigen (Welsch 2012, 8. Vorlesung).
In der philosophischen Tradition und in unserem lebensweltlichen Selbstverständnis verstehen wir unter diesem evolutionären Überlebensvorteil der Reflexion die Besonderheit menschlicher «Autonomie» und «Würde» (vgl. Kapitel 8). Die meisten Menschen wollen nicht wie eine Marionette funktionieren und gelenkt werden, sondern bewusst und selbstbewusst leben, das heißt, sich selbst und ihren Lebensweg frei bestimmen. An dem elementaren Interesse an Freiheit ändert auch die Tatsache nichts, dass ein freies und gutes Leben das Überleben-Können zur Voraussetzung hat. Beides steht oft in einem Konflikt miteinander. Trotz der Gefahr, im Kampf gegen die Götter sein Leben zu verlieren, entschied sich Sisyphos für seine Freiheit und musste mit seiner äußeren Unfreiheit dafür büßen. Selbst wenn er vermutlich nicht über das grundsätzliche Problem «mühselige Freiheit oder glückliche Knechtschaft» intensiv nachgedacht hat, kann er wegen der Wahl seiner Lebensweise als erster Philosoph gelten.
Von Sisyphos wissen wir vor allem aus der Odyssee Homers, der vermutlich im achten vorchristlichen Jahrhundert gelebt hat. Nach dem Sieg der Griechen gegen Troja irrte Odysseus jahrelang umher, bis er endlich in sein Königreich, die Insel Ithaka, und zu seiner Frau Penelope zurückkehren konnte. Neben vielen anderen Abenteuern verschlug es ihn bei seiner Irrfahrt auch in die Unterwelt. Homer beschreibt, wie Odysseus im Hades, in der Schattenwelt des Todes, außer dem bejammernswerten Schicksal vieler anderer gefallener Helden aus dem siegreichen Kampf der Griechen gegen Troja auch die Qualen des Sisyphos mitbekam. Bei Homer erfahren wir nichts über dessen sonstiges Leben. Aus anderen antiken Quellen wissen wir jedoch, dass Sisyphos als König von Korinth einst ein mächtiger Herrscher unter den Menschen gewesen war (Seidensticker/Wessels 2001). In Überschätzung seiner eigenen Macht hatte er sich gegen Zeus gestellt, den obersten Herrscher aller Götter und Menschen, und hatte obendrein die Götter gegeneinander ausgespielt. Sisyphos hatte nämlich beobachtet, dass Zeus die schöne Aigina entführte, die Tochter des Flussgottes Asopos, und verriet diese Tat ihrem Vater. Als Belohnung musste Asopos dem Sisyphos versprechen, auf dessen Burg von Korinth eine frische Wasserquelle zu schlagen. Als Zeus von dem Verrat des Sisyphos erfuhr,...