Prolog
»Und er kann töten, ohne zu berühren«
Wien, 14. Januar 1892
Der 14. Januar 1892, der Tag, an dem der 23-jährige Stefan George den 17-jährigen Gymnasiasten Hugo von Hofmannsthal ultimativ aufforderte, sich endlich mit ihm zu treffen, war ein Donnerstag. Anfang der Woche war George wieder einmal umgezogen: von der Garnisongasse drei Straßen weiter in die Wasagasse, Ecke Türkenstraße, wo er bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Wien ein Dreivierteljahr zuvor Quartier gefunden hatte. Ein Bote war bestellt. Der Brief, den George in der Nacht geschrieben und dann auf »donnerstag morgen« datiert hatte, sollte in den 3. Bezirk ans andere Ende der Stadt gebracht werden. Er steckte, ohne jede Anrede, ohne jede Grußformel, bereits im Couvert, als dem Verfasser Zweifel kamen, ob der Adressat den Ernst der Lage erfasse. »Bitte diesen brief zu lesen um die unangenehmsten folgen zu verhüten«, schrieb George mit Bleistift auf einen Zettel und legte ihn dem Brief bei. Der Dienstmann, der etwa eine halbe Stunde in die Salesianergasse brauchte, sollte dort auf Antwort warten.
Also auf etwas hin und gott weiss welches etwas »das Sie verstanden zu haben glauben« schleudern Sie einem gentleman der dazu im begriff war Ihr freund zu werden eine blutige kränkung zu. Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein, selbst jeden verbrecher hört man nach den schreiendsten indizien. Sie sehen ich rede ganz gesezt und wenn Sie nach einigen tagen gelassen denken oder nach jahren so werden Sie mir (mit Ihren werten eltern deren einziges kind Sie sind!) sehr verbunden sein dass ich soviel ruhe bewahrte und nicht sofort das veranlasse was mit Ihrem oder meinem tod endet1
Am Abend zuvor war Stefan George zum wiederholten Mal im ersten Stock der Salesianergasse vorstellig geworden, um nach dem jungen Herrn von Hofmannsthal zu fragen. Dieser hatte ihm am Dienstag zwar einige Bücher geschickt, Georges inständigem Bitten um ein Treffen war er jedoch seit Tagen ausgewichen. Seit seinem Besuch in dessen Pension an Heiligabend hatte sich Hofmannsthal mehrmals verleugnen lassen. George war nur seinetwegen über die Feiertage in Wien geblieben, wartete aber vergeblich; am 14. Januar war seine Geduld erschöpft.
Bevor George im März 1891 sein Studium an der Wiener Universität aufnahm, hatte er sich eine kleine Reise nach Verona und Venedig gegönnt. Zwei in Venedig entstandene Gedichte legen die Vermutung nahe, dass Georges Hang zur Schwermut dort erheblich verstärkt wurde. Das eine der beiden »Gesichte« endet:
Ich darf so lange nicht am tore lehnen,
Zum garten durch das gitter schaun,
Ich höre einer flöte fernes sehnen,
Im schwarzen lorbeer lacht ein faun.2
Das andere Gedicht berichtet im Ton der Ballade von einer schönen und stolzen Venezianerin, die sich mit allem erdenklichen Luxus umgibt, um auf diese Weise der ganzen Stadt, insbesondere ihrem greisen Galan, Unnahbarkeit zu demonstrieren. Am Ende hält sie die Rolle der pompösen Frigiden jedoch nicht durch und gibt sich »in verhangenem gemach« einem namenlosen Liebhaber hin; nach dem Akt empfindet sie Schmach. In ihrer Verzweiflung, der glanzvollen Rolle nicht länger entsprechen zu können, sieht sie den einzigen Ausweg darin, sich öffentlich zu demütigen: Besser, alle Welt erfährt, dass sie hier liege, »niedrig und gebrochen«, als dass ein Einzelner sich anmaßt, den Sieg über sie davongetragen zu haben. Ein sprödes, herrisches Wesen und ein bis an die Grenze der Selbstzerstörung getriebener Hochmut: Das Bild der Venezianerin trägt durchaus autobiographische Züge.3
In Wien, wo er zum Frühjahrsbeginn aus Venedig eintraf, fühlte sich George von Anfang an einsam. Er kannte niemanden und verfügte über keine Empfehlungsschreiben. Auf langen Spaziergängen habe er die ihn südlich anmutende Stadt und ihre Umgebung erkundet, wusste der von George autorisierte Biograph Friedrich Wolters 1930. Er habe Museen besucht, viel gelesen – mit Vorliebe Texte deutscher Romantiker -, Baudelaire übersetzt, und gelegentlich warf er wohl auch einen Blick in den Hörsaal. Die Gedichte, die in diesen Monaten entstanden, zeugen von wüsten Versuchungen und Allmachtsphantasien bis hin zu schrillen Obsessionen:
Vor deinen schuhen stammelt man den eid,
Entführte weiber weinen ihren gram
Und eine, wirr im schrecken, ohne scham
Zerreisst vor deinem herrenblick ihr kleid.4
Die Sommerferien verbrachte George zu Hause am Rhein. Auf dem Weg von Wien nach Bingen legte er ein paar Wandertage in Oberbayern ein und besuchte aus einer »dunklen Neigung«5 zu dem fünf Jahre zuvor verstorbenen Bayernkönig Ludwig II. Schloss Linderhof. Obwohl er nach der Besichtigung »an heftigem seelenkatarrh« litt,6 erhielt er doch entscheidende Anregungen zu einem neuen Gedichtband Algabal. Anfang September brach er eine Reise nach London in großer Erregung vorzeitig ab, fuhr anschließend zwei Wochen nach Paris und kehrte dann über Berlin Ende Oktober nach Wien zurück. Auch jetzt fand er nirgendwo Anschluss. Von innerer Unruhe getrieben, durchstreifte er abends die Straßen und dürfte die Verachtung der Welt ähnlich tief empfunden haben wie seine schöne Venezianerin. Der Abwehrmechanismus war der gleiche. Nicht er trug Schuld an seiner Vereinsamung, sondern die Stadt hatte nichts anderes verdient, als mit Nichtachtung gestraft zu werden. Wien sei doch gar nicht mit Paris zu vergleichen, schrieb er nach seiner Flucht Mitte Januar an Marie Herzfeld: »Ich gedeihe nicht unter jenen (grösstenteils) zeitungsschreibern ohne jedes musikalische oder malerische interesse.« In Paris lebten die Dichter, »die wahre künstler zugleich sind«.7 Solche wie er.
Bis zur Begegnung mit Hofmannsthal Mitte Dezember 1891 ist Marie Herzfeld der einzige Kontakt Georges in Wien, von dem wir wissen. Die 36-jährige Übersetzerin zeitgenössischer skandinavischer Literatur, die gelegentlich auch in der Wiener Mode publizierte, hatte er im November über seine Zimmerwirtin in der Garnisongasse kennengelernt. Marie Herzfeld »besäße die Einfühlsamkeit, ihn zu verstehen«, hatte die Wirtin ihm gesagt, und in der Hoffnung, sie werde seine Gedichte besprechen, suchte George sie auf. Zwar konnte Marie Herzfeld mit seinen Versen nur wenig anfangen – »was er sagt, ist besser, als was er schreibt« -, aber ihn selbst empfand sie als so interessant, dass sie sich mehrmals mit ihm traf.
Vielleicht durch einen Hinweis von Marie Herzfeld, die zum Kreis der Mitarbeiter der Modernen Rundschau zählte, vielleicht auch durch Lektüre, wurde George Anfang Dezember auf Hugo von Hofmannsthal aufmerksam. Weil österreichischen Gymnasiasten das Publizieren verboten war, veröffentlichte er fleißig unter Pseudonymen wie Theophil Morren, Loris Melikow oder einfach Loris. George hat wohl am meisten das kleine Versdrama Gestern angesprochen.8 Das im Oktober und November in der Modernen Rundschau gedruckte Stück, dessen Buchausgabe Hofmannsthal an Weihnachten George zum Geschenk machte, zeigte trotz gewisser Holprigkeiten einen neuen lyrischen Ton.
Eine ausführliche Schilderung ihrer ersten Begegnung gab Hofmannsthal selbst kurz vor seinem Tod. Auch wenn sich aufgrund des zeitlichen Abstands Irrtümer eingeschlichen hatten, ist die Stimmung jenes Dezemberabends vermutlich recht genau getroffen. Im Café – »es war dieses berühmte Griensteidl, wo ich oft hinging, u. waren damals sehr viele
junge Leute da« – habe ihm eines Tages jemand erzählt,
es sei jetzt ein Dichter Stefan George in Wien, der aus dem Kreise von Mallarmé komme. Ganz ohne Vermittlung durch Zwischenpersonen kam dann George auf mich zu: als ich, ziemlich spät in der Nacht, in einer englischen revue lesend, in dem Café sass, trat ein Mensch von sehr merkwürdigem Aussehen, mit einem hochmütigen leidenschaftlichen Ausdruck im Gesicht (ein Mensch der mir weit älter vorkam als ich selber, so wie wenn er schon gegen Ende der Zwanzig wäre) auf mich zu, fragte mich, ob ich der und der wäre – sagte mir, er habe einen Aufsatz von mir gelesen, und auch was man ihm sonst über mich berichtet habe, deute darauf hin, dass ich unter den wenigen in Europa sei (und hier in Oesterreich der Einzige) mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei.9
Folgt man der Darstellung Hermann Bahrs, so trat George keineswegs auf Hofmannsthal zu. Um 1910, also knapp zwanzig Jahre vor Hofmannsthals eigenem Bericht, erzählte er dem jungen Herbert Steiner: »Er [George] schickte ein paar Worte zu Hofmannsthal herüber und der setzte sich an seinen Tisch und war ganz begeistert von ihm.«10 Wichtiger als die Nuance, wer sich zu wem an den Tisch setzte, ist der in beiden Quellen übereinstimmende Hinweis, dass Georges äußere Erscheinung als ungewöhnlich registriert wurde und ihm der Ruf vorauseilte, er komme direkt aus Paris. Das machte George sogar für die anspruchsvolle Wiener Szene interessant. »Er fiel uns allen auf durch seinen ungewöhnlichen Kopf und durch ein viereckiges Monokel, das er von Paris mitbrachte.« George, so fasste Steiner die verschiedenen Berichte später knapp und treffend zusammen, saß »abseits, beobachtend, nicht ganz unbeobachtet«.
Jeder beobachtete freilich etwas anderes. In den Tagen, in denen George und Hofmannsthal sich kennenlernten, arbeitete Hermann Bahr an seinem Aufsatz »Loris«, der im Januar in der Freien Bühne erschien und den jungen Dichter mit einem Schlag bekannt machte. Bahr zeichnete ein Porträt, »wie Watteau oder Fragonard es gemalt hätte«,...