Sterben
Ich bin Rola, die stirbt. In meinem eigenen Blut sitze ich auf dem Boden. Vier Löcher sind in meinem Körper. Die brennen. Das Loch in meiner Hand brennt so sehr, dass die Hand pocht und pocht. Sie steckt in meinem Boxhandschuh. Gerade noch wollte ich um die Weltmeisterschaft boxen, jetzt kämpfe ich ums Überleben. Vor mir sitzt mein Vater, er hält die Pistole in der Hand, mit der er auf mich geschossen hat. Die schwarze Pistole. Ich flehe. Nicht einmal um mein Leben. Nur, dass er mir diesen verdammten Handschuh auszieht. Nur das. Mein Vater hat auf mich geschossen, aber jetzt hilft er mir. Dann sitze ich wieder da in meinem Blut. Wie kann jemand so etwas tun? Ein Vater, der auf seine eigene Tochter schießt. Das ist kein Mensch mehr. Das ist ein Unmensch.
Ich bin Rola El-Halabi aus Ulm. Seit dem 1. April 2011 kennt mich alle Welt als die Boxweltmeisterin, der von ihrem eigenen Stiefvater in die Hand, das Knie und beide Füße geschossen wurde. Weil mein Stiefvater meinen Freund nicht akzeptieren wollte und ich ihn deshalb als Manager entlassen hatte, so stand es in der Presse.
Aber das alles ist nicht ganz richtig. Es war auch nicht ganz so einfach. Nicht mein Verlobter Kosta ist schuld an dem, was mir passiert ist. Mein Vater ist es. Er allein. Und ja, es ist mein Vater, nicht mein Stiefvater. Er hat meine Schwester und mich adoptiert, er war uns immer ein Vater, unser Papa. Er war auch mein Manager, hat mich zum Boxen gebracht, bis zur Weltmeisterschaft. Doch irgendwo auf diesem Weg ist etwas schiefgegangen. Bis wir uns dann in dieser Kabine in Berlin-Karlshorst gegenübersitzen, er mit der Pistole in der Hand, ich mit vier Löchern im Körper, fassungslos.
Mein Privatleben kennt heute die halbe Welt. Jeder konnte das Bild in der Zeitung sehen, wie ich in der Intensivstation liege, halb nackt und vollgepumpt mit Schmerzmitteln. Alle haben diskutiert über meinen Vater, meinen Freund, meine Karriere, mich. Jeder glaubt, ohnehin alles zu wissen. Es wäre falsch von mir, mich jetzt abzuschotten. Ich werde weiterhin sagen, was ich denke, und zeigen, wer ich bin, frei Schnauze und immer echt. Warum auch sollte ich jetzt damit anfangen, an einem Image von mir zu basteln? Ich bin so, wie ich bin, ich bin mein Image, und mein Image ist Rola. Perfekt gestylt sein, immer das Richtige sagen, eine Rolle spielen – das liegt mir nicht. Wir sind doch alle nur Menschen. Ruhm? Brauche ich nicht. Mein Sport bringt ihn mit sich, daher muss ich auch mit ihm umgehen. Aber wichtig ist er nicht für mich. Ich bin nicht gerne im Mittelpunkt. Doch wenn ich jetzt schon einmal auf der öffentlichen Bühne stehe, kann ich auch einfach erzählen, was mir passiert ist. Die ganze Wahrheit – die vielleicht anderen Mut macht, sich durchzukämpfen. Wie ich.
Denn obwohl mein Vater vier Mal auf mich geschossen hat, kann ich heute sagen: Es geht mir gut. Wenn ich jetzt erzähle, wie ich auf dem Boden dieser Kabine in meinem Blut sitze, ist das schon fast wie ein Film, der da vor mir abläuft. Als ob ich von außen dabei zusehe, wie alles passiert. Als wäre mein Leben ein Film. Es macht mich nicht mehr kaputt, wenn ich davon erzähle. Deshalb dürfen nach der Polizei, meinen Liebsten und meinen Freunden auch alle anderen wissen, wie es dazu kommen konnte. Und warum ich heute auch sagen kann: Ich bin froh, dass mir das passiert ist.
Ich brauche mich nicht zu verstecken. Ich kann und werde mich nicht verstellen. Ich werde alles von Anfang an erzählen. Ich stehe zu dem, was ich bin und was mir passiert ist. Ich bin Rola El-Halabi, und das ist meine Geschichte.
Kindheit in Ulm
Normalität? Kenne ich nicht. Schon seit meiner Geburt hat es in meinem Leben immer nur Extreme gegeben. Eine Kindheit hatte ich eigentlich nicht. Zumindest keine, wie man sie sich vorstellt. Ich bin nie wirklich Kind gewesen, durfte es nie sein. Aber ich sage auch ganz bewusst nicht, dass ich eine schlechte Kindheit gehabt hätte. Das stimmt nämlich nicht.
An meine alte Heimat, den Libanon, habe ich keine Kindheitserinnerung mehr. Denn meine Eltern sind nach Deutschland gegangen, als ich ein paar Monate alt war. Das war 1986. Damals war Bürgerkrieg im Libanon. Soldaten der Milizen patrouillierten durch Beirut, meine Geburtsstadt. Sie lag in Schutt und Asche, als ich geboren wurde. Meine Eltern waren den Krieg leid und sind mit mir nach Deutschland geflüchtet, haben sich in Ulm niedergelassen.
Meine Mutter wurde wieder schwanger, aber die Ehe meiner Eltern war da schon am Ende. Mein leiblicher Vater hat meine Mutter geschlagen und war nicht einmal bei der Geburt meiner Schwester Katja dabei. Unser späterer Stiefvater, auch ein Exil-Libanese, war der Erste, der sie nach der Geburt auf den Arm genommen hat. Meine Mutter hatte ihn über gemeinsame Bekannte kennengelernt. Mein leiblicher Vater hat sich nicht um uns gekümmert. Irgendwie ist er nie wirklich angekommen in Deutschland, in Ulm. Und meine Mutter hat ihn nie geliebt. Sie musste ihn heiraten, weil ihre Familie das so bestimmt hatte.
Katja, meine Schwester, ist zweieinhalb Jahre jünger als ich. Als sie ein paar Monate alt war, verließ uns unser leiblicher Vater und kehrte in den Libanon zurück. Da war ich etwa dreieinhalb Jahre alt. Er war also nur drei Jahre lang in Deutschland. Mein Stiefvater hat dann bald seinen Platz in der Familie eingenommen, wir sind von klein auf mit ihm groß geworden. Ein Glück war das, auch für meine Mutter. Eine alleinstehende arabische Frau mitten in Deutschland, mit zwei Kindern – sie hätte es sicher schwer gehabt, einen anderen Partner zu finden. So aber war jemand da, der für die Familie sorgte, der Geld nach Hause brachte, sodass sie sich um den Haushalt und um uns kümmern konnte. Papa hat uns Mädchen nicht nur angenommen, er hat uns adoptiert und wie seine eigenen Kinder behandelt, von Anfang an. Streng war er mit uns, aber auch gut zu uns. Wir Kinder hatten ein schönes Leben. Meistens jedenfalls.
Wir wohnten in einer Mietwohnung in Ulm, ziemlich nah zur Stadtmitte, in Söflingen. Ich ging in einen Kindergarten, hatte vor allem deutsche Freunde zum Spielen, auch eine Türkin und eine Bosnierin. Es war meinen Eltern wichtig, dass wir nicht nur arabische Freunde und Bekannte hatten. Wir waren integriert. Darauf legten meine Eltern viel Wert. Wer in Deutschland lebt, soll sich auch deutsch benehmen, deutsch leben, meinten sie. Aber im Grunde hatten wir wenige Freunde. Die meiste Zeit verbrachten wir gemeinsam, als Familie. Jeden Sonntag war Familientag, und das genossen wir sehr.
Auch das Leben in Ulm liebten wir, lieben es immer noch. Ulm ist meine Heimatstadt. Sie hat genau die richtige Größe. Hier hat man alles, die Infrastruktur passt, und für die Touristen haben wir den höchsten Kirchturm der Welt. Es gibt eine wunderschöne Altstadt, und die Leute sind sehr angenehm. Typisch Süddeutschland eben – manchmal ein wenig verschlossen, aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Ulm, das ist mein Zuhause. Ich bin, auch durch den Sport, schon viel herumgereist in der Welt und in Deutschland, aber ich könnte mir nicht vorstellen, in irgendeiner anderen deutschen Stadt zu leben.
An jeder Ulmer Straßenecke hängt für mich eine persönliche Erinnerung. Etwa am Eingang unseres Söflinger Mietshauses. Dort lag oft der Hund des Vermieters auf der Lauer, ein wilder Riesenschnauzer. Der Vermieter, ein richtig unfreundlicher Mensch, wusste, dass wir Kinder Angst vor dem Hund hatten, und ich glaube, er ließ den Hund extra raus. Immer wenn wir ins Haus wollten, mussten wir Kinder also an dem Hund vorbei, und weil wir Angst hatten, rannten wir. Als der Schnauzer noch jung war, lief er hinter uns her, bis in den dritten Stock hinauf. Der Hund stand manchmal sogar noch vor unserer Wohnungstür, und wir schrien wie die Irren, dass er uns sicher auffressen würde. Hat er aber natürlich nicht. Das war eine unserer Kindheitsgeschichten.
Als ich in die Schule kam, war dann alles nicht mehr so lustig. Ich hatte als Kind überhaupt kein Selbstbewusstsein und sagte zu allem Ja und Amen, auch dann,, wenn es mir nicht passte. Die anderen Kinder in der Schule nutzten das gnadenlos aus. Wenn einem Mitschüler mein Füller gefiel, kam er schon mal und sagte: »Ah, der gehört jetzt mir.« Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Die anderen Kinder nahmen mir meine Sachen weg, und ich schwieg. Dann begannen sie, mich zu hänseln. Mit Mädchen hatte ich keine Probleme, aber da gab es ein, zwei Jungs, die einfach ständig Ärger machten. Zudem war ich auch noch sehr sensibel und fing schnell an zu weinen. Klar, dass die Kinder dann einen draufsetzten und »Heulsuse!« riefen. In der ersten Klasse war ich daher der Depp vom Dienst.
Meine Mama musste ständig neue Schulsachen kaufen, weil die Kinder mich beklauten. Zu Hause sagte ich aber, ich hätte die Sachen verloren oder sie wären kaputtgegangen. Meinen Eltern zu erzählen, was wirklich los war, traute ich mich nicht. Stattdessen erfand ich diese Geschichten.
Eines Tages aber holte mich meine Mutter von der Schule ab und sah, wie es mir erging. Sie wartete sonst immer auf dem Parkplatz auf mich, aber an diesem Tag war sie früher als sonst da und kam bis in den Schulhof. Wie immer war ich das Opfer. Als ich aus dem Schulhaus kam, nahmen mir die Jungs meine Schultasche und meinen Turnbeutel weg und begannen, sie auf dem Boden hin und her zu kicken. Ich musste dann von einem zum anderen rennen und betteln, dass sie mir meine Sachen wiedergaben. Meine Mama sah an diesem Tag zum ersten Mal, wie sie mit mir umsprangen.
Da nahm sie sich die beiden Jungs zur Brust. So impulsiv und wütend hatte ich meine Mama bisher nicht...