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Still

Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt

AutorSusan Cain
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783641106218
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Selbstsicheres Auftreten und die Beherrschung von Small Talk sind nicht alles. Susan Cains glänzendes Plädoyer für die Qualitäten der Stillen.
'Ein leerer Topf klappert am lautesten'. Aber wer der Welt etwas Bedeutendes schenken will, benötigt Zeit und Sorgfalt, um es in Stille reifen zu lassen. 'Still' ist ein Plädoyer für die Ruhe, die in unserer Welt des Marktgeschreis und der Klingeltöne zu verschwinden droht. Und für leise Menschen, die lernen sollten, zu ihrem 'So-Sein' zu stehen. Ohne sie hätten wir heute keine Relativitätstheorie, keinen 'Harry Potter', keine Klavierstücke Chopins, und auch die Suchmaschine 'Google' wäre nie entwickelt worden. 'Still' baut eine Brücke zwischen den Welten, kritisiert aber das gesellschaftliche Ungleichgewicht zugunsten der Partylöwen und Dampfplauderer. Es herrscht eine 'extrovertierte Ethik', die stille Wasser zwingt, sich anzupassen oder unterzugehen. Ihre Eigenschaften - Ernsthaftigkeit, Sensibilität und Scheu - gelten eher als Krankheitssymptome denn als Qualitäten. Zu unrecht, sagt Susan Cain, und stellt sich gegen den Trend, der 'selbstbewusstes Auftreten' verherrlicht. 'Still' ist das Kultbuch für Introvertierte, hilft aber auch Extrovertierten, ihre Mitmenschen besser zu verstehen.

Entdecke auch das Arbeitsbuch Still - So entdecken introvertierte Menschen Schritt für Schritt ihre Stärken von Susan Cain.

Susan Cain studierte an der Harvard Law School und der Princeton University und arbeitete danach als Anwältin für Körperschaftsrecht in einem Wall-Street-Unternehmen, wo sie Kunden wie Goldman Sachs und GE Capital vertrat und die Verhandlungen für Milliarden-Dollar-Geschäfte führte. Seit über zehn Jahren ist sie als Trainerin für Verhandlungsführung tätig und hat eine eigene Beratungsfirma, The Negotiation Company. Humanistisch-ethische Prinzipien sind ihr wichtig in ihrer Arbeit, und sie geht davon aus, dass das Gelingen von Verhandlungen Selbsterkenntnis voraussetzt.

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Leseprobe

EINLEITUNG


Der Norden und der Süden des Temperaments


Montgomery, Alabama, 1. Dezember 1955 am frühen Abend. Ein Linienbus hält an einer Haltestelle, und eine schlicht gekleidete Frau in den Vierzigern steigt ein. Ihre Haltung ist aufrecht, obwohl sie sich den ganzen Tag lang über ein Bügelbrett im schäbigen Schneideratelier im Souterrain des Fair-Kaufhauses in Montgomery gebeugt hat. Ihre Füße sind geschwollen, ihre Schultern schmerzen. Sie setzt sich in die erste Reihe des für Farbige vorgesehenen Teils und schaut still zu, wie sich der Bus mit Fahrgästen füllt – bis der Fahrer sie auffordert, ihren Platz für einen weißen Fahrgast zu räumen.

Die Frau sagt ein einziges Wort, das eine der wichtigsten Bürgerrechtsbewegungen des 20. Jahrhunderts ins Rollen bringt, ein Wort, das Amerika hilft, sein besseres Selbst zu entdecken. Das Wort lautet: »Nein.«

Der Fahrer droht ihr an, sie verhaften zu lassen.

»Das können Sie ruhig tun«, sagt Rosa Parks.

Ein Polizist erscheint. Er fragt Parks, warum sie nicht aufsteht.

»Warum werden wir immer von euch allen herumgeschubst?«, erwidert sie schlicht.

»Keine Ahnung«, sagt er. »Aber das Gesetz ist das Gesetz. Sie sind verhaftet.«

Am Nachmittag der Gerichtsverhandlung, in der Rosa Parks wegen zivilen Ungehorsams verurteilt wird, hält die »Montgomery Improvement Association« eine Kundgebung für Parks in der baptistischen Kirche im ärmsten Viertel der Stadt ab. 5000 Leute versammeln sich, um Parks einsamen Akt der Courage zu unterstützen. Sie drängen sich in der Kirche zusammen, bis in den Bänken kein Platz mehr ist. Die anderen warten geduldig draußen und verfolgen die Vorgänge über Lautsprecher. Der Reverend Martin Luther King Jr. wendet sich mit seinem mitreißenden Bariton an die Zuhörer: »Es kommt eine Zeit, in der die Menschen es satthaben, von den bleiernen Stiefeln der Unterdrückung niedergetrampelt zu werden«, sagt er. »Es kommt eine Zeit, in der die Menschen es satthaben, aus dem strahlenden Julilicht des Lebens in die schneidende Kälte eines Hochgebirgsnovembers verbannt zu werden.«

Er lobt Parks Tapferkeit und umarmt sie am Ende seiner Rede. Sie steht schweigend da, und ihre bloße Gegenwart reicht aus, um die Zuhörer zu elektrisieren. Die Assoziation ruft zu einem stadtweiten Busboykott auf, der 381 Tage anhält. Die Menschen gehen kilometerweit zu Fuß zur Arbeit. Sie teilen sich mit Fremden ein Auto. Sie ändern den Lauf der amerikanischen Geschichte.1

Ich hatte mir Rosa Parks immer als kräftige Person mit einer dröhnenden Stimme und einem kämpferischen Temperament vorgestellt, als Frau, die einer Busladung von finster dreinblickenden Fahrgästen leicht standhalten konnte. Aber als sie 2005 im Alter von 92 Jahren starb, wurde sie in den zahllosen Nachrufen als sanft, freundlich und von kleiner Statur beschrieben. Es hieß, sie sei »schüchtern und scheu« gewesen, aber habe »einen Löwenmut« gehabt. Die Nachrufe steckten voller Formulierungen, wie »radikale Demut« und »stille Tapferkeit«. Was heißt es, still und tapfer zu sein, steckte als implizite Frage hinter diesen Schilderungen.

Parks selbst schien sich dieses Paradoxes bewusst gewesen zu sein, denn sie nannte ihre Autobiografie Quiet Strength (»Stille Stärke«) – ein Titel, der uns herausfordert, unsere Vorstellungen infrage zu stellen.2 Warum sollte ein Mensch nicht gleichzeitig still und stark sein? Und was sonst können die Stillen bewirken, das wir ihnen im Allgemeinen nicht zutrauen?

 

Unser Leben wird von unserer Persönlichkeit ebenso tief beeinflusst wie von unserer ethnischen Herkunft und Geschlechtszugehörigkeit. Der wichtigste Aspekt der Persönlichkeit – der »Norden und der Süden des Temperaments«,3 wie ein Wissenschaftler es nennt – hängt davon ab, wo wir unseren Platz auf dem Spektrum der Extra- und Introversion finden. Dieser Platz beeinflusst, welche Freunde und Partner wir wählen, wie wir miteinander reden, Konflikte lösen und Liebe ausdrücken. Er wirkt sich auf unsere Berufswahl und unsere Karriere aus. Er bestimmt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir Sport treiben, Ehebruch begehen4, ohne Schlaf auskommen, aus unseren Fehlern lernen, riskante Börsenspekulationen wagen, gute Führungsqualitäten besitzen und fragen: »Was, wenn …?«.a Er spiegelt sich in den Nervenbahnen und Neurotransmittern unseres Gehirns bis in die hintersten Winkel unseres Nervensystems wider. Heutzutage sind die Introversion und Extraversion zwei der am gründlichsten erforschten Gebiete der Persönlichkeitspsychologie,5 zu denen Hunderte von Wissenschaftlern einen Beitrag geleistet haben.

Die Forscher haben mithilfe der neuesten Technologien aufregende Entdeckungen gemacht, doch diese reihen sich in eine lange und berühmte Tradition ein. Dichter und Philosophen haben über Introvertierte und Extravertierte seit den Anfängen der Zeitrechnung nachgedacht. Man findet beide Persönlichkeitstypen in der Bibel wie auch in den Schriften griechischer und römischer Ärzte,6 und einige Evolutionspsychologen sagen, die Geschichte dieser Persönlichkeitstypen reiche noch weiter zurück. Wie wir sehen werden, gibt es introvertierte und extravertierte Exemplare in allen Gattungen des Tierreichs, angefangen von den Fruchtfliegen über den Gemeinen Sonnenbarsch bis hin zu den Rhesusaffen.7 Wie es auch für andere Komplementärpaare gilt – männlich und weiblich, Ost und West, liberal und konservativ –, wäre die Menschheit ohne beide Persönlichkeitstypen nicht dieselbe und erheblich verarmt. Nehmen Sie das Gespann von Rosa Parks und Martin Luther King: Ein glänzender Redner, der es abgelehnt hätte, seinen Sitzplatz in einem Bus mit Rassentrennung aufzugeben, hätte nicht dieselbe Wirkung erzielt wie eine bescheidene Frau, die lieber im Hintergrund geblieben wäre, hätte die Situation sie nicht zum Handeln gezwungen. Rosa Parks hätte nicht das Zeug gehabt, die Massen zu aktivieren, wenn sie aufgestanden wäre, um zu verkünden, sie habe einen Traum gehabt. Aber durch Kings Hilfe brauchte sie es auch nicht zu tun.

Doch heutzutage geben wir nur einem bemerkenswert kleinen Spektrum von Persönlichkeitstypen Raum. Uns wird eingeredet, dass Menschen von Bedeutung eine forsche Art haben und dass Glück mit Kontaktfreudigkeit einhergeht. Wir Amerikaner betrachten uns als eine Nation von Extravertierten und haben damit aus den Augen verloren, wer wir wirklich sind. Je nachdem, welche Studie Sie zu Rate ziehen, sind ein Drittel bis die Hälfte aller Amerikaner introvertiert8 – das heißt, jeder Zweite oder Dritte in unserem Bekanntenkreis. (Da die USA nachgewiesenermaßen zu den extravertiertesten Ländern überhaupt gehören, ist der Anteil der Introvertierten weltweit mindestens ebenso hoch.)

Wenn diese Zahlen Sie überraschen, dann liegt es wahrscheinlich daran, dass sehr viele Menschen vorgeben, extravertiert zu sein. Verkappte Introvertierte tummeln sich unbemerkt auf Spielplätzen, in den Umkleideräumen von Turnvereinen und auf den Fluren großer Unternehmen. Manche machen sich sogar selbst etwas vor, bis sie von irgendeinem Ereignis im Leben – dem Verlust des Arbeitsplatzes, dem Auszug der Kinder, einer Erbschaft, die ihnen freie Verfügung über ihre Zeit schenkt – aufgerüttelt werden, eine Bestandsaufnahme ihres wahren Wesens zu machen. Sie müssen nur das Thema dieses Buches in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis erwähnen, um festzustellen, dass Menschen, von denen Sie es nie gedacht hätten, sich auf einmal für introvertiert halten.

Es ist nachvollziehbar, dass viele Introvertierte sich vor sich selbst verstecken. Wir leben in einem Wertesystem, das vom »Ideal der Extraversion« geprägt ist, wie ich es nenne – dem allgegenwärtigen Glauben, der Idealmensch sei gesellig, ein Alphatier und fühle sich im Rampenlicht wohl. Der archetypische Extravertierte handelt lieber, als nachzudenken, ist eher risikofreudig als fürsorglich und zieht Gewissheit dem Zweifel vor. Er bevorzugt rasche Entscheidungen, selbst auf die Gefahr hin, sich zu irren. Er arbeitet gut im Team, ist gern unter Leuten und misst Erfolg an der Anzahl der Facebook-Freunde, LinkedIn-Kontakte und Twitter-Aufrufe. Wir möchten gern glauben, dass wir Individualität wertschätzen, aber vor allem bewundern wir einen Typus – denjenigen, dem es nichts ausmacht, »sich in den Vordergrund zu stellen«. Selbstverständlich gestehen wir technisch begabten Individualisten, die in Garagen Firmen gründen, eine Persönlichkeit nach ihrem Geschmack zu, aber sie bilden die Ausnahme, nicht die Regel, und unsere Toleranz in diesen Dingen ist hauptsächlich denen vorbehalten, die sagenhaft reich werden oder gute Chancen haben, es zu werden.

Die Introversion – zusammen mit ihren Attributen der Empfindsamkeit, Ernsthaftigkeit und Schüchternheit – gilt heute als Persönlichkeitsmerkmal zweiter Klasse, das irgendwo zwischen enttäuschenden und pathologischen Merkmalen angesiedelt ist. Introvertierte, die unter dem Ideal der Extraversion leben, sind wie Frauen in einer »Männerwelt«: Sie werden wegen eines Merkmals geringgeschätzt, das sie im Innersten definiert. Die Extraversion ist ein enorm attraktiver Persönlichkeitsstil, aber wir haben sie in eine repressive Norm verwandelt, der die meisten Menschen glauben, entsprechen zu müssen.

Das Ideal der Extraversion wurde in vielen Studien behandelt, obwohl diese Untersuchungen nie unter einem einheitlichen Begriff firmierten. Gesprächige Menschen werden beispielsweise als klüger, besser aussehend, interessanter und als wünschenswertere Freunde beurteilt. Die...

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