II
Die Wege, die Erinnerung
Stadtgeografische Verortungen____________________
- Fleminggatan 37 → P. Weiss
- Västerlånggatan 40 → G. Berger-Herthel
- Norr Mälarstrand 76 → T. Heine
- Reimersholme → F. Forbát
- Varvsgatan 1A u. 2 → P. Weiss, K. Helbig
- Bergsunds Strand 23 → N. Sachs
- Lindvallsplan 4 → R.v.Ossietzky-Palm
- Hornsgatan 29B → P. Weiss
- Sveavägen/Kungsgatan → M. Hodann
- Drottningsgatan 71D → Schedins Pensio
- Storgatan 16 → F. Bauer
- Lidnersplan → M. Hodann
- Stenhallsvägen 9 → M. Hodann
- Disponentgatan 4 → K. Mewis
- Hägerstensvägen → C. Bischoff
- Bokbindersvägen → G. Berger-Herthel
- Upplandsgatan → J. Rosner
- Norra Stationsgatan 115 → F .u. J. Wagner
- Döbelnsgatan 66 → G. Henke
- Rosstigen 7 → R. Stahlmann
- Lillgatan → P. Blachstein
- Viggbyholms Herrgård → Fam. Meschke
- Lövstigen 1 → B. Brecht / H. Weigel
- Tulevägen 11 → M. Steffin
- Gotlandsgatan 76A → H. Wehner
- Finn Malmgrens väg 23 → W. Brandt
- Bandhagen → W.u.J. Pöppel
- Skogskyrkogården →G.Dallmann, F.Forbát, K. Helbig u. a.
Machen wir uns auf den Weg, besser auf die Wege! Hin zu Orten und Räumen der Er innerung an die Menschen, die als Exilierte in Stockholm verortet und tätig waren. Einmal bewegen wir uns auf den Spuren des literarischen Chronisten Peter Weiss: In seinem Hauptwerk Ästhetik des Widerstands sind die Wege seines namenlosen Protagonisten (hier Anonymus genannt), die für Emigranten wichtigen Einrichtungen, Treffpunkte und helfende Netzwerke nachgezeichnet. Zum anderen suchen wir die Plätze auf, wo bestimmte Personen ihre Spuren hinterlassen haben und denen Schweden etwas zu verdanken hat. Es geht quer durch tätort und län von Stockholm, einem inzwischen natürlich veränderten Raum. Wiederum leben hier Emigranten, die erneut zur Veränderung beitragen.
Ausgangspunkt unserer Erkundungen ist der Centralbahnhof. Von ihm als einem Raum der Ankunft und Weiterfahrt gelangt man in alle Stadtteile und Vororte. Von hier aus konnten seinerzeit Exilierten für sie wichtige Anlaufstellen und Treffpunkte aufsuchen, wie auch von Weiss beschrieben:
Central Station → Riddarholmen → Gamla Stan
Was erwartete die mit dem Zug ankommenden Emigranten nach der Fahrt durch den Tunnel in Södermalm, beim Herauskommen in Höhe Slussen, bei der Fahrt über die Centralbron, nach den ersten Stunden im sicher erscheinenden Exil? Wichtig war für die legal Ankommenden der Besuch der auf Riddarholmen unterhalb eines Adelspalastes am Birger Jarls Torg befindlichen hölzernen Baracke. Hier war das Ausländerbüro der Sozialbehörde, wo sie sich zu melden hatten und erfasst wurden, von Weiss so beschrieben: »Der Schuppen, mit dem engen muffigen Warteraum, den Schaltern [ähnelte] der Ärmlichkeit und dem Provisorium unsres Lebenszustands.« Wer illegal als politisch Verfolgter einreiste, konnte sich auf das entsprechende Netzwerk solidarischer Hilfe verlassen.
Über die Brücke geht der Weg in Richtung Mälartorg mit den seinerzeit dort liegenden Büros der Arbetarrörelsen flyktingshjälp*und für viele Illegale das der Roten Hilfe*. Beide waren vor allem für politische Flüchtlinge eine wichtige Anlaufstelle zur Deckung der elementaren Bedürfnisse wie Wohnen und Lebensunterhalt. Ebenfalls in der Altstadt befindet sich die lutherische Tyska Kyrka St. Gertrud, die eine Anlaufstelle für Emigranten sein konnte. Nicht so weit entfernt richtete in der inzwischen nicht mehr existierenden Norra Smedjegatan die katholische Gemeinde St. Eugenia ihr Hilfskomitee ein. Übrigens hatte seinerzeit ganz in der Nähe in der Blasieholmsgatan die Deutsche Gesandtschaft ihren Sitz – kein Ort der Sicherheit für die Geflüchteten.
Im Zentrum der Gamla Stan geht es die Västerlånggatan entlang, wo sich in einem ehemaligen Büro im Haus Nr. 40 von 1935 bis 1942 das Café Internationales Foyer der privaten gleichnamigen Organisation befand. Ausgestattet war der Raum mit Tischen, Stühlen und einer Küche mit einem Gasherd. Es wurde von der Pädagogin Matilda Widengren mit Unterstützung der Stiftelsen Birkagården geleitet. Zwar wurde keine Beratung oder finanzielle Hilfe angeboten, wohl aber täglich um 12 Uhr Tee und Brötchen. Trotz begrenzter Mittel fühlten sich hier viele Emigranten wohl, sie waren keine Objekte, sondern Menschen! In entspannterer Atmosphäre konnten sie den gespendeten Imbiss verzehren und die ausliegenden Zeitungen lesen, wie Weiss schildert.
Im gleichen Haus lebte von etwa 1938 bis 1946 die Schriftstellerin und Literaturagentin Greta Berges-Herthel mit ihrer Muttter und der Tochter Anna. Ein paar Häuser weiter hatte Peter Weiss ab den 1950er Jahren im Haus Nr. 44 ein Arbeitszimmer bzw. Atelier. Nicht weit entfernt befindet sich die Köpmangatan, wo er kurz mit Gunilla Palmstierna und der gemeinsamen Tochter Nadja lebte.
Wiederum in der Nähe war am Slottsbacken 6 von 1950 bis 1979 das Musikhistoriska museet untergebracht (aktuell nahe Humlegården in Norrmalm) Für dieses Museum war ab 1949 Ernst Emsheimer als Kurator und bis 1973 als Direktor tätig. Er prägte seinerzeit maßgeblich das Museum mit seinen Sammlungen und Veranstaltungen. Dank seiner engagierten Tätigkeit gewann es deutlich an Prestige und Bedeutung. So initiierte er Konzerte mit historischer Aufführungspraxis, führte musikethnologische Forschungen durch und erweiterte die Sammlung alter Musikinstrumente.
EE war nicht nur ein sehr fähiger Gestalter, sondern ebenso ein beliebter, warmherziger Vorgesetzter. Zudem schuf er ein weitreichendes Netzwerk an Musikethnologen. Dieser Einsatz kam nicht nur dem Museum zugute, das sich unter seiner Leitung zu einem international renommierten Museum entwickelte. Von seinem Engagement profitierten vor allem jüngere Musikethnologen, für die er Ratgeber war und denen er hilfreich zur Seite stand. Zu diesem Kreis gehörte neben Andreas Lüderwaldt, ehemaliger Kustos am Bremer Übersee-Museum, auch der Musikwissenschaftler Jan Ling (1934-2013), dem Emsheimer Mentor und Kollege war.
Von Riddarholmen geht der Blick nach Kungsholmen hinüber zum Norr Mälarstrand und zur Centralstation. Dieser fast gegenüber befand sich in der Vasagatan 18 das beeindruckende Gebäude des Esselte-Papierkonzerns, in dessen Räumen Max Tau als Mitarbeiter des zum Konzern gehörenden Ljus-Verlags und als Leiter des Neuen Verlags einige Jahre tätig war.
Von hier ist der Weg über die Vasabron nicht weit nach Kungsholmen. Ziel ist der Bereich um
Pipersgatan→ Fleminggatan→ Kronobergsparken
Unser Weg soll an der Stadshusbron beginnen: Es geht ein Stück die Hantverkergatan entlang bis zur Pipersgatan, dann die Coldinutrappen hinunter in die Scheelegatan. Rechterhand befindet sich der von Weiss beschriebene Komplex Piperska muren mit Garten und Gebäude als Restbestand des ehemaligen weitläufigen Grundstücks der im 17. Jahrhundert aus Lübeck zugewanderten Adelsfamilie Piper. Vor der Umwidmung war es berühmt für seine kunstvolle Gartenarchitektur. Gegenüber ragt das Rathaus empor. Rechts von hier kommt man zur Kungsgatan, hier befand sich die auch von Weiss genannte Amarantentrappan, die inzwischen einem Neubaukomplex weichen musste. Nahebei gab es in der Kungsgatan ein kleines Lokal, das als Treffpunkt für kommunistische Emigranten von Bedeutung war sowie das Büro der schwedischen KP.
Weiter die Scheelegatan entlang kommen wir zur Fleminggatan. An der Ecke gegenüber liegt der Gebäudekomplex von Alfa Separator. Dort arbeitete der in der Ästhetik genannte Protagonist als Zuträger, hier Anonymus genannt. Vor uns liegt die lange Fleminggatan. Unter der Hausnummer 37 und mit Sicht auf das gegenüber liegende St. Eriks-Krankenhaus bewohnte Anonymus ein Zimmer im vierten Stock. Tatsächlich lebte Weiss selbst dort ab 1944 mit Helga H. und nutzte es später als Atelier. In Ästhetik bezeichnet er die Fleminggatan als »Inbegriff der Einförmigkeit und Fremde (...) mit ihren Begräbnisanstalten, Möbelmagazinen, Pfandhäusern und ärmlichen Läden«, eher eine Industriestraße, denn ein heimeliger Ort zum Wohnen. In seinem Zimmer entwickelte Anonymus beim Hinausschauen Fluchtpläne, falls es zu einer Verhaftung kam: über den Hinterausgang durch benachbarte Höfe in das Gewirr der Straßen. Seine anfängliche Situation dort beschrieb er so:
Während der ersten drei...