Welches Lehrerverhalten kann dafür sorgen, dass im alltäglichen Unterricht nur wenige Disziplinprobleme auftreten? Darum geht es in diesem Kapitel. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich dann mit der Bewältigung von bereits aufgetretenen Konflikten.
Wie bereits betont, ist die Disziplin – wenig Unterrichtsstörungen und gute Mitarbeit – in derselben Klasse sehr unterschiedlich, je nachdem, wer gerade unterrichtet. In der dritten Stunde bei Frau X kann es ganz anders aussehen als in der vierten bei Herrn Y – und zwar nicht an einzelnen Tagen, sondern regelmäßig.
Worauf sich diese Unterschiede gründen, auf welches Verhalten es also ankommt, dazu hat wohl jeder irgendwelche Vermutungen, nicht nur Lehrer/innen, auch Schüler/innen und x-beliebige Laien, die ja auch alle einmal in der Schule waren. Die subjektiven Theorien von Lehrkräften sind natürlich von besonderem Interesse und werden anschließend zur Sprache kommen. Doch Erklärungsversuche stecken auch in Schüleräußerungen wie »Herr X ist viel zu gutmütig« oder »Frau Y kann sich nicht durchsetzen«. Ich erinnere mich, dass in meiner eigenen Schulzeit gegenüber neuen Lehrern, die gleich in der ersten Stunde auf einen harmlosen Anlass mit einem Donnerwetter reagierten, der Verdacht aufkam, sie wollten sich auf diese Weise von Anfang an »Respekt« verschaffen – auch dies eine Vermutung über die Bedingungen von »Disziplin«.
Ob es, wie in diesen Beispielen offenbar angenommen wird, tatsächlich auf »Strenge« und lautes »Durchgreifen« ankommt, das ist nur eine der Fragen, auf die die empirischen Forschungen eine Antwort geben.
2.1 Was hilft gegen Disziplinprobleme?Eine Umfrage unter Lehrkräften
Wenn wir von den Ergebnissen einer empirischen Untersuchung erfahren, erscheinen sie uns zuweilen so unmittelbar einleuchtend, dass wir meinen, dazu hätte man eigentlich keine Untersuchung benötigt: Sind die Befunde nicht ziemlich banal? Haben wir das nicht schon immer gewusst? Das mag zuweilen so sein. Aber vielleicht entsteht dieser Eindruck eben erst, wenn man die Ergebnisse bereits kennt. Wären wir also wirklich von selbst darauf gekommen, bevor wir sie kannten?
Um etwas genauer zu erfahren, welche Annahmen bei Lehrer/innen besonders verbreitet sind, habe ich eine kleine Umfrage durchgeführt. Die Aufgabe lautete, folgenden Satz zu ergänzen: »Damit in der Schulklasse nur wenig Disziplinprobleme auftreten, ist es vor allem wichtig, dass man …«
Es sollten etwa drei Ideen notiert werden – völlig frei, ohne irgendwelche Vorgaben. Dieses Verfahren sollte sicherstellen, dass die Befragten wirklich ihre eigenen Gedanken, ihre vorrangigen »Theorien« äußerten, statt sich zwischen vorgegebenen Antworten zu entscheiden, an die sie vielleicht von selbst gar nicht gedacht hätten.
In einer Stichprobe von 101 Lehrer/innen aus verschiedenen Schultypen wurden ca. 350 Gesichtspunkte genannt. Viele wurden nur sehr selten erwähnt, andere mehrfach in fast gleichem Wortlaut oder ähnlicher Aussage. Die meisten Angaben lassen sich recht gut in vier Kategorien einordnen:
Das häufigste einzelne Stichwort lautet: Regeln. Es kam wörtlich oder sinngemäß in 18,6 % aller Angaben vor (65-mal). Dazu gehörten Aussagen wie: Regeln einführen (8,6 %), Regeln gemeinsam aufstellen (4,0 %), auf Einhaltung von Regeln achten (2,6 %), sich selber an Regeln halten (2,0 %).
Die zweite Kategorie kann man als sinngemäße Ergänzung zum Stichwort »Regeln« verstehen, nämlich Aussagen zu möglichen Reaktionen auf Störungen bzw. (Regel-)Verstöße. Hierauf beziehen sich 12,9 % der Angaben (45). Dabei wurden häufiger genannt: Vorfälle und Probleme besprechen (3,1 %) bzw. nach einem bestimmten Konfliktlösungsmodell besprechen (1,4 %), konsequent sein (ohne Angabe, in welcher Weise) (2,3 %), Sanktionen erteilen (1,7 %).
Einen umfangreichen Komplex bildet die Unterrichtsgestaltung. Hierzu gehören 22,3 % aller Angaben (78), allerdings breit verstreut auf unterschiedliche Aspekte und teilweise recht allgemein, darunter: interessant, lebensnah usw. unterrichten (4,6 %), gute Strukturierung (3,4 %), Methodenwechsel (2,0 %), gut vorbereitet sein, gut planen (2,0 %), Schüler aktiv sein lassen (1,4 %), keine Über- und Unterforderung (1,1 %), transparente Ziele (1,1 %).
Eine weitere umfassende Kategorie betrifft die Gestaltung der sozialemotionalen Beziehungen. 20,3 % der Angaben (71) sind hierauf bezogen, wobei die folgenden Aspekte mehrfach erwähnt werden: die Schüler/innen akzeptieren, verstehen, ernst nehmen (6,0 %), ein positives Klima schaffen (4,9 %), gute Lehrer-Schüler-Beziehung aufbauen (2,3 %), gute Kommunikation (1,1 %).
Der Rest von 25,9 % bezieht sich auf unterschiedlichste Gesichtspunkte unbestimmter oder konkreter Art wie etwa: Vorbild sein, klar sein, kompetent sein, entspannt sein, authentisch sein, Freiräume gewähren, Schüler gut kennen, Schüler mit Namen anreden, den richtigen Ton treffen u. a. m.
Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Erhebung ziehen? Wenngleich die Stichprobe nicht beanspruchen kann, repräsentativ für die gesamte Lehrerschaft zu sein, und die jeweiligen Zahlen nicht als feste Größen anzusehen sind, dürften mehrere Befunde durchaus typisch sein:
Auf der einen Seite ist sicher typisch, welche Bereiche des Lehrerverhaltens häufig genannt werden. Es sind dies zunächst einige unmittelbar störungsbezogene Aspekte, nämlich Regeln sowie mögliche Reaktionen auf Verstöße (wobei erstaunlicherweise Ermahnungen kaum vorgeschlagen werden, obwohl sie im Schulalltag wohl am häufigsten praktiziert werden). Häufig genannt werden aber auch allgemeinere pädagogische Aspekte, nämlich solche, die die Gestaltung des Unterrichts und der sozialemotionalen Beziehungen betreffen.
Auf der anderen Seite ist ganz eindeutig, dass − bei aller Vielfalt der Angaben − in den subjektiven Theorien der Lehrer/innen mehrere Aspekte (fast) völlig fehlen, die sich in der Forschung als überaus bedeutsam erwiesen haben!
Das heißt vermutlich, dass diese Forschungsergebnisse in der Lehrerschaft weitgehend unbekannt geblieben sind, aber es heißt wohl auch, dass es schwierig ist, allein durch Unterrichtspraxis zu solchen Erkenntnissen zu gelangen. Das Geschehen, das zu Disziplin führt, ist anscheinend schwer zu durchschauen. Und das gilt offenbar auch für Lehrer/innen, die ihre Klassen erfolgreich führen, weil sie es intuitiv richtig machen. Denn solche Lehrenden müssen ja in der Umfrage reichlich vertreten sein. Effektive Klassenführung ist dann vielleicht eine Kunstfertigkeit, die einem leicht von der Hand geht, ohne dass man sie anderen, etwa Praktikanten oder Referendaren, im Einzelnen erklären könnte.
Ich gestehe gerne, dass ich die nachfolgend dargestellten Befunde auch nicht erwartet habe. Und wir alle können uns damit trösten, dass es den Forschern selbst genauso gegangen ist, als sie das Problem erstmals systematisch untersuchten.
2.2 Worauf kommt es tatsächlich an?Geschichten aus der Forschung
Welche Faktoren für die Disziplin in der Schulklasse besonders bedeutsam und welche eher unwesentlich sind, hat als Erster der amerikanische Psychologe Jacob S. Kounin mit empirischen Methoden durchleuchtet. Seine Forschungsergebnisse wurden vielfach bestätigt, aber auch um weitere Aspekte ergänzt.
Jacob Kounins unerwartete Befunde
Am Anfang stand ein Vorfall in einer Vorlesung. Er setzte den ganzen Forschungsprozess in Gang, wenn auch zunächst in die falsche Richtung. Auch diese erste Phase nachzuzeichnen lohnt sich jedoch. Denn was Kounin in seiner Vorlesung beobachtete, dürften viele...