2. Die Vorläufer von Restorative Justice
Strafjustiz ist Ausdruck des staatlichen Gewaltmonopols und wird auch so empfunden. Niemand fragt offiziell nach der Zufriedenheit mit einem Urteil. Es muss lediglich vor der nächsten Instanz standhalten. Ein Urteil wird öffentlich in den Medien und privat als gerecht oder ungerecht verhandelt, darin spiegelt sich am ehesten die Frage der Zufriedenheit. Täter und Opfer können nichts zur Zufriedenheit beitragen. Akzeptieren oder ablehnen ist die einzige Möglichkeit. Das ist bei RJ anders. Das Ziel ist eine Vereinbarung von Opfer und Täter, das beide zufrieden stellen muss. Zu dieser Zufriedenheit können also Opfer und Täter selbst beitragen. Eine Ermächtigung zur Bewältigung des Lebens ist das Resultat. Der Staat wird nicht immer mit seinem Gewaltmonopol gebraucht. Ob das Gewaltmonopol nicht doch unabdingbar als Rahmen für die konstruktive Lösung von kriminellen Akten (Drohkulisse) gebraucht wird und wer die unabhängige, nicht interessengeleitete, Aufklärung übernehmen könnte, bleibt zunächst offen bzw. wird den gängigen Abläufen in Polizei und Justiz überlassen.
Warum sich Restorative Justice als Alternative zum Vergeltungsstrafrecht durchgesetzt hat, lässt sich nicht einfach erklären. Es gab in den 1970iger Jahren eine Reihe von Entwürfen, die ähnliche Ziele wie restorative justice verfolgten. Sie waren z.T. als Ideen der Entinstitutionalisierung angelegt, um die Entfremdung des Menschen (in seiner technik- und institutionenorientierten Umwelt) von sich selbst und den Mitmenschen aufzuheben. Einer der so genannten Vorläufer hat den Begriff restorative justice eingeführt und als erster für die Justiz mit restitutiver Orientierung benutzt.
1.1 Konflikt als Eigentum
Als Vorläufer von restorative justice wird u.a. die Idee von Nils Christie mit dem Vorschlag der Rückgabe der Konflikte an den Ort ihres Entstehens gesehen. Statt von ‚Konflikten‘ würde ich eher von der ‚Lösung der Probleme‘ sprechen, die durch ‚Übergriffe‘ erzeugt werden. Eine kriminelle Handlung ist kein Konflikt, allenfalls ein Konflikt auf verschobenen Ebenen oder ein verzerrter Konflikt. Ich bleibe aber hier bei der Wortwahl von Christie, weil eigentlich klar ist, was er meint. Er sieht die Notwendigkeit, den Umgang mit Konflikten den Fachleuten zu entreißen, die sich als ‚professionelle und strukturelle Diebe’ gerieren und den Menschen ihre Konflikte stehlen, sie nach ihren eigenen Bedürfnissen und Gegebenheiten definieren und für und auf Kosten der eigentlichen Konfliktparteien lösen.44 Er bevorzugt ein „Nachbarschaftsgericht“, aus nicht rechtlich vorgebildeten Personen, wie er es an einem Zivilfall – einer Ehescheidung – in Tansania erlebt hat45, das im ersten Schritt wie andere Gerichte die Vorwürfe untersucht, ob sie zutreffen und ob der Täter die Person ist, die das Gesetz gebrochen hat. Dann aber im zweiten Schritt – dem äußerst wichtigen - steht das Opfer im Zentrum einer detaillierten Betrachtung dessen, was geschehen ist und ob und wie der Schaden ersetzt werden kann. Notfalls muss der Täter, das was er angerichtet hat, abstrakt kompensieren, durch Autowaschen oder Treppe fegen etc. Alles muss zur Sprache kommen, wichtig erscheinend oder nicht. Erst danach kann die Frage einer Bestrafung erörtert werden. Schließlich - im vierten Schritt - muss gefragt werden, was der Täter in seiner Situation braucht.
„Da könnten sich Bedürfnisse für soziale, erzieherische, medizinische oder religiöse Aktionen herausstellen – nicht um Rückfälle zu verhindern – sondern weil Nöten begegnet werden sollte. Gerichte sind öffentliche Arenen, wo Nöte sichtbar gemacht werden. Aber es ist wichtig, dass dieses Stadium nach dem Urteil folgt. Sonst bekommen wir eine Wiederholung des ganzen Spektrums der Sondermaßnahmen – Zwangsbehandlungen - oft nur ein Euphemismus für unbestimmte Haft.“46
So will Christie – ähnlich wie Ivan Illich47 und Paulo Freire48 in der Pädagogik – eine Veränderung der enteignenden Justiz erreichen, damit die Gesellschaft sich selbst reguliert und nicht durch viel zu viele professionelle Repräsentanten die Konflikte perpetuiert, statt sie zu lösen. Erst die Macht der Professionellen macht Konflikte unlösbar! Die Idee Christies wirft mehr Fragen auf, als sie zu lösen im Stande ist: „Wir brauchen Fragen, nicht Antworten der Professionellen. Der Ernst unseres Themas macht uns viel zu umständlich und dadurch unbrauchbar zum Paradigmenwechsel.”49 Christies Sicht ist mehr eine Idee als ein ausgeführtes Programm. Ganz deutlich sind dabei Impulse, welche die Großgebilde der Institutionalisierung mit der darin enthaltenen Enteignung des sozialen Lebens angreifen und dem (intellektuellen) Geist der Zeit entsprechen: Small is beautiful!50 Das wäre sozusagen die Rückführung der Strafjustiz auf ein ‚menschliches Maß’ mit Opfer-Orientierung, oder sogar die Tendenz, Strafgerichte und Gefängnisse überflüssig zu machen.
1.2 Abschaffung des Strafrechts
Auch in Deutschland gab es eine abolitionistische Richtung.51 Die wollte die von ihr erkannten Probleme der (eher schädlichen) Strafjustiz mit der Abschaffung des Strafrechts und dessen Ersatz durch zivilrechtliche Regelungen der Wiedergutmachung bewältigen. Arno Plack plädiert für ein Maßnahmerecht, in dem das „nicht zu duldende sozialfeindliche Verhalten eine Ablösung des Sühne- und Vergeltungsgedankens durch den Grundsatz der Wiedergutmachung“52 erfährt. Dafür entwickelte Plack eine Menge von Erklärungen, Ideen und Vorschlägen. Als Wiedergutmachung bei Schäden, die den einzelnen überfordern, sollte so vorgegangen werden:
- Zumindest Teilausgleich,
- Unentgeltliche Arbeitsleistung für die Allgemeinheit (therapeutische Wirkung),
- Arbeitserziehung im geschlossenen Heim (hört sich nach Gefängnis an),
- lebensstandardbeschränkende Auflage für groben Rechtsbruch.53
Strafe sollte durch Schadensersatz abgelöst werden. „Verpflichtung zur Wiedergutmachung ist umgekehrt keine Strafe“.54
Plack zielt durch Wiedergutmachung auf eine Befriedung des Zusammenlebens: „Durch Strafen, von denen der Geschädigte oft gar nichts hat als die Genugtuung der Rache, werden Dieb und Bestohlener, Betrüger und Geschädigter als Mitmenschen nur noch weiter einander entfremdet. … Verhängte Strafen verstärken soziale Gegensätze. … Wiedergutmachung dagegen, sofern sie nur von der strafwütigen Gesellschaft akzeptiert würde, könnte das Zusammenleben befrieden.“55
Wiedergutmachung statt Strafe hätte noch eine weitere Veränderung zur Folge. „Der Vorschlag, ein Wiedergutmachungsverfahren ohne die Publizität der heutigen Strafprozesse einzuleiten, macht sich auch die Erkenntnis zunutze, dass die Resozialisierung von Rechtsbrechern am ehesten gelingt, wenn die Tat zwar entdeckt, aber nicht strafrechtlich verfolgt wird.“56 Eine Ausnahme gibt es aber auch: Für den gefährlichen Täter schlägt Plack „ein eigenes Recht sichernder und therapeutischer Maßnahmen“ vor.57
Arno Plack konkretisiert seine Ideen z.B. damit, einen Todesfahrer (Autounfall) nicht nur mit zumindest einem Teil der Schadensregulierung zu belegen (nicht nur die Versicherung), sondern ihn auch zum Dienst in einer Unfallklinik zu verpflichten: „Ein solcher Dienst für die Allgemeinheit könnte auch therapeutisch auf den dazu Verpflichteten zurückwirken, ….“58 (384) Diese Vorschläge ähneln den Sichtweisen von Restorative Justice durchaus.
1.3 Restitution
Randy E. Barnett diagnostiziert einen Zusammenbruch des Kriminaljustizsystems mit dem Paradigma ‚Strafe’ und schlägt als neues Paradigma die Restitution vor. Als Argumente für die Strafe nennt Barnett 1. Die Verhinderung weiterer Missetaten. 2. Die Möglichkeit, die Täter durch Behandlung zu einem Leben ohne Straftaten zu bewegen. 3. Strafe generiert Abschreckung. Diese Argumente sind aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) überzeugend. Daraus folgt als Viertes: “Many advocates of punishment argue that its apparent practical failings exist because we are not punishing enough. All that is needed, they say, is a crackdown on criminals and those victims and witnesses who shun participation in the criminal justice system; the only problem with the paradigm of punishment is that we are not following it.”59 Barnett hält nach dem Scheitern aller Versuche zur Rettung des Strafparadigmas - durch Appell an die Verhältnismäßigkeit, durch Verstärkung der Resozialisierungsbemühungen, und durch Opferkompensation60 - einen Paradigmenwechsel zur Restitution als Begründung des Kriminaljustizsystems für sinnvoll und notwendig. Das würde die Wahrnehmung von Kriminalität revolutionieren, weil dann der Schaden des Opfers im Mittelpunkt steht. Mit dieser Opferorientierung des Kriminalsystems wäre dann auch fraglich, ob es weiterhin unter dem Stichwort Strafrecht oder nicht viel mehr unter zivilrechtlichen Vorgaben stehen sollte. „This does, however, lead to a potentially serious problem with the restitutional paradigm: what exactly constitutes ‘restitution’? What is the standard by which compensation is to be made?”61 Das wird nur zum Problem, wenn ein retributiver Anteil bei der Restitution erhalten bleibt. Ansonsten muss das Prinzip gelten, dass Opfer für ihren Verlust entschädigt werden. Wie das zu organisieren ist, ist eine Frage der Praxis.
Die...