DRITTE PREDIGT ÜBER DIE SELIGPREISUNGEN
Sonntag, den 24. Mai 1900
Nachmittagspredigt zu St. Nicolai
Matth. 5,4: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.
Wir fahren heute fort in der Betrachtung der Seligpreisungen, mit denen der Herr die Bergpredigt eröffnet. Letzten Sonntag wurde uns die Bedeutung der merkwürdigen ersten Seligpreisung klar: Selig sind, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr. Geistig arm, so sahen wir, will nicht heißen, beschränkt an Geist, sondern die geistig Armen sind diejenigen, welche sich arm fühlen an geistigen Gütern, deren Herz von einer Sehnsucht nach Höherem und Edlerem ergriffen ist.
Die Seligpreisung, die wir heute unserer Betrachtung zugrunde legen, handelt nicht mehr vom Geistigen, sondern vom Irdischen.
Das ist gerade das Wunderbare an Jesus, daß er sich nicht allein an unser geistiges Wesen wendet, sondern auch so menschlich mit Menschen empfinden kann. Ist es dir nie aufgefallen, wenn du das Vaterunser sprichst, wie nüchtern in die Bitten um geistige Güter die Bitte um das tägliche Brot, um die tägliche Notdurft tritt? Er stellt sie nicht an das Ende, wie etwas Angehäuftes, sondern er fühlt mit uns als Mensch und nimmt sich auch irdischer Dinge an. Dieses Mitgefühl ergreift ihn auch am Anfang der Bergpredigt. Die Leute sind zu ihm hinaufgekommen, um seine neue Lehre zu hören. Indem Jesus seine Rede beginnt, sieht er Augen, die geweint haben, und spürt Herzen, die von den Sorgen des täglichen Lebens beengt sind – er wird von Mitleid ergriffen: ehe er weiter redet, will er sie trösten, das Herz erst von den irdischen Sorgen befreien, ehe er ihnen von geistigen Dingen spricht.
Was heißt das nun: Selig sind, die da Leid tragen? Wenn wir sagen «selig», so denken wir an die Toten, die ihren irdischen Lauf beendet und nun im himmlischen Vaterland von allem Leid befreit sind. Aber das meint der Herr hier nicht. Man hat dem Christentum vorgeworfen, daß es die Leute über das irdische Leid gleichsam hinwegtäuschen wolle, indem es sie immer auf die himmlische Seligkeit, die ihrer wartet, vertröstet. Das ist nicht der Fall; es war Jesu Gedanke gar nicht; denn er sagt ja nicht: Selig werden einst diejenigen sein, die jetzt Leid tragen, sondern er sagt: Selig sind sie jetzt, jetzt, wo sie Leid tragen! –
Wie kann aber nun Jesus Menschen, die mitten im irdischen Leben, mitten in der irdischen Sorge drin stehen, «selig» preisen? Wir haben schon in unsern beiden letzten Betrachtungen gesehen, welche Bedeutung das Wort «selig sind» im Munde Jesu am Anfang der Bergpredigt hat: Es will heißen, daß die selig Gepriesenen zum Reiche Gottes gehören, das er gerade verkündigt und das mit ihm auf Erden beginnt; die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die reinen Herzens und die Friedfertigen, sie sind selig, weil sie zum Reiche Gottes gehören. So sind auch die Leidtragenden selig, weil sie zum Reiche Gottes gehören und Kinder Gottes sind.
Das jüdische Volk, vielleicht auch manche unter den Zuhörern Jesu, erwarteten, daß, wenn einst der Messias, der Heiland, auf Erden erscheinen und das Reich Gottes anbrechen werde, alles irdische Leid verschwinden und alles Weh aufhören werde. Und nun ist der Heiland gekommen, er sitzt mitten unter ihnen und verkündet das Reich Gottes; aber das irdische Leid hebt er nicht auf, sondern indem er sagt: Selig sind, die da Leid tragen, gibt er auch zu verstehen, daß mit dem Reich Gottes das Leid nicht aufhöre. Und so war es auch: Er, der Heiland selbst hat am meisten gelitten; die Jahrhunderte, die verflossen sind, zeigen uns, daß das Leid immer noch auf Erden herrscht, und daß gerade diejenigen, die sich zum Herrn und seinem Reich bekennen, noch mehr leiden müssen als die andern. Und doch sagt Jesus: Selig sind, die da Leid tragen!
Damit hat er das Leid nicht aus der Welt geschafft, aber unsere Gedanken über das Leid werden durch seine Seligpreisung andere – und darin besteht unsere Seligkeit. –
Seit die Menschen denken, ist immer wieder die Frage vor sie getreten: Warum müssen wir armen Menschen auf dieser Welt so viel leiden? Aus wie vielen Büchern, auch wenn sie Jahrhunderte alt sind, schallt uns nicht die Frage entgegen: Wie kann Gott es zulassen, daß die Menschen, seine Geschöpfe, so vom Unglück verfolgt werden? Und auf diese Fragen, die in aller bekümmerten Menschen Herzen widerhallen, fand sich keine Antwort. Da fingen sie an, irre zu werden: Es gibt keinen Gott, sagten sie. Dann grübelten sie nach: Sie wollten die Notwendigkeit des Leidens einsehen; sie suchten sich begreiflich zu machen, daß es notwendig sei, wie das Licht; weil es leuchtet und Schatten wirft, so muß auch auf der Welt Licht und Schatten, Freude und Leid sein. Und als das Leid über sie kam, da hielt die Weisheit, die sie sich zurechtgemacht hatten, nicht stand. Da sahen sie in allem Leid eine Prüfung Gottes, und zuletzt in allem Unglück eine Strafe Gottes. Und so litten sie doppelt, nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem Gewissen. Das waren die Gedanken der Menschen, als Jesus in die Welt kam. In allem Leid suchten sie eine Strafe Gottes.
Der Turm von Siloah fiel um und erschlug viele Menschen. Da fragten sie sich: Was haben denn diese Menschen verbrochen, daß gerade sie von dem Unglück ereilt werden mußen? Ein Mann war blind von Geburt an; da fragten sie Jesus: Wer hat sich versündigt, dieser oder seine Eltern, daß ihn dieses Unglück trifft? Und Jesus kann ihnen antworten: Keiner. Schon hat er die Menschen von dem tiefen Abgrund des Leidens und Unglücks, in den sie immer wieder hineinstarren, abgewandt, ihren Blick aufwärts gerichtet und ihnen die Tränen abgewischt durch das einfache Wort: Selig sind, die da Leid tragen.
Jetzt verstehen wir recht, was er damit sagen will. Es will heißen: Grübelt nicht nach, wenn euch in diesem Leben Leid widerfährt. Verzweifelt nicht. Glaubt nicht, daß Gott euch damit züchtigen will, strafen will, daß er euch von sich verstoßen hat, sondern auch im Leid seid ihr in seinem Reich, auch im Leiden seid ihr seine Kinder, auch im Leiden hält euch sein Vaterarm; es kommt aus Gottes Hand. Fragt nicht warum, sucht nicht zu verstehen; versteht ein Kind seinen Vater in all seinem Tun? Kann es immer begreifen, was er mit ihm vorhat? Nein – aber es kann sich ihm vertrauensvoll in die Arme schmiegen, und gerade unter Tränen die höchste Seligkeit empfinden, sein Kind sein zu dürfen: Ja, selig sind, die da Leid tragen. Dieses Wort war auch der Leitstern seines Lebens. In dieser Bedeutung ist der Spruch in Jesu Munde kein hohles Wort, sondern sein ganzes Leben legt Zeugnis davon ab. Er hat viel gelitten und wurde nie irre an seinem Vater. Und als in der höchsten Todesnot ihm der Wille seines Vaters dunkel blieb, beugte er sich, wie er uns beten gelehrt hat: Dein Wille geschehe, und dort in Gethsemane beendet er seinen Seelenkampf: Nicht wie ich will, sondern wie du willst.
Ich kann diese Worte nicht hören oder lesen, ohne an ein Ereignis zu denken, das mich vor einigen Jahren in meinem Innersten erfahren ließ, welchen Trost in allem Leid wir in den Worten und in dem Leben unseres Heilands besitzen. Im Juli wird es vier Jahre, daß ich in einer Gemeinde des Unterelsasses predigen sollte. Ich weiß nicht mehr, welchen Text ich behandeln wollte. – Am Donnerstag vor jenem Sonntag ging über jene ganze Gegend, auch über die Gemeinde, in der ich predigen sollte, das schwerste Hagelwetter, das seit Menschengedenken unser Elsaß betroffen hat, nieder. Als ich mit dem Zuge am Samstag Abend durch die Gegend kam, als ich sah, wie alle ihre Äcker verwüstet waren und alles dahin war, da fühlte ich, daß ich die Predigt, die ich vorbereitet hatte, nicht halten könnte; daß die Leute in die Kirche kämen, daß sie in Gottes Wort Trost über ihr Unglück fänden.
Und da fragte ich mich: Was soll ich zu ihnen sagen? Daß Gott dieses Unglück gesandt, um sie zu prüfen oder um sie zu bestrafen? Ich glaube, wenn ich diesen Gedanken damals ausgedrückt hätte, wäre er mir vorgekommen wie eine Gotteslästerung. Und während ich so nachdachte, da stand vor meinem Geiste das Bild des Herrn in Gethsemane, und ich predigte über das Wort: «Herr nicht wie ich will, sondern wie du willst»; ich zeigte ihnen, wie wir Menschen Gottes Wege nicht verstehen, aber doch durch Jesum wissen, daß wir in allem Leid einen Vater im Himmel haben, – und ich fühlte, wie die Herzen ruhiger wurden.
Ich weiß, ihr seid es mit mir alle gewiß, daß in der Zuversicht, daß trotz alles Leidens wir nicht an Gottes Liebe und Treue zweifeln brauchen und daß wir trotzdem Erben seines Reiches und seine Kinder bleiben, der Trost liegt, der uns immer wieder über das Unglück erheben wird. Darum sagt auch der Herr so schön: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.
Jesus sagt nicht, welches Leid und welchen Trost. Und doch glaube ich, in seinem so menschlichen Empfinden hätte er für jedes Leid noch einen besonderen Trost gehabt. Saß vor ihm eine Frau, die ihren Liebling beweinte, blickte ihn ein armes Menschenkind an, das sich verwaist und einsam fühlte? Saß zu seinen Füßen eine gebückte Gestalt, von...