„Das Studieren, das Re-konstruieren von Geschichte ist immer von Mangel gekennzeichnet. (...) jeder Forscher wählt sein Untersuchungsmaterial, wählt seine Untersuchungsperspektive und legt seine Version der Geschichte vor“ (Werler 2004, S. 36f). Gestützt auf die vorliegenden Quellen soll dementsprechend im folgenden Teil ein Überblick über die verschiedenen Prozessverläufe der Schulreformen in Schweden, Norwegen, Finnland und der Bundesrepublik Deutschland rekonstruiert werden. Dabei wurde darauf geachtet, einen größtmöglichen Konsens der Quellen zu finden und damit ein Gesamtverständnis der Schulreformprozesse als Untersuchungsgegenstand herzustellen. Dies dient als historisch-deskriptive Basis für die vergleichende Analyse der Kapitel 5-7. Dabei wird nicht die gesamte Schulgeschichte des jeweiligen Landes dargestellt, sondern bezeichnende Etappen in den Reformbewegungen der 1950er bis 1970er Jahre angeführt.
Die auf eine weit zurückreichende Ideengeschichte beruhende Schulentwicklung, erlebte durch den Zweiten Weltkrieg eine Zäsur, die als Ausgangspunkt der Prozessbeschreibung dient. Das Ende der Darstellung ist von der Umsetzung der großen strukturellen Umwandlung gekennzeichnet, deren spätere detaillierte Ausformung nicht mehr Gegenstand der Untersuchung ist.
Schweden, Norwegen und Finnland werden in etwa der Chronologie ihrer Reformbeschlüsse folgend nacheinander vorgestellt. Viele Entwicklungen verliefen dabei parallel und beeinflussten sich gegenseitig, da sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine enge Zusammenarbeit der nordischen Länder entwickelte. Schweden lag nicht nur geographisch zentral, sondern nahm auch in gewisser Hinsicht die Vorreiterstellung der Schulreform ein. Dem entsprechend liegt eine vergleichsweise größere Menge an Quellenmaterial für Schweden vor. Angesichts der unzureichenden erziehungswissenschaftlichen Literaturlage wird, besonders im Falle Finnlands, auf historische Fachliteratur zurückgegriffen.
Im Weiteren liegt der Schwerpunkt in der Beschreibung der Schulreformprozesse nicht im Elementarbereich (Familienergänzende, vorschulische Bildung ab 3 Jahre) oder im Tertiärer Bereich (Hochschule und andere Ausbildungsstätten), da dafür der Umfang dieser Arbeit nicht ausreicht. Hier wird der schulische Bereich untersucht, in dem in den Skandinavischen Ländern bedeutende Umstrukturierungen stattfanden. Im Laufe der Schulreformen wurde hier ein zweiteiliges System von Primarbereich und Sekundarbereich geschaffen. Zur Unterscheidung sei gesagt, dass sich in Deutschland das Schulsystem im Allgemeinen in den Primarbereich (1.-4. Schuljahr), den Sekundarbereich I (5.-10. Schuljahr) und den Sekundarbereich II (aufbauendes Bildungsangebot mit Wahlangeboten) gliedert (vgl. Schneider-Andrée 1974, S. 7).
Für das seit Anfang des 20. Jahrhunderts reich differenzierte schwedische Schulwesen, welches hauptsächlich den Bedürfnissen der Mittelklasse entsprach, bahnte sich nach dem Zweiten Weltkrieg langsam ein Bruch mit dieser schwedischen Bildungstradition an (vgl. Jüttner 1970, S. 11ff). Im Zuge der anlaufenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Expansion Schwedens wurden Forderungen der politischen Gruppen nach Chancengleichheit in der Ausbildung für Kinder der Landbevölkerung und aus unterprivilegierten Schichten laut (vgl. Jüttner 1970, S. 17). Das daraufhin diskutierte Konzept der Einheitsschule als eine gemeinsame Volksschule stammt ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert. Nach der Idee Rudenschölds sollte sie die ‚Standeszirkulation’ anstoßen, welche durch Aufwertung der Volksschule eine gemeinsame Grundbildung für praktisch und theoretisch Begabte biete, die in allen sozialen Schichten zu finden seien. Auch Siljeströms Konzept der juristischen Gleichheit aller Bürger Schwedens im erzieherischen Bereich sollte durch eine gemeinsame Schule bis zum Alter von 15 Jahren garantiert werden (vgl. Hörner 1970, S. 70ff).
Als Vorraussetzung für die Schulreform in Schweden sieht Liegle (1980, S. 137) vier Komponenten. Als erstes ist der steigende Wohlstand zu nennen. Außerdem war die weitgehend bruchlose Politik nach außen hin ausschlaggebend, wobei Schweden eine neutrale Position einnahm und nach innen durchgehend von 1932 bis 1976 von den Sozialdemokraten regiert wurde. Weiterhin herrschte ein breiter Konsens auf politischer Ebene über den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Damit einher ging die „Politik der Gleichheit“ (Liegle 1980, S. 137), die auch zu einer egalitären Bildungspolitik und einer Kopplung von Bildungs- und Beschäftigungssystem führte.
Die von diesen günstigen Faktoren ausgehende strukturelle Schulreform teilt Liegle (1980, S. 138) dabei in vier Phasen: die Vorbereitungsphase 1940 bis 1950, die Erprobungsphase 1950 bis 1962, die Institutionalisierungsphase 1962 bis 1968 und die daran anschließende Revisionsphase.
Am Anfang der Schulreform stand das 1940 durch den Beschluss der Koalitionsregierung gebildete Schulkomitee (skolutredning), das sich überwiegend aus Fachleuten zusammensetzte und zwischen 1943 und 1949 zehn Gutachten verfasste. Dabei stand bereits fest, „dass die anstehenden Probleme der einzelnen Schulformen nur in Hinblick auf das gesamte Schulwesen gelöst werden sollen, da jede Schulgattung nur ein Teil des ganzen Schulsystems sein könne“ (Hörner 1970, S. 110). Schon in den Direktiven dieses Schulkomitees wird das Bildungsziel wie folgt definiert:
Wichtige Überlegungen der Kommission waren dabei, die Begabten richtig zu fördern, ohne dabei die praktischen Berufsgruppen zu schwächen (vgl. Hörner 1970, S. 116).
Weiterdiskutiert wurden diese Ziele in der 1946 zusammengetretenen Schulkommission (skolkommission), die unter dem Vorstand des damaligen Kultusministers Tage Erlander aus Repräsentanten der Parteien und einer neutralen Gruppe, die Eltern vertretend, zusammengesetzt war und kleinere Fachgruppen beschäftigte. Hier wurden neun Teilziele formuliert, zu deren Erreichung die Schulkommission ein 9-jähriges Einheitsschulmodell entwarf, welches die bisherige Volksschule mit der Realschule, der Fortbildungsschule sowie der Mädchenschule vereinigte.
Die schwedische Realschule war nach Orring (1968a, S. 14f) bis dahin 4- bis 5-stufig, praktisch oder theoretisch orientiert und schloss mit dem Realexamen ab. Die traditionelle Mädchenschule dagegen war examensfrei, dauerte bis zu sieben Jahre, war vornehmlich humanistisch ausgerichtet und sollte die Mädchen auf Familie und Beruf vorbereiten (vgl. Orring 1968a, S. 17f). Doch beide waren Auswahlschulen mit gesperrtem Zutritt, die Einheitsschule dagegen sollte eine Fächerwahlschule ohne Beschränkung sein. Orring (1968a, S. 18f) betont jedoch, dass die allgemeine Entwicklung dieser verschiedenen Schulen schon auf eine Verschmelzung hindeuteten, da sich bereits die praktischen Realschulen mit den theoretischen vermischten, examensfreie Züge anboten, beziehungsweise die Volksschule Realschulzüge.
In einer 9-jährigen Einheitsschule (enhetsskola), die aus entwicklungspsychologischen Gründen in drei Stufen zu je drei Teilen gegliedert ist, würden die Schüler erst mit fünfzehn Jahren auf einen berufsvorbereitenden (yrkesförberedande), einen allgemeinen (allmän) und einen gymnasialvorbereitenden (gymnasieförberedande) Zug verteilt (vgl. Hörner 1970, S. 104).
Die Umwandlung des Schulsystems erfolgte fließend und alte und neue Organisations- und Arbeitsformen gingen ineinander über. Im Reichstagsbeschluss von 1950 wurden auf Grund warnender Stimmen erste Versuche des Einheitsschulmodells beschlossen und eine rege empirische Tätigkeit begann.
In einer Forschungszentrale der Generalschuldirektion wurden drei Dezernate zur Unter- und Mittelstufe, zu theoretischen Fächern und Zügen der Oberstufe, sowie zur praktischen und theoretischen Berufsbildung geschaffen. Ein Laienausschuss von 1954 stand dabei der Forschungsstelle in Fragen der Berufsausbildung und Stundenplangestaltung beratend zu Seite. Die Versuchsschulen in anfangs nur vierzehn Gemeinden des ganzen Landes mehrten sich, so dass bis zur endgültigen Einführung 1962 schon die Hälfte aller Schüler die neue Einheitsschule besuchten (vgl. Hörner 1970, S. 104f).
1956/57 fiel die endgültige Entscheidung zur Einführung der 9-jährigen obligatorischen integrierten Gesamtschule unter dem Begriff der grundskolan. In einem 1957 gegründeten Schulausschuss (1957 års skolberedning), bestehend aus Personen des öffentlichen Lebens, bildeten sich Arbeitsgruppen zur Planung von Ziel, Aufgabe, Struktur, Organisation und Stundenplänen der Schulreform. Auf dieser Grundlage basierte dann auch das Schulgesetz zur Schulreform und völligen Umstrukturierung des schwedischen Bildungswesens, das am 6.6.1962 nach erbittertem Kampf der politischen Parteien verabschiedet wurde (vgl....