DER STURZ
Die Sonne strahlt auf uns herab. Alles, was man sehen kann, ist das Blau des Himmels und das Glitzern des weißen Schnees. Ich sauge gierig die frische Luft ein, während sich unsere kleine Dreiergruppe dem Berggipfel nähert. Die Skifelle gleiten auf dem harten Schnee rhythmisch dahin, nur noch wenige Meter trennen uns vom höchsten Punkt und vom Ausblick über die prächtige Fjordlandschaft. Wir sind auf Island, weit im Norden dieser außergewöhnlichen Insel.
Ich ziehe das Tempo weiter an, beflügelt wie ein kleines Kind, das neugierig die Welt entdecken will. Es ist ein perfekter Tag im April 2014. Die meisten Skitourenfotos, die wir heute schießen wollen, haben wir eigentlich schon im Kasten. Der Redakteur, der Fotograf und ich bilden ein eingespieltes Team, und die Landschaft ist atemberaubend. Ich empfinde es als unglaubliches Privileg, hier als Sportmodel arbeiten zu dürfen.
Nach einem letzten Schritt stoße ich mich mit den Stöcken auf das Gipfelplateau. Als wir am Morgen losmarschiert sind, lag das gesamte Tal noch in einer Nebelsuppe. Dann hat sich der Dunst langsam zurückgezogen, mittlerweile ist die Luft klar und der Fernblick überwältigend.
Der Fjord schlängelt sich durch die verschneiten Bergkuppen, und die Sonne lässt das Wasser funkeln. Der Himmel spiegelt sich im tiefen Blau des Fjords. Überall sieht man schneebedeckte Hänge, die zu Tourenabenteuern und fantastischen Abfahrten einladen. Für einen skibegeisterten Menschen wie mich eine paradiesische Aussicht.
Da wir alle das beste Ergebnis abliefern wollen, entscheiden wir uns nach einer entspannten Brotzeit am Gipfel, noch ein Stück weit nach Norden zu laufen, um die letzten Fotos zu schießen, mit den Skiern auf dem Rücken. Dabei entfernen wir uns etwa dreihundert Meter von unserer Aufstiegsroute und machen ein paar Aufnahmen am Grat, der bereits zur Mittagszeit in der Sonne liegt. Im Hintergrund glitzern die Wellen des Atlantiks.
Die Skier sind sicher auf den Rucksack geschnallt. Meine zwei Stöcke in der Hand, setze ich einen Fuß vorsichtig mit der Schuhspitze weiter rechts in den Steilhang. Bevor ich den zweiten sicher platzieren kann, rutsche ich weg. Der Hang ist hier viel vereister, als er es beim Aufstieg auf der Südseite gewesen ist, und das habe ich nicht bedacht. Mein Schuh findet in dem betonharten Schnee überhaupt keinen Grip. Ungebremst schlittere ich den etwa vierzig Grad steilen Hang hinunter. Zunächst denke ich mir nicht viel dabei. Ich bewahre die Ruhe und versuche in Bauchlage zu bleiben, die Füße voraus. Es wird sicherlich bald eine flachere Stelle kommen oder ein Fels, an dem ich mich mit den Beinen stoppen kann.
Ein Eispickel wäre in dieser Situation ideal, aber nun gut, so ein Sturz ist natürlich kein Wunschkonzert. Bevor ich richtig begreife, wie mir geschieht, nehme ich immer mehr Fahrt auf. Es fällt mir zunehmend schwer, meine Gedanken zu sortieren. Dann kommt der ersehnte Felsen, aber ich habe nicht den Hauch einer Chance, mich daran zu halten. Im Gegenteil, mein Körper verliert das Gleichgewicht, ich beginne mich zu überschlagen und spüre, wie mein rechtes Knie beim Aufprall bricht. Der Unterschenkel fliegt meinem Gesicht entgegen, als wäre er nicht mehr fest mit meinem Körper verbunden. Panik überfällt mich, während ich weiter über Schnee, Eis und Fels bergab schieße. Für einen kurzen Moment kann ich mich noch einmal in Position bringen, aber schon bei der nächsten Eis- oder Felskante überschlage ich mich erneut und verliere vollends die Kontrolle über meinen Körper. Wieder rast mir das rechte Knie entgegen und prallt mit voller Wucht gegen meine linke Schulter. Ich registriere, dass auch diese nun gebrochen ist. Mein linker Arm ist unnatürlich verdreht und schleudert mir mehrmals ins Gesicht. Dann liege ich auf dem Rücken und sause mit dem Kopf voraus bergab. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich die Felsen auf mich zurasen. Blitzartig durchfährt mich der Gedanke, dass ich ja gar keinen Helm trage, aber bei normalen Skitouren ist das auch nicht üblich. Gleichzeitig spüre ich, wie mein Hintern und meine Hüfte von der Reibung brennen – die Hose ist mir fast bis in die Kniekehlen hinuntergerutscht. Der Schnee und das Eis reißen meine Haut auf. Ich werde schneller und schneller.
Mit einem Schlag wird mir klar: Das hier ist kein Albtraum, aus dem ich gleich wieder aufwachen werde. Das hier ist mein Leben, und es ist jetzt gleich vorbei! Ich denke an meinen Freund Marcel, der mir immer wieder gesagt hat, er habe Angst davor, dass mir in meiner Unbekümmertheit, in meinem Leichtsinn irgendwann etwas Schlimmes zustoßen könnte. Er hat mir schon oft vorgehalten, dass ich die Gefahren nicht wahrnehme und zu blauäugig durch die Welt spaziere. Für ihn gebe es keine schlimmere Vorstellung, als mich irgendwann einmal in den Bergen zu verlieren. Nun ist es wohl so weit, und ich wünschte, ich könnte Marcel noch einmal in den Arm nehmen und ihm sagen, wie leid es mir tut und dass ich ihm nie wehtun wollte. Ich erinnere mich daran, wie er immer darauf bestanden hat, dass wir niemals im Streit auseinandergehen. Weder am Morgen, wenn wir uns für den Tag verabschieden, noch am Telefon oder in einer Nachricht, da es immer das letzte Mal sein könnte, dass wir uns sehen oder miteinander sprechen. In diesem Moment spüre ich keinen Schmerz außer meinem Herzschmerz.
Ich rase weiter über die vereiste Landschaft und merke, dass auch mein linkes Knie sich inzwischen unnatürlich verdreht hat. Ich bin ein funktionierender Geist, gefangen in einem kaputten Körper. In einem Matschkörper. Die Vorstellung ist so grausam, dass ich es nicht länger ertragen kann. Ich will nichts mehr davon mitbekommen. Wieso werde ich nicht endlich bewusstlos? In den Filmen werden sie doch immer alle bewusstlos.
Es ist, als würde man auf mich schießen. Erst ein Streifschuss, dann der erste Treffer. Ein, zwei Schüsse kann wahrscheinlich jeder ganz gut wegstecken. Aber die Pistole hält gnadenlos weiter auf mich drauf. Peng, peng, peng! Mit jedem Schuss sacke ich innerlich weiter zusammen und bekomme weniger Luft. Gleich wird der letzte, alles entscheidende Schuss kommen und mein Leben auslöschen.
In Gedanken sehe ich den Garten meines Elternhauses vor mir. Es ist Frühling, alles blüht. Es duftet nach Flieder. Wann bin ich eigentlich das letzte Mal zu Hause bei meiner Familie gewesen? Der Gedanke, dass ich sie nie wiedersehen werde, zerreißt mir das Herz.
Ich bin immer noch nicht bewusstlos – aber auch noch nicht tot. Es beutelt mich weiter den Hang hinunter. Mit der letzten Sensibilität, die mein Körper aufbringt, spüre ich, dass das Gelände etwas flacher wird, dass sich der Schnee plötzlich etwas weicher anfühlt. Die Sonne, die hier unten über den Grat scheint, hat ihn etwas angeschmolzen und dann luftig vereisen lassen. In diesem Moment befinde ich mich wieder in einer guten Sturzposition, sofern man das sagen kann: Füße voraus in Bauchlage. Mit letzter Kraft wage ich noch einen Selbstrettungsversuch, hacke meine linke Fußspitze in den Schnee, versuche mich mit der rechten Hand im Schnee festzukrallen und kann mich tatsächlich mit einem Mal stoppen. Erst einige Sekunden später realisiere ich, dass ich aufgehört habe zu fallen und nun, auf meine linke Fußspitze gestützt, unnatürlich verrenkt zum Liegen gekommen bin. Etwa achthundert Höhenmeter unterhalb der Stelle, an der ich ins Straucheln gekommen bin – wie sich später herausstellen wird.
Hatte ich mir eben noch gewünscht, bewusstlos zu werden, setzt nun mein Überlebensinstinkt wieder ein. In Gedanken sage ich mir: »Ich lebe – ich lebe – ich lebe! Oh mein Gott – ja, ich lebe!« Ich habe es so weit geschafft, ich darf jetzt auf keinen Fall aufgeben, ich muss um jeden Preis weiter durchhalten.
Erst am Wochenende zuvor habe ich an einem großen Skitourenrennen in Italien teilgenommen, der Tour du Rutor. Dieses sogenannte Grande-Course-Rennen erstreckt sich über drei Tage, und man bestreitet es im Zweierteam. Meine Teamkollegin Sylvia und ich haben an dem Wochenende gekämpft, was das Zeug hält. Bei einem so langen alpinen Rennen geht man durch Himmel und Hölle, und genau diese Bilder tauchen nun plötzlich vor meinen Augen auf. Während des Rennens habe ich einige Male gedacht, dass es nicht mehr weitergehen könnte; ich war leer und völlig abgekämpft. Nach dem Rennen begriff ich dann aber wieder, dass man sich nicht auf das große Ziel konzentrieren darf, sondern in Etappen denken muss, um sich bis zum Ende motivieren zu können: der erste Steilhang, dann eine Kuppe, eine kurze Abfahrt, der zweite lange Aufstieg, eine kurze Gratpassage und immer so weiter, bis man schließlich im Ziel einläuft.
Und deshalb nehme ich mir jetzt vor, alles wie ein Rennen zu sehen und mich von Zwischenziel zu Zwischenziel zu hangeln. Tobi und Baschi, meine beiden Begleiter, werden sicher bald kommen. Sie haben bestimmt Hilfe gerufen, alles wird gut werden. Der Helikopter wird kommen, ich werde es auf die deutlich bequemere Trage schaffen, bevor es dann ins Krankenhaus geht. Schritt für Schritt für Schritt. Ich muss nur noch ein ganz klein wenig durchhalten …
Leider geht es dann nicht ganz so schnell.
Röchelnd liege ich vollkommen bewegungsunfähig in exakt derselben Position, in der ich eben zum Stillstand gekommen bin. Ich habe ein bisschen Angst, dass ich weiter abrutschen könnte, versuche aber, diesen Gedanken zu verdrängen. Ein erneutes Absacken wäre in der Tat fatal. Die senkrechte Abbruchkante zum Fjord ist keine hundert Meter von mir entfernt. Ein Sturz von der mindestens fünfzig Meter hohen Felsklippe ins Wasser würde meinen sicheren Tod...