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E-Book

Sufismus

Eine Einführung in die islamische Mystik

AutorAnnemarie Schimmel
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2018
ReiheBeck'sche Reihe 2129
Seitenanzahl127 Seiten
ISBN9783406728297
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die wandernden und tanzenden Derwische sind die augenfälligsten Vertreter des Sufismus, der sich im 8. Jahrhundert aus islamischen Wurzeln entwickelte und bis heute in zum Teil international organisierten Orden und Bruderschaften fortlebt. Annemarie Schimmel führt in die zentralen Begriffe der islamischen Mystik ein und schreitet die Stationen der Sufis auf ihrem Weg zu mystischer Gottesliebe und Gotteserkenntnis ab. Sie stellt die bedeutendsten Sufi-Heiligen sowie die wichtigsten Werke der klassischen Sufiliteratur vor und eröffnet ungeahnte Einblicke in die faszinierende Welt des Sufismus.

Annemarie Schimmel lehrte als Professorin für Indo-Muslimische Kultur in Harvard und Bonn. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden, 1995: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2001: Reuchlinpreis.

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Leseprobe

2. Mystische Gottesliebe


Definitionen der mystischen Liebe wurden im 9. Jahrhundert vorsichtig entwickelt; denn es erhob sich die Frage: «Kann man Gott überhaupt lieben?» Handelt es sich nicht in Wirklichkeit, wie die Orthodoxen sagten, um Liebe zu Gottes Gehorsam, auf die es ankommt? Denn wer jemanden liebt, ist ihm gehorsam, und wenn man im frühen Sufismus noch an der Tür des Geliebten bleiben will, selbst wenn man davongejagt wird, so ist es später die Bereitschaft, in allem Ihm zu Willen zu sein:

Ich wünsche Vereinigung, und Er wünscht Trennung,

so lasse ich, was ich will, für das, was Er will,

heißt es in einem unendlich oft variierten Vers.

Man fand jedoch koranische Billigung für die Liebe zu Gott. Sagt nicht der Schluss von Sure 5,59: «Er liebt sie, und sie lieben Ihn»? Diese Liebe geht, wie alles in der Welt, von Gott aus; der Mensch antwortet auf sie. Und eine solche Liebe ist unendlich, wie Dhuʾn-Nun der Ägypter (gest. 859) erzählt:

Er habe in der Einsamkeit ein altes Weib gefragt: «Was ist das Ende der Liebe?» Und sie antwortete: «Du Dummkopf! Liebe hat kein Ende!» «Und warum nicht?»– «Weil der Geliebte kein Ende hat.»

Die Diskussionen über die Gottesliebe sind zentral in der Entwicklung der islamischen Theologie, und die Sufis wurden oft angegriffen, ja als Ketzer angesehen, weil sie das Element der Liebe so stark betonten. Doch ihre Gottesliebe ging mit praktischer Nächstenliebe zusammen, ja auch mit Tierliebe, sowie mit Krankenfürsorge, wie die Biographien vermelden. Und als die Regierung in Bagdad 885 diese seltsamen Sufis als gefährliche Ketzer ansah und ihnen den Prozess machen wollte, trat Abuʾl-Husain an-Nuri (gest. 907) vor, um sich für seine Brüder zu opfern. Der Kalif, bewegt von solchem Opfergeist, ließ Nuri kommen und stellte fest, dass die Sufis durchaus gute Muslime waren.

Dennoch wurden sie weiterhin mit Misstrauen beobachtet. Das führte dazu, dass sie sich auch besonderer Ausdrücke bedienten. Die Unmöglichkeit, das wirklich auszudrücken, was sie in der Ekstase erlebten, und andererseits die Sorge, durch seltsame Worte wie «Rausch» und «Liebesleidenschaft» den Zorn der anderen Gläubigen auf sich zu ziehen, ließ die Sufis eine verfeinerte symbolische Sprache entwickeln, die zu entziffern nicht immer einfach ist – und es war diese farbenreiche, symbolische Sprache, die dann in der Poesie der Sufis, vor allem im persischen Kulturbereich, ihren Höhepunkt erreichte. Die Verschlüsselung der Angaben aber macht es dem Spätgeborenen oder Nichteingeweihten oft schwer, den wirklichen Sinn einer Formulierung zu erkennen, und viele der scheinbaren Widersprüche in den Definitionen einzelner Stufen und Stadien des Seelen-Weges sind sicherlich auf unser begrenztes Verständnis der Sprache zurückzuführen; denn dank dem Sufismus erhielt die ohnehin schon überreiche arabische Sprache einen neuen Aspekt: den der authentischen Erfahrung des Religiösen. Und das Spiel mit den Wurzeln der arabischen Worte, die kaleidoskopartigen Möglichkeiten von Vertauschungen der Grundbuchstaben (jedes arabische Wort besteht aus drei Grund-Radikalen) erlaubten geradezu kabbalistische Künste. Man denke an den Beweis des persischen Mystikers ʿAttar (vgl. u.S. 58ff.), dass schiʿr, «Poesie», etwas Erhabenes sei, weil es aus den gleichen Buchstaben besteht wie scharʿ, «Gesetz», und ʿrsch, «Gottesthron». Temple Gairdner hat sicher recht, wenn er fragt: «Nehmen wir nicht ihre Sprache zu ernst? Sie paradiert als wissenschaftlich, ist aber in Wirklichkeit poetisch-rhetorisch.» Dass der Sufismus auch eine Rolle bei der sprachlichen Entwicklung in anderen Sprachen gespielt hat, werden wir noch sehen.

Man darf hier das Phänomen des sogenannten schaṭḥ nicht vergessen, das ist ein «theopathischer Ausspruch» oder, wie Henry Corbin sagt, ein «Paradox». Das sind Sätze, in denen der Sufi im Zustand der Entrückung Dinge sagt, die ketzerisch wären, spräche er sie im Zustand der normalen nüchternen Verantwortlichkeit, so wie etwa Bayazid-i Bistamis (gest. 874) Ruf «Subānī – mā aʿẓama schaʾnī! Lobpreis sei mir! Wie groß ist meine Majestät!» – ein Wort, das nur Gott von sich hätte sagen können. Wir haben es mit Aussprüchen zu tun, die aus der Überfülle des Herzens kommen, wenn der Mensch sich seiner selbst nicht mehr bewusst ist, wird doch das Wort schaṭḥ abgeleitet vom «Getreideworfeln», wobei Körner über das Sieb fallen, oder vom Überfließen des Wassers aus einem allzu engen und flachen Gefäß. Die schönste Andeutung dieses Zustandes stammt von Qadi Qadan, einem mystischen Dichter des 16. Jahrhunderts im Industal, der seinen Zustand treffend in einem Bild aus seiner Heimat ausdrückt:

Führt der Indus hohe Flut, überfließen die Kanäle –

Des Geliebten Liebeswort ist zu groß für meine Seele.

Verständlicherweise schien und scheint den gesetzestreuen Muslimen solch ein Überschwang nicht mit dem eher nüchternen Islam vereinbar. Dies um so mehr, als die Sufis hin und wieder auch der Musik lauschten, Liedern weltlicher Art zuhörten und dann möglicherweise in entrückte Tanzbewegungen verfielen – alles dies vom Gesetz missbilligt. Schon 867 gab es in Bagdad einen Raum für samāʿ das mystische «Lauschen» auf Musik, wo man sich hin und wieder versammelte. Aber es muss betont werden, dass diese Musikveranstaltungen nichts mit dem Ritual zu tun hatten; sie waren vielmehr seltene Gelegenheiten zur Entspannung auf einem geistigen Weg, der unerhörte Disziplin von seinen Anhängern verlangte. Das Entzückenserleben beim samāʿ schien die Sufis dann oft nahe an den Zustand der liebenden Ekstase zu führen. Und Hudschwiri tadelt im 11. Jahrhundert all die (und es scheinen sehr viele gewesen zu sein), für die Sufismus nichts ist als Tanz, ohne dass sie die Grundlagen kannten. Zum Ritual aber wurde der samāʿ nur in einem späteren Orden, bei den Mevlevis.

Die Definitionen von Liebe und Erkenntnis wurden, ebenso wie die Bedingungen für die schwierige Wanderung auf dem ‹Pfade›, im Laufe des 9. Jahrhunderts verfeinert. Aber das zentrale Problem blieb: Wie konnte man Gott erkennen? Wie Ihn lieben, der jenseits aller Beschreibung ist, der transzendent ist und den die Blicke nicht erreichen (Sure 6,103) und der doch dem Menschen «näher ist als seine Halsschlagader» (Sure 50,16)? Wie konnte man Liebe zu Ihm überhaupt definieren? War es nicht so, dass Seine Einheit, die im Koran immer im Mittelpunkt steht, so überwältigend ist, dass für den suchenden, liebenden Menschen gar kein Raum mehr blieb? Das Glaubensbekenntnis «Es gibt keinen Gott außer Gott, Allah» wurde, auch in der Orthodoxie, oft umgeformt in «Es gibt keinen Handelnden außer Gott, Allah», denn Er beginnt alles, und von Ihm geht alle Aktivität aus, auf die der Mensch nur antworten kann. Bald aber sagten die Sufis: «Es gibt nichts Existierendes außer Ihm», das heißt, Er allein besitzt die wahre Existenz, das wahre Sein; alles andere ist nur ein Schatten, eine Spiegelexistenz. Solche Formulierungen finden sich bereits um das Jahr 900, und schon fragten sich manche Sufis, ob man überhaupt das Glaubensbekenntnis recht aussprechen könne; denn schon das Bekenntnis, dass Gott Einer ist, setzt ja die Zweiheit von Gott und dem sprechenden Subjekt voraus, und «nur Gott hat das Recht, Ich zu sagen»; nur Er konnte Seine Einzigkeit und Seine Existenz bezeugen, wenn Er durch den Mund des in Ihm entwordenen Menschen Sich selbst bezeugt. Das bedeutet, der Sucher muss sein eigenes Dasein aus dem Wege räumen:

Deine Existenz ist eine Sünde, neben der es keine größere Sünde gibt,

heißt ein oft zitierter arabischer Vers. Und Dschunaid, der Führer der «nüchternen» Bagdader Schule, formulierte das Ziel der Sufis:

Ein Sufi ist jemand, der so ist, wie er war, als er noch nicht war –

das soll heißen, bevor durch das göttliche Schöpfungswort das Absolute Eine sich in Subjekt und Objekt manifestierte. Dieses Wort Dschunaids (gest. 910) ist vielleicht der genaueste Hinweis auf das Ende des Weges, die Rückkehr in das Nichtsein im göttlichen Sein. Und wenn der Sufi diesen Zustand kennt, gilt auch für ihn: «Wer sich selbst kennt, der kennt seinen Herrn»; er erkennt nämlich die...

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