1. Hegemonialkonflikt oder Glaubenskrieg?
Ein tiefer Zwiespalt existiert im Nahen und Mittleren Osten. Nicht selten wird er als Mutter aller dortigen Konflikte präsentiert, von denen es so einige gibt. Gemeint ist der Gegensatz von Sunna und Schia. Dieser ist weit über ein Jahrtausend alt und dennoch seit geraumer Zeit wieder in aller Munde, insbesondere in den Mündern unzähliger internationaler Berichterstatter und Analysten. Die religiösen Vorzeichen lassen sich realpolitisch auf die zwei gegensätzlichen Pole, Saudi-Arabien und Iran, sowie deren Machtkampf um regionale Vorherrschaft in der Region übertragen. Auf der einen Seite der Bruchlinie steht das wahhabitische Königreich Saudi-Arabien als Anführer der großen Mehrheit von fast 90 Prozent Sunniten1 weltweit und auf der gegenüberliegenden Seite die Islamische Republik Iran als dessen Herausforderin und Schutzmacht der Minderheit der Schiiten. Doch ohne selbst eine Essenzialisierung dieses Gegensatzes herbeischreiben zu wollen: Kann die Krise im Herzen der islamischen Welt tatsächlich, wie es von manchen Kritikern gefordert wird, nur auf Grundlage sozioökonomischer oder geopolitischer Betrachtungen erklärt werden, ohne den Faktor Religion zu berücksichtigen? Kann solch ein Reduktionismus schlüssige und kohärente Antworten auf die Frage nach den Ursachen der verheerenden Gewaltspirale in der Region liefern? Wohl kaum, denn es steht nun einmal außer Zweifel, dass sich die jüngeren militärischen Auseinandersetzungen in diesem Teil der Welt entlang konfessioneller Linien bewegen. Es soll deswegen in diesem Buch nicht darum gehen, die Rolle von Religion und religiös bedingten Ressentiments zu negieren, sondern sie zu kontextualisieren.
Aus regionalpolitischer Sicht ist es die Feindschaft zwischen Teheran und Riad, die Zwietracht in der arabischen bzw. islamischen Welt sät. Auf lokaler oder staatlicher Ebene sind es jedoch die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche selbst, die Unzufriedenheit, Krise und Gewalt begünstigen. Dass es im letzten Jahrzehnt in Ländern wie Bahrain, Jemen, Irak oder Syrien zu einer starken Verflechtung von regionalen und nationalen Loyalitäten gekommen ist, liegt zum einen daran, dass die beiden großen Regionalmächte am Persischen Golf ihren Konkurrenzkampf stellvertretend in diesen fragilen Staaten ausfechten lassen. Weshalb dies überhaupt möglich ist, liegt schlicht und einfach an der Verfassung der betroffenen Länder selbst. Haben wir es doch mit konfessionell gemischten Staaten zu tun, mit teilweise mehrheitlicher oder relevanter schiitischer Bevölkerung. Die Schiiten können beispielsweise als Minderheit tonangebend sein, wie etwa die Alawiten in Syrien, oder als Mehrheitsbevölkerung unterdrückt und vom Machtzentrum ausgeschlossen sein, wie in Bahrain oder bis zum Jahre 2003 im Irak. So unterschiedlich die gesellschaftliche und politische Stellung von Sunniten und Schiiten in solch gemischt-konfessionellen Staaten auch sein mag, sie weist auf eine wesentliche Problematik hin: Häufig geht die soziale und politische Ausgrenzung mit einer religiösen Diskriminierung einher. Dass sich in welcher Form auch immer benachteiligte Gruppen in den Schutz einer ausländischen Macht begeben, hat gerade im arabischen Raum lange Tradition – man denke hier nur an die christlichen Maroniten des Libanon, welche seit dem 19. Jahrhundert politischen Rückhalt von Frankreich erhalten.
Nun ist es seit dem Jahr 2011 längst nicht mehr ein »zu viel« an westlichem Engagement, das politischen Eliten in führenden muslimisch-sunnitischen Staaten Sorge bereitet, sondern ein »zu wenig«. Etwa in Hinblick auf den syrischen Bürgerkrieg, wo die Türkei und das Golfemirat Katar lange Zeit für einen Militäreinsatz zum Zwecke eines Regimewechsels in Damaskus eintraten. Oder wenn die Golfstaaten unter Führung Saudi-Arabiens vom Westen eine härtere Gangart gegenüber Teheran fordern und Appeasementpolitik gegenüber dem Iran ablehnen, teilweise sogar aktiv unterminieren.
Doch woher rührt die Furcht vor der Islamischen Republik genau? Dies lässt sich nicht in wenigen Sätzen beantworten, zu viele historische, politische wie ideologische Aspekte fließen hier ineinander. Einerseits haben wir es mit einer Furcht der sunnitischen Eliten vor Teilen ihrer eigenen Bevölkerung zu tun. Andererseits stehen die Golfstaaten und das mit ihnen verbündete Jordanien für eine geopolitische Ordnung, die, wie der Arabische Frühling illustrierte, langsam ins Wanken gerät und sich als solche nun bedroht fühlt.
Ein schiitischer Halbmond steigt empor
Es war Jordaniens König Abdullah, der als erster im Jahr 2004 den »schiitischen Halbmond« erwähnte.2 Die Warnung des Monarchen kam nicht grundlos. Nur ein Jahr zuvor hatten die Vereinigten Staaten und deren Verbündete den Feldzug gegen den Irak begonnen. Mit dem Sturz von Saddam Hussein und dem Versagen der westlichen Besatzungsmächte, das Land zu stabilisieren, betrat der Iran das irakische Feld – dank guter Beziehungen zu politisch-schiitischen Oppositionsgruppen, die vom Exil ins Zentrum der politischen Macht in Bagdad gehievt wurden. Ein Umstand, den diese Gruppen zweifelsohne Washington zu verdanken hatten, dies aber mit einer Loyalität zur Islamischen Republik erwiderten. Damit veränderte sich jedoch das Machtgefüge in der gesamten Region. Der Iran stieg zu einem Player auf, den man am Golf nicht mehr so ohne Weiteres die kalte Schulter zeigen konnte.
Doch was hat es nun mit diesem Schreckgespenst, dieser Achse von Beirut zur Golfregion auf sich? Der Begriff des schiitischen Halbmonds bezieht sich zuallererst auf eine rein geografische Achse, die jene Länder verbindet, in denen Schiiten eine Mehrheit stellen oder einen signifikanten Anteil der Bevölkerung ausmachen – streng genommen nur Iran, Irak, Aserbaidschan und Bahrain. In der Regel werden auch der Libanon mit rund 40 Prozent Anteil der SchiitInnen an der Bevölkerung und Jemen, wo die Gruppe der ZaiditInnen (ein eigenständiger Zweig innerhalb der Schia) ebenso um die 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, dazugezählt.3 Zieht man auf einer Karte Verbindungslinien zwischen diesen Staaten, so entsteht eine Sichel. Diese schwillt zum Halbmond an, je mehr muslimische Länder mit kleineren schiitischen (unter 30 Prozent) oder schiitisch-inspirierten Minderheiten dazu gezählt werden. Das wären Afghanistan, Pakistan, Kuwait, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate sowie die Türkei mit rund 20 Prozent Aleviten und Syrien mit etwa 15 Prozent Alawiten.
Iran–Irak–Syrien: Eine strategische Achse entsteht
Aus dieser Gesamtheit von Ländern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, lässt sich allerdings noch keine strategische wie ideologische Achse ableiten. Jedoch kann bei bestimmten Staaten oder politischen Parteien eine politische Nähe oder Annäherung festgemacht werden. Als Drehpunkt fungiert hierbei der Iran mit seinen knapp über 80 Millionen Einwohnern, von denen rund 92 Prozent Schiiten sind. Auf die potenzielle Gefahr einer iranischen Vorbildwirkung, etwa indem andere Staaten mit relevantem schiitischen Bevölkerungsanteil ein ähnliches politisches Staatsmodell anstreben könnten, wird seit der Machtübernahme der Mullahs im Jahre 1979 vermehrt hingewiesen – ob von amerikanischer oder arabischer Seite. Damit geht nicht nur die Angst sunnitischer Eliten vor einem Machtverlust einher, sondern auch vor antiwestlichen Akteuren im Nahen Osten. Denn ungeachtet des Antiamerikanismus der arabischen Straßen hat sich ein Großteil der politischen Führer und Eliten ab den 1970er-Jahren verstärkt dem Westen zugewandt. So z.B. die Mehrheit der Golfstaaten, Jordanien, Ägypten oder der Irak. Und gerade Letzterem gelang es durch das Schüren der Ängste vor einem schiitisch-islamistischen Vormarsch eine breite Unterstützerfront für einen Feldzug gegen den Nachbarn Iran zu gewinnen. Im Jahre 1980 wurde dieser Krieg von Saddam Hussein losgetreten. Der irakische Autokrat hatte zuvor jegliche weltliche Opposition ausgeschaltet und fürchtete nun selbst das Aufbegehren der religiösen-schiitischen Kräfte im eigenen Land. Doch der langwierige und grausame Krieg gegen den Iran, mit hohen menschlichen Verlusten auf beiden Seiten (Schätzungen belaufen sich auf bis zu eine Million Tote), sollte Saddam Hussein nicht recht geben. Die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak blieb ihrem Staat gegenüber loyal und wechselte nicht auf die Seite Teherans.
Der gemeinsame Glaube konnte Schiiten damals nicht einen. Dies änderte sich jedoch mit der US-Militärinvasion des Irak im Jahr 2003. Wie bereits angedeutet konnte der Iran dank seiner guten Kontakte zu Teilen der irakischen Opposition zusehends an Einfluss im Irak der Post-Saddam-Ära gewinnen. Das trifft im besonderen Maße auf die schiitische Daawa-Partei zu, deren Anhänger wegen der Verfolgung durch das Bagdader Regime zwei Jahrzehnte zuvor schon von Teheran aufgenommen worden waren.4
Neben dem Irak stieg auch die Bedeutung Syriens als strategischer Partner für den Iran. Ausschlaggebend war die härtere Gangart Washingtons nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Beide Länder wurden als Förderer des »islamischen Terrors« geächtet und vor allem von westlichen Staaten isoliert. Konkret ging es um die Unterstützung von Gruppen wie der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah. Dies hatte zur Folge, dass sich beide Staaten bedroht fühlten, was sich aufgrund des amerikanischen Feldzuges gegen den gemeinsamen Nachbarn Irak verstärkte. Die syrisch-iranischen Beziehungen waren auch in der Vergangenheit relativ stabil gewesen, wenn auch nicht widerspruchsfrei....