Leseprobe Vorbemerkung Das vorliegende Buch stellt das fünfte in der Reihe meiner Bücher dar, in denen ich um Klarheit ringe, was die menschliche Seele in ihrem Innersten bewegt, was sie gesund sein lässt, was sie krank macht und wie dieses Wissen in eine wirkungsvolle psychotherapeutische Arbeit umgesetzt werden kann. Begonnen habe ich diese Entdeckungsreise in das Innere unseres Menschseins im Jahr 1994. Da ich zu dieser Zeit beruflich noch mit der Arbeits- und Organisationspsychologie verbunden war, entstand 2001 als Erstes das Buch »Berufliche Beziehungswelten«. Bei der Darstellung von Arbeitsbeziehungen durch die Aufstellungsmethode wurde mir die große Bedeutung von familiären Beziehungsdynamiken deutlich, die hinter den Konflikten liegen, die im Arbeitsleben auftreten. Daher bedarf es bei Konflikten, die nicht durch die Anerkennung klarer Beziehungsregeln in der Berufswelt zu lösen sind, der Rückschau auf die frühen Lebenserfahrungen eines Menschen mit seinen Eltern. In den Problemen, die in Arbeitsbeziehungen verdeckt auftreten, spiegeln sich die nicht gelösten Themen der Eltern-Kind-Beziehungen wider. Bei alldem drängte sich mir die Vermutung auf, dass es bei uns Menschen einen eigenen Sinn für das Wahrnehmen von Beziehungen geben muss. Mit dem Buch »Verwirrte Seelen«, erschienen 2002, habe ich den ersten Anlauf genommen, rätselhafte Erscheinungsformen menschlichen Verhaltens und Erlebens, die in der psychiatrischen Terminologie als »Psychische Erkrankungen« bezeichnet und als »Psychosen«, »Schizophrenien« oder »Borderline-Persönlichkeitsstörungen« diagnostiziert werden, auf seelische Verstrickungen in familiären Bindungssystemen zurückzuführen. Meine Grundthese dabei lautet: Nicht der Einzelne ist »krank«, das Problem sind die Beziehungen, unter denen Menschen leiden. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden besonders dann zu einem ernsthaften Problem, wenn sie unter dem Einfluss von Traumata stehen und selbst die Quelle von Traumatisierungen darstellen. Derart gestörte zwischenmenschliche Beziehungen tradieren sich über den Weg der Eltern Kind-Bindung unweigerlich von einer Generation zur nächsten fort, wenn sie nicht anerkannt und aufgearbeitet werden. Bis zu vier Generationen können innerhalb einer Familie durch nicht aufgelöste Traumata miteinander verstrickt sein und manche Menschen in ihrer Identität so sehr verwirren, dass sie »psychotisch« und »schizophren« werden. Dass die Phänomene»Bindung«und»Trauma« im Prinzip bei jeder psychischen Störung zusammenspielen und sie ursächlich erklärbar machen, wenn man die Übertragung von Traumagefühlen in Bindungsbeziehungen erkennt, versuchte ich 2005 in dem Buch »Trauma, Bindung und Familienstellen« herauszuarbeiten. Zum tieferen Verständnis der vier verschiedenen Formen von Traumata, die ich als »Existenz«-, »Verlust«-, »Bindungs«- und »Bindungs-system«-Trauma bezeichne, verwende ich hier allerdings noch ein zweidimensionales Modell von seelischer Spaltung, das die traumatisierten Persönlichkeitsanteile den übrigen Seelenanteilen gegenüberstellt. Bei der Überwindung der Traumatisierungen setzte ich teilweise noch auf Lösungen, die von außen kommen. Ich ging zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass ein Bindungstrauma durch die Versöhnung mit den Eltern überwunden werden kann. Symbiotische Illusionen können dadurch jedoch genährt und die Vermeidungsstrategien hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem eigenen Trauma auf diese Weise gefördert werden. In dem Buch »Seelische Spaltung und innere Heilung« (2007) wollte ich daher zwei wesentliche neue Erkenntnisse darstellen, welche sich durch die fortgesetzte intensive Arbeit mit Patienten ergeben hatten: erstens das dreidimensionale Modell der nach einer Traumatisierung gespaltenen Persönlichkeit, die aus »gesunden Anteilen«, »traumatisierten Anteilen«und»Überlebensanteilen« besteht; zweitens das Konzept der »inneren Heilung«, bei der Prozesse der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen eindeutig den Vorrang haben vor allen anderen Formen von therapeutischen Angeboten. Es geht bei der »inneren Heilung« in erster Linie darum, mit den eigenen abgespaltenen Gefühlen in Kontakt und den eigenen Traumata ins Reine zu kommen. Trotz dieses Fortschritts im Verständnis seelischer Prozesse blieb für mich ein Rest an Unklarheit, der sich auf diejenigen seelischen Anteile bezog, die sich deutlich im Zusammenhang mit Bindungstraumata und Bindungssystemtraumata zeigten. Es gibt seelische Anteile, welche sich mit aller Kraft an solche Eltern klammern, die einem als Kind schweren Schaden zufügen. Diese Anteile erwiesen sich als weitgehend unbeeinflussbar gegenüber allen therapeutischen Bemühungen, sie zu einer Ablösung von ihren Eltern zu bewegen. Warum also sind gerade diejenigen Kinder, die am meisten von ihren Eltern vernachlässigt, geschlagen, missbraucht und gedemütigt werden, am wenigsten in der Lage, sich von diesen Eltern innerlich abzugrenzen? Die Antwort auf diese Frage ergab sich, als ich immer besser verstand, dass bereits der ursprüngliche symbiotische Prozess zwischen Mutter und Kind zu einem Urtrauma für das Kind werden kann. Dieses Urtrauma ruft eine erste frühe Spaltung im Seelenleben eines Kindes hervor. Ich bezeichne diesen Vorgang nun mit dem Begriff des »Symbiosetraumas«. Weil ein »Symbiosetrauma« ein Kind schon so früh in seiner Entwicklung seelisch spaltet, verliert es den Bezug zu seinen ursprünglichenvitalen Impulsen und richtet einen Großteil seiner Aufmerksamkeit weg von sich auf das Außen und auf andere Menschen. Es kann daher keine eigene, in sich gefestigte Identität ausbilden. Es bleibt ein Leben lang abhängig und unselbstständig und verstrickt sich immer mehr. Selbst der erwachsene Mensch wird in seinem Kern von seinen kindlichen Ängsten gesteuert. Wird das Symbiosetrauma in seiner fundamentalen Bedeutung für die gesamte psychische Entwicklung eines Menschen erkannt, werden alle anderen seelischen Probleme, die daraus entstehen, wesentlich besser erklärbar. Wir können als traumatisierte und bindungsgestörte Menschen erst dann an unserer eigenen inneren Heilung arbeiten, wenn wir in der Lage sind zu erkennen, wer wir selbst sind. Erst nachdem an der Integration der ursprünglichen Spaltung therapeutisch gearbeitet wird, können alle weiteren, möglicherweise noch zusätzlich erlebten Traumata überwunden werden. Aus destruktiven symbiotischen Verstrickungen können allmählich konstruktive symbiotische Beziehungen werden, Pseudoautonomie kann sich zu wahrer Autonomie wandeln. Das Schwergewicht der therapeutischen Arbeit kann sich dadurch weiter dahin verlagern, nicht die symbiotischen Abhängigkeitsbedürfnisse zu nähren, sondern die Autonomieentwicklung von Menschen zu unterstützen. Der gesamte bisherige Erkenntnisprozess, den ich hier kurz geschildert habe, war begleitet durch meine Arbeit mit der Aufstellungsmethode. Ich begann zunächst Erfahrungen mit »Familienaufstellungen« im Sinne ihres Begründers, Bert Hellinger, zu sammeln. Doch je mehr Einsichten ich in die elementaren seelischen Vorgänge von »Bindung« und »Trauma« erlangte, desto mehr wurde mir klar, dass ich meinen eigenen Weg finden musste, mit der Aufstellungsmethode therapeutisch zu arbeiten. Ich bezeichne die Form der Aufstellung, mit der ich heute überwiegend arbeite, als »Traumaaufstellung«. Im Zusammenhang mit dem neuen Konzept des Symbiosetraumas habe ich wiederum eine neue Variante der Aufstellungsarbeit entwickelt, die ich als das »Aufstellen des Anliegens« bezeichne. Diese neue Methode und ihre Anwendungsmöglichkeiten werden im vorliegenden Buch zum ersten Mal detailliert beschrieben. Ob die Entdeckungsreise in das Innere der menschlichen Seele damit schon an ihr Ende gelangt ist, weiß ich nicht. Ich vermute es eher nicht. Wie mir scheint, sind noch lange nicht alle Rätsel unserer menschlichen Psyche gelöst. Manches, was ich hier darstelle, ist noch im Stadium der Erprobung. Es werden zahlreiche Arbeithypothesen formuliert, deren weitere wissenschaftliche Erforschung noch ansteht. Ich hoffe, die in diesem Buch zusammengetragenen Einsichten geben uns, ob als Betroffene oder als professionell Arbeitende, auch in ihrer Vorläufigkeit eine weitere Möglichkeit, die komplexen Zusammenhänge zwischen den vielfältigen Lebenssituationen und ihren körperlichen, emotionalen und geistigen Verarbeitungsmöglichkeiten zu begreifen und dieses Wissen für die Weiterentwicklung unserer persönlichen Autonomie sowie von gesunden gesellschaftlichen Strukturen zu nutzen. ... München, im Mai 2010 Franz Ruppert 1. Für immer Dein -oder immer allein? Kinderlieder Die erste Strophe eines bekannten deutschen Kinderliedes lautet: Hänschen klein / ging allein / in die weite Welt hinein. Stock und Hut / steht ihm gut / ist gar wohlgemut. Aber Mutter weinet sehr / hat ja nun kein Hänschen mehr. Da besinnt / sich das Kind / läuft nach Haus geschwind. Die 2. Strophe bekräftigt die Rückkehr von Hänschen zu seiner Mutter: Lieb Mama / ich bin da / ich dein Hänschen hoppsassa. Glaube mir / ich bleib hier / Geh nicht fort von Dir. Da freut sich die Mutter sehr / und das Hänschen noch viel mehr. Denn es ist / wie ihr wisst / gar so schön bei ihr. Ob sich Kinder Gedanken über diesen Text machen? Wo in aller Welt soll es denn besser sein als zu Hause bei der Mama? Bei einer Mama, die ihr Kind vermisst, wenn es weggeht? Für Kinder gehören Mütter und Kinder zusammen. Als erwachsener Mensch kann man sich zu diesem Kinderlied eine ganze Reihe von Fragen stellen: Warum wollte Hans überhaupt hinaus in die weite Welt, wenn es bei der Mutter zu Hause viel besser ist? Warum weint die Mutter und ruft ihm nicht einfach nach und fordert ihn auf, er solle sofort umkehren? Soll er bei ihr bleiben, weil er sie noch braucht und viel zu klein ist, um allein in der Welt zurechtzukommen, oder braucht die Mutter ihren Sohn, damit sie nicht allein ist? Oder steckt da noch eine ganz andere Geschichte dahinter, weshalb die Mutter weint? Wann wäre der rechte Zeitpunkt für Hänschen, um seine Mutter zu verlassen? Braucht er dazu überhaupt ihre Erlaubnis? Muss er gehen, auch wenn sie ihm nachweint? Muss er möglicherweise gegen ihren Widerstand, ihn bei sich zu behalten, von zu Hause aufbrechen? Nützt ihm dafür eine Portion Wut? Welche Rolle spielt sein Vater? Möchte auch der ihn länger behalten? Oder ihn vielleicht schon wesentlich früher in die weite Welt hinaus schicken als die Mutter? Was geschieht, wenn Hans nicht zu früh, sondern viel zu spät oder gar nicht das Haus seiner Eltern verlässt? Wird Hans in der weiten Welt einmal traurig und einsam sein ohne seine Mutter? Wird er sich möglichst schnell eine Frau suchen, die ihm seine Mutter ersetzt? »Hänschen klein« ist das Hohelied auf die symbiotischen Bedürfnisse von Müttern und Söhnen: zusammen sein und zusammen bleiben, den anderen nicht verlassen, ihn nicht einsam machen, selbst nicht einsam sein müssen. Innigkeit und Geborgenheit, Treue und Loyalität scheinen die Garanten für ein immer währendes Glück. Eine moderne Version der offensichtlich unauflösbaren Verbundenheit von Mutter und Sohn hat der holländische Kinderstar Heint je in seinem Lied »Mama« besungen: »Ich werd' es nie vergessen / was ich an dir hab' besessen Dass es auf Erden nur eine gibt / die mich so heiß hat geliebt.« Kann man es sich wünschen, von so einer Liebe Abschied zu nehmen? Sich jemals voneinander zu lösen? Die Mutter muss nicht weinen, denn ihr Sohn ist in Gedanken immer bei ihr und sie trägt ihn allzeit in ihrem Herzen. Was aber hat das möglicherweise für Auswirkungen auf die anderen Beziehungen, die der Sohn in seinem Leben noch eingeht, wenn die Mutter die Einzige ist, von der er sich heiß geliebt fühlt? Bei solchen Kinderliedern sind geschlechtsspezifische Aspekte nicht zu übersehen. Das Mutter-Sohn-Verhältnis erscheint besonders emotionsgeladen. Der Sohn muss trotz aller Mutterliebe nach gängigen Rollenvorstellungen irgendwann hinaus in die weite Welt, um sich im Lebenskampf zu bewähren. Unübersehbar ist die subtilerotische Komponente, weil der kleine Prinz in seinen kindlichen Fantasien der treueste und fürsorglichste Mann seiner Mutter ist. Heintje hat das in einem anderen Lied an die Mutter so zum Ausdruck gebracht: »Ich bau dir ein Schloss.« Die Grenzen zwischen Mutter und Sohn verschwimmen leicht im Nebel der symbiotischen Gefühle: Wer ist die Mutter und wer ist das Kind? Wer ist groß und wer ist klein? Ist der Sohn gar der ideale Mann seiner Mutter? Bei Töchtern erscheint die Ablösethematik von der Mutter nicht so brisant. Zumindest gibt es kein Lied, in dem eine Tochter singt:»Mama, du wirst doch nicht um deine Tochter weinen..« In traditionellen Gesellschaften wird auch heute noch erwartet, dass Töchter ihrer Mutter ein Leben lang zur Seite stehen, sie im Alltag nach Kräften unterstützen, kleinere Geschwister großziehen und ihre Mutter bis zum Lebensende begleiten. Eher scheint es für die Väter ein größeres Problem zu sein, »ihre« Tochter eines Tages an einen anderen Mann hergeben zu müssen. Doch zurück zu »Hänschen«: Zufällig bin ich im Internet auf eine weniger bekannte Version von »Hänschen klein« gestoßen. Dieses Lied hat drei Strophen: Hänschen klein / ging allein / in die weite Welt hinein. Stock und Hut / steht ihm gut / ist gar wohlgemut. Aber Mutter weinet sehr / hat ja nun kein Hänschen mehr. »Wünsch dir Glück!« / Sagt ihr Blick / »Kehr' nur bald zurück!« Sieben Jahr / trüb und klar / Hänschen in der Fremde war. Da besinnt / sich das Kind / Eilt nach Haus geschwind. Doch nun ist's kein Hänschen mehr / Nein, ein großer Hans ist er. Braun gebrannt / Stirn und Hand / Wird er wohl erkannt? Eins, zwei, drei / geh'n vorbei / Wissen nicht, wer das wohl sei. Schwester spricht: / »Welch Gesicht?« / Kennt den Bruder nicht. Kommt daher die Mutter sein / Schaut ihm kaum ins Aug hinein, Ruft sie schon: / »Hans, mein Sohn! / Grüß dich Gott, mein Sohn!« Das ist ein Text, bei dem es um das Erwachsenwerden geht. Hänschen geht nicht wieder zurück, auch wenn die Mutter weint. Die Mutter ist zwar auch traurig und voller Sehnsucht, sie gibt dem Sohn zum Abschied aber ihren Segen. Hänschen macht seine guten und schlechten Erfahrungen in der weiten Welt. Er verändert sich so sehr, dass viele ihn nicht mehr als das Hänschen von früher erkennen, nicht einmal seine Schwester. Als er zu seiner Familie zurückkehrt, ist er für seine Mutter »der Hans« und damit ein erwachsener Mann geworden. Dennoch bleibt er für sie ihr Sohn. Es gibt also neben der Symbiose- auch diese Autonomieversion von »Hänschen klein«. Sie ist weniger populär - vermutlich weil »Autonomie« wenig mit Sehnsucht und »Herz und Schmerz« zu tun hat. Was bedeutet »Autonomie« und wofür ist sie eigentlich gut? Autonom sein kann heißen: etwas selbst zu machen, sich auf sein eigenes Wissen zu stützen, sich selbst zu versorgen und die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn andere möchten, dass wir Rücksicht auf ihre Erwartungen nehmen, sich durch den Kummer und Schmerz anderer nicht von den eigenen Zielen abhalten zu lassen, sich nicht emotional erpressen zu lassen, sich nicht finanziell bestechen zu lassen, von den eigenen Wertvorstellungen nicht abzuweichen, auch wenn andere Druck ausüben, an der eigenen Identität zu arbeiten, sich seiner Wurzeln, seiner familiären und kulturellen Herkunft bewusst zu sein, ohne damit zu verschmelzen, Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen und nicht anderen die Schuld dafür zugeben, wenn dieses Leben nicht so ist, wie man es sich vielleicht einmal erträumt hat. Symbiose-Autonomie-Konflikte Wie es scheint, ist für uns Menschen beides gleich wichtig. Wir haben Symbiose- und Autonomiebedürfnisse. Beide begleiten uns durch das gesamte Leben. Es gibt Phasen, in denen die symbiotischen Bedürfnisse eindeutig überwiegen, und es gibt Lebensabschnitte, in denen wir vor allem frei und unabhängig sein möchten. Und es gibt immer wieder Zeiten, in denen in unserem Inneren ein heftiger Kampf tobt zwischen diesen beiden Grundbestrebungen. Man könnte in Symbiose-Autonomie-Konflikten sogar den Webstoff menschlicher Lebensdramen erkennen, etwa wenn Kinder nicht in der Lage sind, ihr Elternhaus zu verlassen, Eltern ihre Kinder nicht loslassen können, Paare sich nicht trennen können, auch wenn sie sich mehr hassen als lieben, Menschen glauben, aus Pflichtbewusstsein für »das Vaterland« oder »ihre Firma«, alle ihre eigenen Interessen zurückstellen zu müssen. Symbiotische Bedürfnisse und Wünsche nach Autonomie sind einerseits getrennte Bestrebungen, wie hängen sie andererseits zusammen? Ist es ein Entweder-oder, oder gibt es ein Sowohl-als-auch? Lassen sich beide Grundbedürfnisse gleichermaßen zufriedenstellen und in Einklang miteinander bringen, oder geht das eine nur auf Kosten des anderen? Es ist unter anderem eine Frage des Lebensalters, wann wir Menschen nicht allein existieren können und wann es an der Zeit ist, dass wir selbstständiger werden. Babys und Kleinkinder brauchen Eltern, die ihre symbiotischen Bedürfnisse vorbehaltlos befriedigen. Sie brauchen genauso Eltern, die sie darin bestärken, selbst zu fühlen, zu denken und zu handeln. Was bedeutet es daher, wenn unsere kindlichen symbiotischen Bedürfnisse nicht vorbehaltlos befriedigt werden? Welche Folgen hat es, wenn sich unsere Eltern von uns abwenden, sich von uns zurückziehen, uns verlassen, uns nicht lieben und als Kind eigentlich gar nicht haben wollen, wenn wir noch ganz klein und bedürftig sind? Bleibt dann nur das Schicksal lebenslanger Frustration und innerer Einsamkeit? Oder müssen wir ein Leben lang unseren Eltern hinterherlaufen, auch noch ihr Leid mittragen in der Hoffnung, vielleicht doch eines Tages geliebt und anerkannt zu werden? Müssen wir wegen unserer Abhängigkeit von ihnen auf unser eigenes Glück verzichten? Üben wir Verrat an ihnen, müssen wir uns schuldig fühlen, wenn wir gehen, nicht länger bei ihnen bleiben wollen, ihnen nicht mehr mit unserer Liebe zur Verfügung stehen und sie nicht mehr trösten? Oder wie ist es, wenn wir die Elternperspektive einnehmen: Wenn wir sehen, dass ein Kind partout nicht erwachsen werden will? Wenn es sich weigert, die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, seinen Eltern auf der Tasche liegt, sie verachtet, beschimpft und ausnutzt, Drogen konsumiert und gewalttätig ist? Müssen sich die Eltern das alles gefallen lassen, oder dürfen sie ein solches Kind einfach vor die Tür setzen? Muss Mutter-oder Vaterliebe alles verzeihen? Dürfen wir als Erwachsene auch noch symbiotische Bedürfnisse haben? Ist die Liebe zu einem Partner ähnlich symbiotisch wie die Liebe zu Vater und Mutter? Wie viel an Liebe, Rückhalt, Unterstützung und Sicherheit brauchen wir in unserem Erwachsenenleben? Wie viel Verantwortung sollten wir für einen Partner übernehmen, wenn es ihm schlecht geht? Was sollten wir ihm abnehmen und was auf keinen Fall? Müssen wir es ein Leben lang erdulden, dass ein Ehe-oder Lebenspartner an uns hängt, der nicht eigenverantwortlich werden will? Dürfen wir mit unserer eigenen emotionalen Unselbstständigkeit Kinder oder Partner daran hindern, sich zu verändern und eigene Wege zu gehen? Wir Menschen sind von Natur aus Gruppenwesen und ohne andere nicht überlebensfähig. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir brauchen und suchen den gegenseitigen Kontakt. Viele empfinden nichts schlimmer, als allein zu sein. Allein in einem Restaurant zu essen, im Urlaub allein an einem Tisch zu sitzen - wer wünscht sich da nicht früher oder später einen Gesprächspartner, ein menschliches Gegenüber? Aber wie weit geht dieses Bedürfnis nach Kontakt? Wie weit muss man für einen anderen Menschen da sein? Wo beginnt das Recht auf Eigenständigkeit und zugleich die Pflicht, sich einem anderen nicht aufzudrängen? Wo hat das »wir« seine Grenzen? Wo beginnt das unverwechselbare »Ich«? Wann ist das symbiotische Bedürfnis konstruktiv und wann wird es (selbst)zerstörerisch, sich an andere zu klammern und das eigene Leben von anderen bestimmen zu lassen? Das zu behalten, woran wir festhalten müssen, und loszulassen, was nicht länger trägt - das scheint die große Lebenskunst zu sein. Eine Kunst, in der wir Menschen uns von klein an üben müssen. Symbiose-Autonomie-Konflikte gehören zu jedem Lebenslauf dazu. Sie sind unvermeidbar. Warum gelingt es jedoch in manchen Fällen scheinbar ganz einfach und warum ist das Loslassen-Können in anderen Fällen unendlich schwer und schier unmöglich? Arbeitshypothesen Je länger ich als Psychotherapeut und Seelenforscher tätig bin, umso mehr wird mir klar, dass Symbiose-Autonomie-Konflikte ein zentrales Thema vieler Menschen sind, die psychologische Hilfe suchen: Männer und Frauen kommen selbst im höheren Lebensalter innerlich nicht von ihren Eltern los, obwohl die Beziehung noch nie gut war oder die eigenen Eltern bereits gestorben sind. Frauen leben mit Männern zusammen, für die sie keine Liebe und Achtung (mehr) empfinden. Männer halten an ihrer Ehe fest, auch wenn die Beziehung zu ihrer Frau festgefahren ist. Eltern beklagen, dass ihre Kinder keine Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen, das Haus nicht verlassen und sich lieber in ihren Fantasiewelten aufhalten. Süchtige kommen von ihren Eltern oft ebenso wenig los wie von ihren Drogen. Schwere psychische Erkrankungen sind ein Ausdruck dafür, dass jemand seine eigene Identität nicht lebt. Bei zahlreichen Erkrankungen zerstört sich der Körper wie von selbst, und die Betroffenen fühlen sich diesen Vorgängen hilflos ausgeliefert. Meine Arbeitshypothesen für dieses Buch lauten daher: Der seelische Hintergrund sehr vieler Lebens-und Beziehungskonflikte sind symbiotische Verstrickungen. Symbiotische Verstrickungen entstehen, wenn die ursprünglichen kindlichen Symbiosebedürfnisse nicht befriedigt werden. Die dauerhafte Frustration kindlicher Symbiosebedürfnisse stellt eine eigene Kategorie von Trauma dar: das Symbiosetrauma. Das Symbiosetrauma bildet die Grundlage für das Entstehen psychischer Störungen wie Ängste, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Süchte oder Psychosen. Es schlägt sich auch in zahlreichen körperlichen Erkrankungen nieder. Die Ursache dafür, warum Eltern ihre Kinder nicht ausreichend symbiotisch versorgen können, sind ihre eigenen Traumaerfahrungen.Weilsietraumatisiertsind,könnensieihrenKindernweder den erforderlichen emotionalen Rückhalt bieten noch sie in ihrer Autonomieentwicklung unterstützen. Traumatisierte Eltern merken es nicht, wenn sie ihre Traumata auf ihre Kinder übertragen. Traumata, Symbiosetraumata und symbiotische Verstrickungen erhöhen das Risiko weiterer Traumatisierungen und setzen sich über Generationen in den Eltern-Kind-Beziehungen fort, wenn diese Prozesse nicht erkannt und unterbrochen werden.