|16|3 Beratung als Lösung von Problemen unter Beachtung von Selbstorganisationsprozessen
Für die praktische Gestaltung und empirische Analyse von (arbeitsweltbezogenen) Beratungsprozessen legen wir im Folgenden zwei theoretisch und empirisch fundierte Metatheorien zugrunde, die beide einen systemischen Fokus haben: die Problemlösetheorie mit ihrem Phasenmodell für die Bearbeitung/Lösung komplexer Anliegen (vgl. Kap. 3.1) und die Synergetik als Theorie der Selbstorganisation (vgl. Kap. 3.2). Beratung versteht sich folglich als Beitrag zur Stärkung der Problemlöse- und Selbstorganisationsfähigkeit von Ratsuchenden. Aus beiden sich systemisch verstehenden Bezugstheorien ergeben sich Wirkprinzipien bzw. Erfolgsfaktoren, die im Interesse eines erfolgreichen Beratungsprozesses zu beachten sind (vgl. Kap. 3.3). Diese Überlegungen lassen sich in ein Rahmenmodell zur Gestaltung und Analyse von Beratung integrieren (Kap. 3.4).
3.1 Problemlösetheorie
Wie bereits im Kapitel 2 erläutert wurde, lässt sich professionelle Beratung im Vergleich zu alltäglichen Beratungssituationen u. a. dadurch charakterisieren, dass eine Vorstellung darüber besteht, in welche inhaltlichen und zeitlichen Schritte sich der komplexe Prozess heuristisch strukturieren lässt. Nahezu alle Beratungsansätze weisen dementsprechend ein mehr oder weniger explizites Phasenschema auf (vgl. z. B. allgemein Thiel, 2003a; für die kognitive Verhaltensberatung Borg-Laufs, 2004, S. 139, S. 634 ff.; für Coaching und Organisationsentwicklung König & Volmer, 2012, S. 67 ff.; für die lösungsorientierte Beratung Bamberger, 2010, S. 63 ff.).
Auch wenn davon auszugehen ist, dass eine zu Beginn des Beratungsprozesses entwickelte Planung in der Regel öfter revidiert werden muss, weil der Veränderungsprozess nicht linear, sondern oft spontan verläuft (vgl. dazu den nächsten Abschnitt), erscheint es sinnvoll, sich an einem Phasenschema als Planungsgrundlage zu orientieren. Eine solche Bezugnahme ermöglicht eine ungefähre Vorstellung vom Verlauf des Prozesses und trägt dazu bei, die Komplexität zu reduzieren. Eine transparente Ablaufstruktur gibt sowohl für professionelle Beratende als auch für Ratsuchende einen gewissen Halt und bietet eine Verständigungsbasis für das gemeinsame Vorgehen. Dies ist wichtig, da Veränderungsprozesse tendenziell mit Verunsicherung, Instabilität und Angst einhergehen (vgl. dazu weiter unten das generische Prinzip „Stabilitätsbedingungen schaffen“). Da der Beginn der Beratung häufig von einem eher allgemeinen Anlass oder diffusem Unbehagen geprägt ist, trägt die Orientierung an Phasen dazu bei, dass die zu bearbeitende Situation immer konkreter, der Lösungsweg überschaubarer und planbarer sowie die Erfolgsaussicht eines Beratungsprozesses gesteigert, aber nicht garantiert wird. Die Phaseneinteilung ermöglicht somit „Hoffnung auf Erfolg“ bzw. zur Antizipation der Zukunft auf dem Weg vom „Ist“ zum „Soll“ bei. Die Betonung der Vorläufigkeit symbolisiert den Balanceakt zwischen der grundsätzlichen Unwägbarkeit der Zukunft und dem Bedürfnis nach Stabilität angesichts des geplanten Veränderungsprozesses.
|17|Es ist demzufolge naheliegend, sich der theoretisch begründeten und empirisch fundierten Problemlösetheorie zu bedienen (vgl. Dörner, Schaub & Strohschneider, 1999; Gomez & Probst, 1999; Ulrich & Probst, 1991). Die Forschung zum „komplexen Problemlösen“ hat seit den 1970er Jahren im Wesentlichen auf der Basis computersimulierter Szenarien im Rahmen der kognitionspsychologisch orientierten Laborforschung die Merkmale von schwierigen, „unbestimmten“ Situationen herausgearbeitet. Das betrifft
die Komplexität der Situation (Anzahl der Einflussfaktoren, Art und Dichte ihrer Verknüpfungen),
die Intransparenz (Elemente sind teilweise unbekannt),
die Abhängigkeiten zwischen den beteiligten Einflussgrößen,
die Eigendynamik des Systems und
die Vielzahl von Zielen bei Entscheidungssituationen (vgl. Dörner, 2007, S. 67 ff.; Schiepek et al., 1997).
Dörner (1976) definiert ein Problem durch drei Merkmale: einen unerwünschten Ausgangszustand (= die „Ist-Situation“/der Problembereich), eine gewünschte Veränderung als Ziel (= „Soll-Zustand“/Zielbereich) und eine Wegstrecke, die unter Einsatz unterschiedlicher Mittel und Methoden zurückgelegt werden muss – also ein unter Umständen längerer, risikoreicher Weg vom „Hier und Jetzt“ der Ausgangssituation zum „Dort und Dann“ des gewünschten Zielzustandes. Dabei ist in der Beratung häufig von einem „dialektischen“ Problemtypus auszugehen, bei dem zu Beginn weder das Ziel ganz klar noch die notwendigen Methoden auf dem Weg dahin hinreichend bekannt sind. Dörner (1976) zu Folge stellt das Problemlösen ein strategisches Werkzeug zur Reduktion dieser Unbestimmtheit dar.
Die Abbildung 2 zeigt ein solches phasenorientiertes Prozessmodell, auf dessen Grundstruktur sich (fast) alle anderen in der wissenschaftlich basierten Beratungsliteratur publizierten Modelle abbilden lassen, wobei die Phasen und deren Benennung teilweise etwas differieren. Es umfasst nach der vorangehenden Auftragsklärung die folgenden Aspekte (vgl. Schiersmann & Thiel, 2012, S. 53 f., 2014, S. 69 f.):
die Problemerkundung und eine mehr oder weniger intensive Analyse der Ausgangssituation („Was ist Ihr Anliegen/Problem?“),
die Zielklärung („Was wollen Sie erreichen? Was ist Ihr konkretes Ziel?“),
die Ideensammlung und Strukturierung möglicher Veränderungsschritte, Lösungswege bzw. Maßnahmen zur Zielerreichung („Wie können Sie dieses Ziel erreichen? Welche Schritte/Maßnahmen erscheinen geeignet/sinnvoll?“),
die Planung der Umsetzung („Welche Ressourcen/Unterstützung haben/brauchen Sie? Was sind die nächsten Schritte?“),
die Umsetzung und Kontrolle der Durchführung („Lassen sich die Schritte wie vorgesehen realisieren? Gibt eine mögliche Abweichung vom Plan Anlass für Korrektur von Wegen oder Zielen?“),
die Evaluation, Reflexion und der Transfer von Ergebnissen („Wurde das Ziel erreicht? Im Hinblick auf welche Kriterien ist der Prozess ein Erfolg? Wer hat was gelernt? Auf welche anderen Situationen/Probleme sind die gemachten Erfahrungen übertragbar?“).
Es handelt sich bei diesem Phasenmodell jedoch nicht um eine normativ vorgegebene, auch nicht unbedingt um eine zeitliche, sondern eine logische Abfolge. Das Phasenschema |18|ist nicht starr aufzufassen, es wird nicht zwingend sequenziell durchlaufen, gegen Ersteres wehren sich manche Autoren zu Recht (vgl. u. a. Simon, 2002). So kann statt mit einer ausführlichen Diagnose auch mit der Zielklärung begonnen werden oder auch mit einer Sammlung von konkreten Lösungsschritten in Form eines Brainstorming. Häufig ist ein „vielfältiges Hin- und Herspringen zwischen diesen verschiedenen Stationen“ (Dörner, 2007, S. 73) zu konstatieren. Das mehrfache Durchlaufen dieser Schritte ist als „iterativer Prozess“ zu betrachten. Jede einzelne Phase könnte in sich wieder als Problemlösekreislauf dargestellt werden. Werden gar alle Phasen zusammen mehrmals „abgearbeitet“, müsste der gesamte Problemlösekreislauf grafisch als Zyklus dargestellt werden (vgl. Schiersmann & Thiel, 2000, S. 145). Um den damit angesprochenen systemischen Charakter eines komplexen Problemlöseprozesses zu unterstreichen, werden die einzelnen Phasen durch ein Netz von zirkulären Rückkoppelungsschleifen dargestellt (vgl. Abb. 2). Die Gesamtheit dieses Zusammenspiels beim komplexen Problemlösen macht das Systemische aus.
Abbildung 2: Phasenorientierter Problemlöseprozess (aus Schiersmann & Thiel, 2014, S. 69)
3.2 Theorie der Selbstorganisation (Synergetik)
Auch wenn wir davon ausgehen, dass für professionelle Beratende ein nicht normativ, sondern systemisch...