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Syria

Geschichte einer zerstörten Welt

AutorMichael Sommer
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783608100617
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Mit seinem Bildersturm hat der IS unersetzliche Kulturschätze verwüstet. Michael Sommer schlägt eine Brücke zwischen Gegenwart und Antike: Souverän erzählt und deutet er die wechselvolle Geschichte eines einzigartigen Kulturraums, der unsere Identität bis heute mit prägt. Nahezu wöchentlich werden wir Zeugen, wie der IS antikes Erbe zerstört. Zugleich zerschlägt er die Ordnung, die nach dem Ersten Weltkrieg die Siegermächte entworfen haben. Doch die Geschichte zitiert sich nur selbst. Der IS tut nur das, was antiimperiale Akteure immer wieder getan haben: Ordnung umstürzen und Erinnerung auslöschen. Werden sich auch die selbsternannten Kalifen des IS zu Herren eines neuen Imperiums aufschwingen? Und was geht der Welt mit der Auslöschung zentraler Erinnerungsorte wie etwa Palmyra und Hatra verloren? Michael Sommer zeigt, wie die Menschen zwischen Mittelmeer und Tigris sich in den großen Reichen einrichteten, indem sie sich deren Religion, Kunst, Architektur und Recht aneigneten. So gedieh ein kosmopolitisches Milieu relativer Toleranz. Doch die Macht hat auch eine dunkle Seite: Imperien sind stets Kreaturen von Chaos und Gewalt, die erst die Voraussetzungen für ihre Existenz schaffen.

Michael Sommer, geboren 1970, studierte Geschichte, Klassische Philologie, Wissenschaftliche Politik und Vorderasiatische Archäologie in Freiburg. Von 2002 bis 2012 forschte und lehrte er in Oxford und in Liverpool. Seit 2012 ist er Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg. Seine Bücher zur römischen Geschichte sind Standardwerke.

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Leseprobe

PROLOG


An einem Frühjahrstag des Jahres 243 n. Chr. wechselte die Sklavin Amatsin zum Preis von 700 Denaren den Besitzer. Amatsin war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt und lebte in Edessa, der vormaligen Hauptstadt eines kleinen Königreichs namens Osrhoene, das sich zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris im nördlichen Mesopotamien ausdehnte. Dass Menschen ein Handelsgut waren, das man kaufen und verkaufen konnte wie Kleider oder Töpfe, war in der Antike ganz und gar nichts Ungewöhnliches. In Griechenland und Rom ebenso wie im Alten Orient war die Arbeitskraft von Sklaven in nahezu allen Bereichen unentbehrlich: in der Landwirtschaft und im Gewerbe wie im Haushalt. Wer Sklave war, war eines anderen Menschen Eigentum. Oder aber er gehörte dem Staat, einem Tempel, einer Organisation. Sklaverei begründete einen Rechtsstatus, sie sagte nicht unbedingt etwas über die Lebensumstände einer Person aus. Manche Sklaven waren wirtschaftlich bessergestellt als viele Freie.

Über Amatsin wissen wir wenig genug. Sie war durch Gefangenschaft zur Sklavin geworden, auch das war im Altertum gang und gäbe. Ihre Herrin war Marcia Aurelia Matarata, Tochter des Schamnai, Bürgerin von Edessa und – das können wir ihrem mittleren Namen, lateinisch gentilicium genannt, entnehmen – auch römische Bürgerin. Selbst dass man in einem so entlegenen Winkel des vom Atlantik bis zum Tigris reichenden Imperiums römische Bürger antraf, war im 3. Jahrhundert n. Chr. nichts Außergewöhnliches. Ganz im Gegenteil: Der Kaiser Caracalla hatte 212 n. Chr. per Edikt alle freien Einwohner seines Reichs zu römischen Bürgern erklärt. Solch eine Caracalla-Römerin war höchstwahrscheinlich auch Aurelia Matarata; auch das verrät ihr gentilicium. Die Sklavenbesitzerin aus Edessa war dem Recht nach römische Bürgerin; ob sie auch als Römerin dachte und fühlte, sagt ihr Name nicht. Wohl aber, dass mit Sicherheit weder Lateinisch noch Griechisch ihre Muttersprache war. Der Beiname (cognomen) Matarata ist aramäisch und bedeutet soviel wie »Geschenk der Tarata«, wobei Tarata ein anderer Name für die Göttin Atargatis ist. Matarata war die Tochter eines gewissen Schamenbaras, ihr Gatte trug den Namen Aurelius Hafsai. Auch der Käufer der Sklavin, Lucas Aurelius Tiro aus der unweit von Edessa liegenden Stadt Karrhai, hörte auf einen römisch-aramäischen Mischnamen. Tiro, Matarata, Schamenbaras und Hafsai bewegten sich offenkundig in einem Milieu, in dem Aramäisch Verkehrssprache war, in dem aber die Rechtsnormen des römischen Imperiums galten.

Wir wüssten weder von der Existenz Mataratas noch ihrer Sklavin Amatsin, hätten nicht Archäologen in den 1930er Jahren einen Papyrus gefunden, auf dem vor fast 1800 Jahren die Konditionen des Verkaufs der Sklavin durch Matarata an Tiro niedergelegt worden waren.1 Bemerkenswert ist der Fundort dieses zweisprachigen – auf Griechisch und Aramäisch abgefassten – Dokuments: Ans Licht kam der Papyrus in einem Turm der Stadtmauer von Dura-Europos, rund 300 Kilometer Luftlinie von Edessa entfernt. Darüber, wie der Kaufvertrag dorthin gelangt ist, können wir nur spekulieren. Normalerweise hatten römische Städte eine gut funktionierende Verwaltung, zu deren Aufgaben auch die Archivierung von Rechtsurkunden aller Art gehörte. Als Matarata allerdings ihre Unterschrift unter den Kaufvertrag setzte – oder vielmehr nicht setzte, denn sie war Analphabetin und ließ jemanden an ihrer statt das Dokument zeichnen –, herrschte Krieg. 243 n. Chr. reagierte der römische Kaiser Gordian III. auf die Expansionsgelüste seines persischen Widerparts Schapur I. Er schlug die Perser, die mehrfach Vorstöße auf römisches Territorium unternommen hatten, bei dem Ort Rhesaina in Osrhoene, nur etwa 40 Kilometer von Edessa entfernt.2 Denkbar also, dass es den Kaufvertrag in den Kriegswirren ins vorerst noch relativ sichere Dura-Europos verschlug, weil man Archivmaterial aus Edessa auslagerte. Möglich auch, dass einer der Partner des Deals sich in Dura aufhielt und eine Ausfertigung der Urkunde mit sich führte.

Überhaupt fällt auf, dass die Alltagswelt des Kaufvertrags durch erstaunlich viele Glieder mit der großen Politik jener Jahre verknüpft ist. Das fängt schon mit der Datierung an. Im Monat Ijjar – im April/Mai – des Jahres 31 sei die Urkunde aufgesetzt worden, erfahren wir aus dem Kopf der Urkunde. Erst im eigentlichen Text wird diese Angabe aufgeschlüsselt: »Im Jahr sechs des Autokrator Caesar Marcus Antonius Gordianus Eusebes Eutyches Sebastos« bzw. »im Monat Ijjar im Jahr 554 der alten Ära und im Jahr 31 der Befreiung von Antoniana Edessa, der Ruhmreichen, colonia, metropolis Aurelia Alexandria« sei das Geschäft abgeschlossen worden. Drei Datumsangaben konkurrieren in einem einzigen Satz miteinander: die Zählung nach Herrscherjahren des amtierenden Kaisers Gordian III., die »alte Ära« und die Ära der »Befreiung« der Stadt Edessa. Gordian war seit 238 Kaiser; dass nach den Amtsjahren römischer Kaiser gezählt wurde, war in der römischen Welt durchaus nichts Ungewöhnliches. Auch die zweite Datumsangabe genoss weite Verbreitung, jedenfalls in den orientalischen Provinzen. Die »alte Ära« war die Seleukidische Zeitrechnung, die mit dem Herrschaftsantritt Seleukos’ I. in Babylonien einsetzt (312 n. Chr.). Seleukos war einer jener »Diadochen«, die um die Nachfolge Alexanders des Großen stritten und auf dem Boden des Reiches, das der Makedone geschaffen hatte, neue Dynastien errichteten. Aufhorchen lässt die dritte Datumsangabe: Die »Befreiung« Edessas bezieht sich auf die Annexion des Königreichs Osrhoene durch Kaiser Caracalla im Jahr 212/13 n. Chr. Dessen Hauptstadt Edessa, jetzt ihres Königs ledig, erhielt durch ihre Erhebung zur römischen Kolonie (colonia) und zur »Mutterstadt« (metropolis) der Region einen privilegierten Status. Dass alle Osrhoener die Eingliederung des kleinen Königreichs wirklich als »Befreiung« erlebten, darf man bezweifeln. Als einschneidende Zäsur, die mit gutem Grund eine neue Zeitrechnung eröffnete, dürften hingegen alle die Stabübergabe an Roms Statthalter erlebt haben.

Repräsentanten des römischen Edessa treten auch im weiteren Text der Urkunde in Erscheinung, als Zeugen und die Transaktion notariell beurkundende Beamte: Ein Marcus Aurelius Antiochus, römischer Ritter, amtierte als Priester, ein Marcus Aurelius Abgar, auch er römischer Ritter, und ein weiterer Abgar fungierten als Oberbeamte (strategoi). Noch ein Aurelius, Mannos mit cognomen, fungierte als Chef der städtischen Archive und Urkundsbeamter. Aurelius Antiochus und Aurelius Abgar sind als Angehörige des Ritterstands bereits in die zweite Klasse der römischen Reichselite aufgerückt. Lokale Notabeln wie sie hatten erkennbar von der Annexion durch Rom profitiert. Ihnen standen jetzt Aufstiegsmöglichkeiten offen, von denen sie in dem überschaubaren Königreich Osrhoene nur hatten träumen können.

Der Laie staunt: Aus einer einzigen Urkunde mit kaum 40, noch dazu fragmentarischen und interpretationsbedürftigen Textzeilen lässt sich eine ganze Menge in Erfahrung bringen über die Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Stadt am Rand der römischen Welt – Menschen, die normalerweise nicht im Lichte stehen, sondern im Dunkeln, und die sieht man ja bekanntlich nicht. Die Frage aber, ob Aurelia Matarata und der gleichfalls mit dem römischen gentilicium versehene Käufer Tiro wie Römer dachten und sich als solche fühlten, bleibt noch immer unbeantwortet. Über die »Identität« der Akteure schweigt sich der Papyrus, jenseits der nackten Namen, aus. Die Frage ist aber womöglich auch falsch gestellt.

Warum? Hatten denn Menschen im Altertum keine Identität als Gruppe, kein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Nation? Selbstverständlich: Nahezu jeder fühlte sich seiner Familie, seinen Nachbarn oder seiner Stadt und manch einer, wie noch zu sehen sein wird, auch seinem Stamm verbunden. Für viele, die meisten, war mehr als ein Kollektiv Bezugspunkt von Identität: Man konnte sich als Bürger von Ephesos fühlen und als Mitglied des Vereins der Silberschmiede. Daneben war man vielleicht auch römischer Bürger, und auch das war lange mehr als nur ein Rechtsstatus gewesen. Vor allem war es bei den Bewohnern der Provinzen Ausweis der Loyalität gegenüber Kaiser und Reich. Lange war es aber auch eine identitätsrelevante Kategorie gewesen. Wer römischer Bürger war, war stolz darauf. Schließlich gehörte man, wenn man sich Iulius, Flavius, Ulpius oder Aelius nennen durfte, einer privilegierten Minderheit in der eigenen Gemeinde an. Ob den Caracalla-Römern ihr...

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