1 Das Pilotprojekt „Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW“ – Ausgangssituation, Hintergründe und Diskussionsstand
Von Jörg Thiele
Das Pilotprojekt „Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW“ entstand auf Initiative des Ministeriums für Schule und Weiterbildung NRW und des Engagements verschiedener Trägerorganisationen (Betriebskrankenkasse NRW; Landessportbund NRW; Unfallkasse NRW). Dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt vor dem Hintergrund bestimmter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen aus der Taufe gehoben wurde, ist sicher kein Zufall. Im nachfolgenden einleitenden Kapitel sollen einige dieser Rahmungen mit dem Ziel skizziert werden, die daraus sich ergebenden Konsequenzen für die Konzeption und das Design des Forschungsprojekts besser nachvollziehen zu können. Dies soll in drei Schritten geschehen. Zunächst werden Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern betrachtet, die vor allem im Kontext des zunehmend auch ins gesellschaftliche Bewusstsein rückenden Themas des Bewegungsmangels diskutiert werden (vgl. Kap. 1.1). Schule erweist sich dabei als der Ort, an dem Bewegung systematisch und verpflichtend für alle Kinder zum Gegenstand gemacht werden kann.
Der spezifischere Fokus auf die Schule zeigt in einem zweiten Schritt, dass die Einbeziehung der an einer schlichten Defizitperspektive orientierten Thematik Bewegungsmangel zwar notwendig ist, aber nicht hinreichend, um die konstruktiven sport- und schulpädagogischen Dimensionen der Bewegungsthematik auch mit Ziel einer Ausweitung innerhalb der Institution Schule angemessen zu erfassen und zu begründen (vgl. Kap. 1.2).
Der dritte Schritt schließlich unternimmt im Sinne einer noch engeren Fokussierung eine Zusammenschau des bisherigen (inter-)nationalen Forschungsstands zur Frage der systematischen Ausdehnung von Bewegungszeiten bzw. Sportunterricht (Kap. 1.3).
1.1 Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern
Niemand wird ernsthaft in Frage stellen können, dass moderne Gesellschaften eine enorme Entwicklungsdynamik produzieren. Technisierung, Medialisierung, Ökonomisierung oder Globalisierung sind nur einige der Schlagworte, die solche Prozesse gleichermaßen bezeugen wie mit vorantreiben. Die Dynamik scheint sich dabei stetig zu erhöhen und ein Ende ist offenbar nicht in Sicht. Angekoppelt an diese Avantgarde der Entwicklung sind auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozesse, die allerdings – so hat es den Anschein – anderen Veränderungsgeschwindigkeiten unterliegen. So benötigen beispielsweise politische Entscheidungsprozesse nach wie vor vergleichsweise viel Zeit, von deren Umsetzung gar nicht zu reden. Während moderne Kapitalmärkte mittlerweile fast seisomografisch auf kleinste Veränderungen im Minutentakt reagieren, benötigen Planfeststellungsverfahren zur Entwicklung infrastruktureller Maßnahmen immer noch Jahre oder Jahrzehnte. Konstatierbar ist demnach eine wachsende Asychronizität in den Teilsystemen moderner Gesellschaften, die immer größere Differenzen zwischen den Teilsystemen moderner Gesellschaften zur Folge haben.
Trotz dieser Unterschiede, die auf der Wahrnehmungsseite zu nicht unerheblichen Problemen führen, verändern sich auch die „Lebenswelten“ der Menschen in modernen Gesellschaften langsamer zwar als in den oben skizzierten Prozessen, aber vermutlich auch schneller als die Lebenswelten vergangener Generationen. Die „relative“ Langsamkeit lebensweltlicher Veränderungen führt, wie angedeutet, auch zu Problemen ihrer angemessenen Wahrnehmung, sodass Beschreibungen derartiger Prozesse zumeist mit einiger zeitlicher Verzögerung erfolgen, von Konsequenzen noch gar nicht zu reden.
Diese Feststellung gilt ohne Einschränkung auch für die Prozesse, die mittlerweile im Kontext der Veränderung der Lebenswelten von Kindern fast standardmäßig beschrieben werden. Seit mehreren Jahrzehnten – und hier zeigen sich schon die zeitlichen Maßstäbe – finden Veränderungsprozesse statt, die in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit – vielleicht seit zwei Jahrzehnten – zu massiven und essenziellen Umstrukturierungen der Lebenswelten von Kindern führen, ohne dass über die daraus sich ergebenden Konsequenzen bereits Klarheit bestünde (vgl. z. B. Fölling-Albers, 1992; Fölling-Albers, 2001; Rohlfs, 2006). Das eindringlichste Beispiel dafür liefert wohl der sogenannte Prozess der Medialisierung. Es ist bereits ein Vierteljahrhundert her, dass Neil Postman mit Blick auf den Siegeszug des Fernsehens vom „Verschwinden der Kindheit“ gesprochen hat (1983) und von den „neuen Medien“ überhaupt noch keine Rede war. Gerade der Prozess der Medialisierung führt die Ungleichzeitigkeit technologischer Entwicklungen, lebensweltlicher Umstrukturierungen und gesellschaftlicher Reaktionsgeschwindigkeiten drastisch vor Augen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Handys auch bei Kindern und Jugendlichen, einschließlich der damit einhergehenden Veränderung von Kommunikationsgewohnheiten, mag als bislang letztes Beispiel für diese Entwicklung genügen (vgl. KIM-Studie, 2008).
Der entscheidende Punkt bei dieser Betrachtung ist, dass in den letzten Jahrzehnten und Jahren massive Veränderungsprozesse innerhalb der Lebenswelten von Kindern stattfinden, deren gesellschaftliche Wahrnehmung aber in aller Regel mit erheblicher zeitlicher Verzögerung geschieht, sodass bei problematischen Entwicklungen das Kind – im wahrsten Sinne des Wortes – schon am Rand des Brunnens steht, bevor die prekäre Situation überhaupt zur Kenntnis genommen wird.1 Bezogen auf den in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückten Aspekt des Bewegungsmangels, der im Folgenden noch genauer umrissen werden soll, werden insbesondere zwei Tendenzen der Veränderung kindlicher Lebenswelten als Mitverursacher ins Feld geführt: die Umstrukturierung der räumlichen Umwelten und die schon genannte Medialisierung.
Der Prozess der Medialisierung durchzieht unsere Gesellschaft seit mehr als einem halben Jahrhundert, wenn man darunter die flächendeckende Verbreitung der elektronischen Medien versteht. Zunächst auf die Erwachsenenwelt begrenzt, sind die elektronischen Medien dabei, sich auch die Lebenswelten von Jugendlichen und zunehmend auch von Kindern zu erobern. Ausgehend vom Fernsehen, über Video, Computer, Internet und Handy, kann man von einer extrem schnell steigenden Ausbreitung sprechen. Fernsehen und Video befinden sich heute in jedem Haushalt, oftmals besitzen Kinder eigene Fernseher, die Ausbreitung von Computer und Internet ist auf dem Vormarsch und die Verbreitungsgeschwindigkeit von Handys schlägt alles bislang Bekannte – es ist also durchaus angezeigt, von einer zunehmenden Medialisierung auch schon der kindlichen Lebenswelt zu sprechen, dabei allerdings auch einen differenzierten Blick zu bewahren (vgl. KIM, 2008, S. 63ff.). Anders liegen die Dinge wie immer, wenn man von der Deskription zur Bewertung kommt. Wir umgehen diese Problematik, indem wir uns auch hier auf eine Beschreibung der normativen Einschätzungen beschränken. Diese fallen weitgehend negativ aus, indem sie die unerwünschten Konsequenzen des Medienkonsums in den Vordergrund rücken. Bezogen auf den Bewegungsmangel, werden hier zum einen quantitative Argumente ins Feld geführt, da die im Kontext von Medien genutzte Zeit einer potenziellen Bewegungszeit verloren geht, zum anderen auch qualitative Argumente, die die reduzierte Form der Auseinandersetzung mit der Umwelt ins Feld führen. Die passiv-konsumierende und sinnlich-reduzierende Haltung wird als den kindlichen Entwicklungs- und insbesondere Bewegungsbedürfnissen wenig angemessen dargestellt (vgl. die Diskussion zusammenfassend Burrmann, 2005).
Die Veränderung der räumlichen Umwelten ist eine zweite zentrale Dimension der Veränderung kindlicher Lebenswelten (vgl. z. B. Dietrich, 1996; Schmidt, 2006, S. 50ff.). Auch hier werden sehr unterschiedliche Prozesse beschrieben, die innerhalb der Kindheitsforschung häufig mit dem Etikett der „Verhäuslichung“ versehen werden. Im Vergleich zu ehemals eher außerhalb der eigenen Wohnung stattfindenden Prozessen kindlicher Sozialisation (z. B. „Straßenkindheit“) haben sich auch hier innerhalb der letzten Jahrzehnte eindeutige Tendenzen zu einer zunehmenden Verlagerung dieser Prozesse in die eigenen vier Wände feststellen lassen (vgl. Schmidt, 1998, S. 115ff.). Sowohl die neu entstandenen Optionen durch mehr zur Verfügung stehenden Wohnraum als auch der Verlust von einer ehemals offenen Nutzung zugänglichen Flächen oder Straßen durch zunehmende Bebauung oder Versiegelung haben zu dieser Entwicklung geführt, die in ihrer Grundtendenz auch eher als negativ bewertet wird.
Bezogen auf die Bewegungsmöglichkeiten von Kindern, wird in der „Verhäuslichung“ auch ein Veränderungsprozess identifiziert, der einem Bewegungsmangel Vorschub leistet. Plausibilisiert wird diese Einschätzung nicht allein durch die Optionenvielfalt, die eine räumliche Umwelt außerhalb der Wohnung bietet, sondern auch durch die Notwendigkeit zur Bewegung, die allein durch die räumlichen Abstände und Wege quasi erzwungen wird. Wird die „Draußenkindheit“ so als Bewegungskindheit verstanden, so wird die „Drinnenkindheit“ mit einer „Stubenhockerkindheit“ gleichgesetzt.
Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern sind also in beträchtlichem Ausmaß auch Veränderungen der Bewegungswelt von Kindern, die in der Konsequenz zu einem Bewegungsmangel von Kindern führen. Die These des Bewegungsmangels wird insbesondere im Rahmen von sportwissenschaftlichen Diskussionen seit ein bis zwei Jahrzehnten mit unterschiedlicher Intensität geführt2, sie hat aber...