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Täter und Täterstrategien. Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule. Notwendige Präventionsmaßnahmen

AutorJanet Schua
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl104 Seiten
ISBN9783668323377
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2015 im Fachbereich Pädagogik - Sonstiges, Note: 1,0, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Ihr seid jetzt auf der Odenwaldschule. Hier ist alles erlaubt.' (Gerold Becker, zit. n. Dehmers, S. 36) Mit diesen Worten leitete Gerold Becker, früherer Schulleiter der Odenwaldschule im hessischen Ober-Hambach, eine seiner Begrüßungsreden zu Beginn des Schuljahres ein. Über dreißig Jahre später machten mehrere Altschüler in der Frankfurter Rundschau deutlich, was der damalige Schulleiter und weitere Lehrer der Schule unter dem Erlaubten verstanden: Ein System der Regellosigkeit, das jahrelange sexuelle Übergriffe gegenüber Schülern zuließ und anscheinend von einem Großteil der Lehrerschaft geduldet wurde. Das Publik werden der Missbrauchsfälle an der bekanntesten deutschen Reformschule im Jahr 2010 erschütterte die Gesellschaft zutiefst. Die Thematik des sexuellen Kindesmissbrauchs war fortan in aller Munde. Sowohl im medialen als auch im politischen und reformpädagogischen Diskurs löste es eine Welle weiterer Enthüllungen und juristischer Ermittlungen aus. Bei keiner anderen Schule, deren Name mit Missbrauchsfällen in Verbindung kam, reagierte die Öffentlichkeit mit derartigem Interesse und Empörung; nicht zuletzt bedingt durch das jahrelange Verschweigen und der einhergehenden Verschleppung der Aufklärung. Auch in den Folgejahren gelang es der ehemaligen UNESCO-Modellschule nicht, sich aus der selbst verantworteten Krise zu befreien. Im Jahr 2014 waren die Augen erneut auf das hessische Landerziehungsheim gerichtet, als ein Lehrer unter dem Verdacht des Besitzes von Kinderpornografie stand und sich grenzverletzend verhalten haben soll. Obwohl es den Anschein erweckt, dass mit der Veröffentlichung der Schlagzeilen im Jahr 2010 die Thematik des sexuellen Kindesmissbrauchs in Institutionen erst geboren wurde, ist die sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen kein neuartiges Phänomen. Als Reaktion auf den Missbrauchsskandal richtete die Bundesregierung die Stelle einer Missbrauchsbeauftragten ein und besetzte sie mit Christine Bergmann als unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs bis ins Jahr 2011. Innerhalb eines Jahres meldeten sich Frauen und Männer in über 2000 Briefen und 11.000 Anrufen und berichteten von, teilweise schon Jahre zurückliegender, erlebter sexueller Gewalt. Eine Analyse der Angaben offenbarte, dass ein Drittel der Kinder und Jugendlichen vornehmlich in Institutionen sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren (vgl. Bergmann 2011, S. 46)...

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Leseprobe

2 Ursachen und Verursacher sexuellen Missbrauchs


 

Sexuelle Missbrauchstäter sind meistens keine Außenseiter der Gesellschaft, sondern typische Durchschnittsmenschen, welche nach außen hin normal und sozial angepasst wirken. Aus diesem Grund spielen die Erforschung spezieller Merkmale und der Herausbildung wissenschaftlich fundierter Klassifikationen, vor allem für den Bereich der Tätertherapie und der Prävention, eine bedeutende Rolle (vgl. Heyden & Jarosch 2010, S. 41).

 

2.1 Pädophilie und Pädosexualität vs. Ersatzhandlungstäter


 

Die Frage nach den Tätern ist eines der kontroversesten Themen in der Debatte um sexuellen Kindesmissbrauch. In der Forschungsliteratur finden sich unterschiedliche Versuche, die Typologien verschiedenster Täter zu klassifizieren (vgl. Hoffmann 2011, S. 23). Heyden & Jarosch (2010, S. 44 - 53) liefern hierfür eine ausführliche Übersicht und teilen die Täter nach unterschiedlichen Merkmalen ein. Die gängigste Kategorisierung ist die Einteilung nach Groth (1982) in die Subgruppen der fixierten und die regressiven Typen. Als fixierten Typ, bzw. echte Pädophile, werden demnach Täter bezeichnet, die bereits zu Beginn ihrer psychosexuellen Entwicklung eine ausschließliche Neigung zu Kindern ausbilden, wobei diese Haltung lebenslang beibehalten wird. Diese pädophilen Neigungen beunruhigen den Täter nicht und er entwickelt keine Schuld- oder Schamgefühle. Beziehungen zu Gleichaltrigen werden gemieden, da sie nicht als sexuell lustvoll empfunden werden. Bei regressiven Tätern hat sich, nach Groth, im Zuge der soziosexuellen Entwicklung keine frühe sexuelle Neigung zu Kindern entwickelt, stattdessen ist eine primäre sexuelle Orientierung Gleichaltrigen gegenüber ausgebildet. Werden diese Beziehungen jedoch konfliktreich, treten Kinder in das sexuelle Blickfeld. Im Gegensatz zu den fixierten Tätern empfinden regressive Täter häufig Scham und Reue nach der Tat (vgl. Deegener 1995, S. 194 f.). Simkins u. a. (1990, zit. n. Deegener 1995, S. 210 f.) ergänzt die Klassifizierung um den weiteren Typus des soziopathischen Täters, der eine auffallend aggressive und sadistische Komponente aufweist.

 

Laut Hoffmann (2011, S. 23; 28) führt die Vielzahl an Typologierungsversuchen jedoch dazu, dass der Terminus der Pädophilie, der einen großen Teil der Diskussion über Missbrauchstäter ausmacht, mit unterschiedlichen Konnotationen versehen ist und von einigen Autoren nicht klar von anderen Tätertypen, wie z. B. den regressiven Tätern, abgegrenzt wird.

 

Unter dem Terminus der Pädophilie versteht sich die ausschließliche oder teilweise sexuelle Neigung zu vorpubertären Kinderkörpern. Laut ICD-10 wird die Erscheinung den Störungen der sexuellen Präferenz sog. Paraphilien zugeordnet. Die sexuelle Ansprechbarkeit auf Kinder kann sich dabei sowohl auf Jungen als auch auf Mädchen beziehen und wird als ausschließlicher Typus bezeichnet, wenn eine ausschließliche Neigung zum kindlichen Körperschema vorliegt und als nicht ausschließlicher Typus, wenn neben dieser Neigung eine sexuelle Erlebnisfähigkeit mit Erwachsenen besteht. Der Terminus definiert somit eine sexuelle Ausrichtung und sagt nichts über das sexuelle Verhalten aus (vgl. Ahlers & Schaefer 2012, S. 125 - 127). Laut Bundschuh (2001, S. 25 - 27) ist die Verwendung des Terminus jedoch problematisch, da er übersetzt Knabenliebe oder Kinderliebe bedeutet, wodurch eine positive sexuelle Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen suggeriert wird. Daher schlägt Dannecker (2002, S. 390) vor, den Begriff durch den Terminus Pädosexualität zu ersetzen, der den entscheidenden Aspekt dieser Neigung stärker in den Fokus rückt, nämlich das sexuelle Verlangen.

 

Unter Pädosexualität wird die realisierte sexuelle Handlung einer erwachsenen Person mit einem Kind verstanden. Damit beschreibt der Terminus ausschließlich die dissexuelle Verhaltensweise, die laut StGB als Kindesmisshandlung bezeichnet wird. Diagnostisch ist die Pädosexualität den Sexuellen Verhaltensstörungen zuzuordnen und somit keine Präferenzstörung (vgl. Ahlers & Schaefer 2012, S. 128). Ein Großteil der empirischen Studien belegt, dass die meisten sexuellen Missbrauchstäter keine pädosexuellen, sondern regressive Täter sind, auch Ersatzhandlungstäter genannt (vgl. ebd. S. 133).

 

Zusammenfassend ist festzustellen, dass eine Differenzierung zwischen Neigung und Verhalten, d. h. der sexuellen Präferenzstörung und der Pädosexualität, bzw. dem sexuellen Kindesmissbrauch, von erheblicher Relevanz ist. Vor allem im Bereich der klinischen Diagnostik und Therapie bedarf es dieser Unterscheidung, da Personen mit pädophiler Neigung ein höheres Risiko für erstmaligen und wiederholten sexuellen Missbrauch aufweisen. Aufgrund dieser Differenzierung steht sexueller Missbrauch nicht immer im Zusammenhang mit Pädophilie, da dieser nicht immer aus einer pädophilen Präferenzstörung abgeleitet werden kann (siehe Abb. 3) (vgl. Beier u. a. 2010, S. 366 f.).

 

 

Abb. 3: Zusammenhang zwischen sexueller Präferenz und sexuellem Kindesmissbrauch (Beier u. a. 2010, S. 367)

 

 

Abgesehen davon, ob sich ein Täter im Hell- oder Dunkelfeld befindet, ist anzumerken, dass eine pädophile Sexualpräferenz nur als tatbegünstigender Risikofaktor angesehen werden kann. Ob eine Person übergriffig wird oder nicht, hängt sowohl bei den Präferenz- wie den Ersatzhandlungstätern von spezifischen Ursachen ab (vgl. Ahlers & Schaefer 2012, S. 135 f.). Folgend werden die Erklärungsansätze, die am häufigsten zur Ursachenanalyse herangezogen werden, näher beleuchtet.

 

2.2 Angewandte Erklärungsmodelle für Missbrauchsverhalten


 

Die Erkenntnisse über die Entstehungsbedingungen sexuellen Kindesmissbrauchs und die Klärung der zugrunde liegenden Mechanismen sind für die Entwicklung entsprechender Präventionsmaßnahmen von großer Relevanz, um weiterem Missbrauch entgegenzuwirken. Die vielfältigen Erscheinungsformen des Missbrauchs verkomplizieren jedoch die Konstruktion eines allumfassenden Erklärungsmodells. Die Wissenschaft ist sich daher einig, dass sexueller Missbrauch alleinig multifaktoriell erklärbar ist. Derartige multifaktorielle Theorien sind bereits seit über 20 Jahren im wissenschaftlichen Diskurs gegenwärtig, wobei sich neuere Ansätze vermehrt aus integrativen Modellen zusammensetzen (vgl. Kuhle, Grundmann & Beier 2015, S. 112). Nachfolgend wird auf vier grundlegende Ansätze eingegangen: Der täterzentrierte Ansatz, der familiendynamische Ansatz, der feministische Ansatz und das Modell der vier Vorbedingungen nach Finkelhor.

 

2.2.1 Täterzentrierter Ansatz


 

Wie im Kapitel 1.3.3 bereits angedeutet, ist sexueller Missbrauch kein Randgruppenphänomen, sondern Täter und Opfer können aus den unterschiedlichen sozialen Schichten stammen. Es gibt also nicht den einen Täter, der einer bestimmten Herkunft entstammt oder durch besonders abnormes Verhalten auffällt. Stattdessen sind sie meist nicht von normalen Personen zu unterscheiden und zeichnen sich gerade durch ihre Angepasstheit aus. Das dies meist nur eine Strategie zum Schutz vor Entdeckung ist, können Betroffene es häufig nicht erkennen und so zeigt sich oftmals das stereotype Verhalten, an der Unschuld des Täters festzuhalten und das Geschehene nicht wahrhaben zu wollen (vgl. Heiliger & Engelfried 1995, S. 28).

 

Trotz dieser Erkenntnisse wird in den Medien, wie auch in Gerichtsverhandlungen, immer wieder mit den klassischen Mythen, wie sexuelle Unzufriedenheit, starke Libido, Verführung durch das Opfer oder Persönlichkeitsstörungen argumentiert (vgl. ebd. S. 30). Brockhaus & Kolshorn (1993, S. 78) stellen jedoch fest, dass diese Charakterisierungsversuche ungeeignet sind, da sie die Verantwortung des Täters leugnen und die Schuld von ihm weisen. Ähnlich verhält es sich mit dem hartnäckigen Argument, dass die Täter eine traumatisierende Kindheit erlebt hätten oder sogar selbst Opfer sexuellen Missbrauchs waren. Diverse Studienergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass dies bei einem Großteil der Täter nicht der Fall ist (vgl. Heiliger & Engelfried 1995, S. 31). Roth (1997, S. 59) stellt zudem fest, dass vor allem die Tatsache gegen diese Rechtfertigungsversuche spricht, „[…] daß Täter […] eine sehr aktive und planende Rolle bei sexuellem Mißbrauch übernehmen und genau wissen, was sie tun!“

 

2.2.2 Familiendynamischer Ansatz


 

Die zu Recht kritischen Aspekte der täterzentrierten Erklärungsansätze werfen weiterhin die Frage nach den Bedingungen sexuellen Kindesmissbrauchs auf. Dementsprechend liegt es nahe, dass sozioökologische Umfeld des Opfers näher zu beleuchten: die Familie. Familiendynamische oder auch systemische Ansätze sehen nicht einen psychisch oder sozial gestörten Täter als Verursacher, sondern die Familie selbst, in der der Missbrauch stattfindet (vgl. Hartwig & Hensen 2008, S. 26). Vertreter dieser Theorie gehen davon aus, dass Familien, in denen sexueller Missbrauch geschieht, als dysfunktional, desorganisiert oder zerrüttet zu bezeichnen sind (vgl. Bange & Deegener 1996, S. 54). Ein typisches Merkmal für diese Familien ist die Isolation nach außen. Im Gegensatz dazu sind die Grenzen innerhalb der...

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