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E-Book

Täuschend echt und glatt gelogen

Die Kunst des Betrugs

AutorMaria Konnikova
VerlagNagel & Kimche
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783312010523
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Es passiert nur den anderen, den Leichtgläubigen und den Gierigen, aber niemals uns: Onlinediebstahl, Anlagebetrug, Abzockerei. Doch die wahren Betrugskünstler finden bei jedem die Schwachstelle. Ob Schneeballsysteme oder Kunstfälschung, unechte Diplome, Sekten oder Investitionslügen: Immer geht es um Vertrauen, um die Kunst, andere etwas glauben zu lassen, um die richtige Story. Das wussten Gert Postel, Bernie Madoff und schon der 'Great Impostor' Waldo Demara in den 50er Jahren. Kann man sich überhaupt wappnen? Maria Konnikova verschafft verblüffende Einsichten, erklärt Strategien und Psychologie dieser Art von Verbrechen - und zeigt, wie man weniger leicht zu kriegen ist.

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Leseprobe

Einführung


Die Aristokraten des Verbrechens

David Maurer

Dr. Joseph Cyr, Stabsarzt der Royal Canadian Navy, kam an Deck der HMCS Cayuga. Es war im September 1951, im zweiten Jahr des Koreakriegs, und die Cayuga fuhr nördlich des achtunddreißigsten Breitengrads die Küste von Nordkorea entlang. Der Morgen war ruhig verlaufen; keiner war seekrank, keiner verletzt. Doch am frühen Nachmittag entdeckte der Ausguck etwas, was nicht recht zu der friedlichen Wasserlandschaft passen wollte: eine kleine, überfüllte koreanische Dschunke, in der jemand wie wild eine Fahne schwenkte und die hektisch auf das Schiff zusteuerte.

Nach einer Stunde war das marode Boot längsseits der Cayuga gekommen. Auf dem Boden lagen mitten im Dreck insgesamt neunzehn Menschen, mehr tot als lebendig. Furchtbar zugerichtete Körper, blutige Köpfe, verrenkte Gliedmaßen. Die meisten waren noch halbe Kinder. Sie seien in einen Hinterhalt geraten, erklärte ein koreanischer Verbindungsoffizier den Männern der Cayuga, daher die fürchterlichen Schuss- und Splitterverletzungen. Deshalb war Dr. Cyr an Deck gerufen worden: Er war an Bord der Einzige mit einer medizinischen Ausbildung und musste jetzt tätig werden – und zwar schnell. Wenn er nicht sofort etwas unternahm, würden höchstwahrscheinlich alle neunzehn sterben. Dr. Cyr machte seinen Arztkoffer bereit.

Es gab nur ein Problem. Dr. Cyr hatte nicht Medizin studiert und besaß erst recht nicht die für chirurgische Eingriffe an Bord eines Schiffs notwendige Qualifikation. Er hatte nicht einmal einen Highschool-Abschluss. Und er hieß auch nicht Cyr. Er hieß Ferdinand Waldo Demara, später bekannt als «der Große Betrüger» – einer der erfolgreichsten Hochstapler aller Zeiten, der in Robert Crichtons Buch The Great Impostor (Ein charmanter Hochstapler, 1959) verewigt wurde. Seine Karriere erstreckte sich über Jahrzehnte, seine Rollen umfassten die ganze Bandbreite eines Berufslebens. Aber nirgends fühlte er sich wohler als in der Rolle des Herrn über menschliches Leben: als Arzt.

In den folgenden achtundvierzig Stunden wurstelte sich Demara irgendwie durch und operierte mit Hilfe eines medizinischen Lehrbuchs, einer praktischen Anleitung, die ihm ein Kollege noch in Ontario auf seine Bitte hin «für die Truppe» erstellt hatte für den Fall, dass kein Arzt zur Hand war; dazu hatte er jede Menge Antibiotika (für die Patienten) und Alkohol (für sich selber) sowie eine gesunde Portion Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten. Schließlich war er früher schon einmal Arzt gewesen, natürlich auch Psychologe, Professor und Mönch (eigentlich viele Mönche). Außerdem Gründer eines religiösen Colleges. Warum sollte er also nicht auch Chirurg sein können?

Während Demara seine medizinischen Wunder auf hoher See vollbrachte und die Verwundeten vor dem Seegang schützte, indem er den provisorischen Operationstisch an den Planken festband, streifte ein eifriger junger Presseoffizier über die Decks auf der Suche nach einer Story. Die Redaktion machte ihm die Hölle heiß. Sie brauchte einen guten Stoff. Er brauchte einen guten Stoff. Wochenlang war kaum etwas Erwähnenswertes passiert. Er lechze förmlich nach Neuigkeiten, sagte er scherzend zu seinen Bordkameraden. Als sich die Rettung der Koreaner in der Mannschaft herumsprach, konnte er seine Begeisterung kaum zügeln. Die Story mit Dr. Cyr war phantastisch, nachgerade ideal. Niemand hatte Cyr aufgefordert, dem Feind zu helfen, aber sein hochanständiger Charakter hatte ihn dazu verpflichtet. Und mit was für Ergebnissen! Neunzehn Operationen. Neunzehn Mann, die von Bord der Cayuga gingen in einer weit besseren Verfassung als der, in der sie gekommen waren. Wäre der gute Doktor bereit, eine Kurzbiographie zu liefern, um den bedeutsamen Ereignissen dieser Woche ein Denkmal zu setzen?

Wie hätte Demara ablehnen können? Er war sich seiner Unangreifbarkeit so sicher geworden, verließ sich so sehr auf seine geliehene Identität als Joseph Cyr, Dr. med., dass ihm keine mediale Aufmerksamkeit übertrieben vorkam. Und er hatte einige ziemlich gekonnte Operationen vollbracht, auch wenn er selbst es war, der das sagte. Meldungen über Dr. Cyrs Wundertaten machten bald in ganz Kanada die Runde.

Dr. Joseph Cyr, das Original, verlor langsam die Geduld. Es war der 23. Oktober, der Arzt saß entspannt zu Hause im kanadischen Edmundston und versuchte vergeblich, in Frieden ein Buch zu lesen. Aber man wollte ihn einfach nicht in Ruhe lassen. Das Telefon spielte verrückt, kaum legte er den Hörer auf, läutete es schon wieder. War er der Doktor aus Korea?, wollten die freundlichen Anrufer wissen. Oder war es sein Sohn? Oder ein anderer Verwandter? Nein, nein, sagte er jedem, der sich die Mühe machte, zuzuhören. Mit dem hatte er nichts zu tun. Es gab viele Joseph Cyrs auf dieser Welt, er war das nicht.

Wenige Stunden später kam wieder ein Anruf, diesmal von einem guten Freund, der ihm die Biographie des «Wunderdoktors» vorlas. Es mochte ja viele Joseph Cyrs geben, aber dieser hier rühmte sich eines Lebenslaufs, der mit dem seinen identisch war. Was war da los? Irgendwann reichte der Zufall als Erklärung nicht mehr aus. Cyr bat seinen Freund um ein Foto. Bestimmt handelte es sich um eine Verwechslung.

Er erkannte das Gesicht sofort. «Moment mal, das ist doch Bruder John Payne, mein Freund von den Brüdern der Christlichen Unterweisung», erklärte er dem Anrufer. Bruder Payne war Novize gewesen, als Cyr ihn kennengelernt hatte. Den Namen Payne hatte er angenommen, nachdem er seinem weltlichen Leben entsagt hatte. In diesem war er – ganz ähnlich wie Cyr selbst – Mediziner gewesen. Sein ursprünglicher Name war Dr. Cecil B. Hamann, glaubte er sich zu erinnern. Aber wenn er jetzt erneut als Arzt tätig war, warum benutzte er dann seinen, Cyrs, Namen? Er war doch selbst hinreichend qualifiziert.

Demaras Lügengespinst löste sich rasch auf. Doch dass ihn die Navy schließlich feuerte, bedeutete keineswegs das Ende seiner Karriere. Die Navy war in größter Verlegenheit – ihr oblag die Verteidigung des Landes, und dabei wusste sie nicht einmal über ihr eigenes Personal Bescheid – und erhob keine Anklage. Demara alias Cyr wurde in aller Stille vom Dienst suspendiert und aufgefordert, das Land zu verlassen. Dieser Aufforderung entsprach er nur allzu gern, und trotz seiner neuen, freilich kurzlebigen Berühmtheit verkörperte er weiterhin erfolgreich eine ganze Reihe von Personen, vom Gefängniswärter über den Ausbilder an einer Schule für «geistig zurückgebliebene» Kinder bis hin zum bescheidenen Englischlehrer und zum Bauingenieur, an den um ein Haar der Auftrag für den Bau einer riesigen Brücke in Mexiko vergeben worden wäre. Als er dreißig Jahre später starb, war Dr. Cyr nur eins von Dutzenden Pseudonymen, die Demaras Lebensgeschichte Würze verliehen. Dazu gehörte auch Robert Crichton, der Name seines eigenen Biographen, den er kurz nach Erscheinen des Buchs und lang vor dem Ende seiner Betrügerkarriere annahm (auch wenn er versuchte, Crichton von seiner Ehrenhaftigkeit zu überzeugen, und Crichton ihm Glauben schenken wollte).

Immer wieder gelangte Demara – Fred für jene, die ihn ohne Verkleidung kannten – in verantwortungsvolle Positionen, sei es im Dienste der Bildung im Klassenzimmer, im Strafvollzug oder bei der Rettung von Leben an Deck der Cayuga. Immer wieder wurde er entlarvt und begann dann von neuem, seine Umgebung hinters Licht zu führen.

Was machte ihn so erfolgreich? Lag es daran, dass er sich besonders schwache, leichtgläubige Opfer aussuchte? Ich bin mir nicht sicher, ob der texanische Strafvollzug, den er hinters Licht führte – einer der härtesten der Vereinigten Staaten –, damit richtig beschrieben ist. Lag es an einem besonders überzeugenden Auftritt? Eher unwahrscheinlich bei einer Statur von über 1,80 Meter, dem Gewicht von 120 Kilo, dem kantigen Kinn eines Footballspielers und den Schweinsäuglein mit einem halb belustigten, halb bösartigen Ausdruck. (Bei der ersten Begegnung mit ihm fing Crichtons vierjährige Tochter Sarah vor Angst an zu weinen.) Oder war es etwas anderes, etwas Tieferliegendes – etwas, was mehr aussagt über uns selbst und wie wir die Welt sehen?

Es ist eine uralte Geschichte. Die Geschichte vom Glauben – vom elementaren, unwiderstehlichen, universellen Bedürfnis des Menschen, an etwas zu glauben, was dem Leben Sinn verleiht, etwas, was unsere Sicht auf uns selbst, die Welt und unseren Ort darin bestätigt. «Religion», soll Voltaire gesagt haben, «hat angefangen, als der erste Schurke auf den ersten Dummkopf traf.» Es klingt jedenfalls so, als hätte er es gesagt haben können. Voltaire war kein Freund der Religion. Aber Versionen genau dieser Worte sind auch Mark Twain, Carl Sagan und Geoffrey Chaucer zugeschrieben worden. Sie scheinen so zutreffend, dass gewiss irgendjemand irgendwo und irgendwann diesen Satz gesagt haben muss.

Und er scheint vor allem deshalb so zutreffend, weil er an eine tiefe Wahrheit rührt: Glaube ist für uns absolut notwendig, von den ersten Augenblicken unserer Bewusstwerdung an, von der unerschütterlichen Gewissheit des Kleinkindes, gefüttert und getröstet zu werden, bis hin zum Bedürfnis des Erwachsenen, darauf zu vertrauen, dass es irgendeine Art Gerechtigkeit und Fairness auf der Welt gibt. In gewisser Hinsicht haben es Betrüger wie Demara leicht. Wir nehmen ihnen einen großen Teil der Arbeit ab; wir wollen glauben, was sie uns erzählen. Ihre Begabung liegt darin, herauszufinden, was genau wir wollen, und sich selbst als perfektes Medium zur Erfüllung dieses...

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