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Tanz auf Messers Schneide

Kriminalität und Recht in den Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna

AutorSvenja Bethke
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl318 Seiten
ISBN9783868546538
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
'Kriminalität' und 'Recht' in nationalsozialistischen Ghettos - ein Thema, das auf den ersten Blick vielleicht verblüfft, sah man doch das Leben der von den Deutschen verfolgten und schließlich mehrheitlich ermordeten Juden Europas eher in einem rechtsfreien Raum der absoluten Willkür angesiedelt, der alle Rechtsvorstellungen ad absurdum führte. Und doch entwickelte sich in den Ghettos eine eigene Rechtssphäre. Die Deutschen erzwangen oft unmittelbar nach der Besetzung die Einrichtung von sogenannten Judenräten. Ihnen wurde in den Ghettos die Aufgabe zugewiesen, die antijüdischen Maßnahmen zu verkünden und zu vollziehen, die Umsetzung der von den Deutschen aufgestellten Forderungen nach Wertgegenständen und Arbeitskräften zu organisieren und letztlich den Massenmord reibungsloser zu ermöglichen. Die Judenräte entwickelten neue Definitionen von Kriminalität und Recht, die sie mit Hilfe der jüdischen Polizei, von Gerichten und Gefängnissen im Ghetto durchzusetzen versuchten. Stets ging es dabei um Handlungen, die als Gefahr für die Ghettogemeinschaft eingeordnet wurden. Neben Schmuggel gab es Delikte wie 'illegale Süßwarenproduktion', das Fälschen von Lebensmittelkarten, sexuellen Missbrauch und ghettointerne Morde. Svenja Bethke zeichnet ein vielschichtiges Bild der Ghettogemeinschaft, bei der es sich - entgegen häufigen Überlieferungen - nicht einfach um eine solidarische Opfergemeinschaft gehandelt hat, die als Kollektiv ums Überleben kämpft. Am Beispiel der Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna beschreibt Svenja Bethke, auf welche Weise die jüdischen Instanzen bemüht waren, das Recht als Instrument des Schutzes der Gemeinschaft und der Aufrechterhaltung einer internen Moral einzusetzen. Sie schildert die tragische Chancenlosigkeit und den letztlich aussichtslosen Versuch einer Anpassung an erzwungene Lebensverhältnisse.

Dr. Svenja Bethke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ). Sie hat an der Universität Hamburg Geschichte, Jura, Politologie und Osteuropastudien studiert. Im Rahmen eines Promotionsstipendiums der Hans-Böckler-Stiftung hat sie von 2009-2013 am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Hamburg eine Dissertation über Kriminalitäts- und Rechtsvorstellungen in nationalsozialistischen Ghettos verfasst. Sie war zudem Stipendiatin der Hansen-Stiftung der Universität Passau, des Schroubek-Fonds Östliches Europa der LMU, am Institute for Jewish Research (YIVO) in New York sowie am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Warschau. Für ihre Dissertation wurde ihr vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) der Immanuel-Kant-Forschungspreis der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien verliehen und 2015 erhielt sie den Forschungspreis des Generalkonsuls der Republik Polen in Hamburg.

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Leseprobe

I. Kriminalität und Recht in der »Lebenswelt Ghetto«


»Lebenswelt Ghetto« – »jüdische« oder »menschliche« Erfahrung?


Im November 1941 berichtete die Chronik im Ghetto Litzmannstadt über die fast 20000 Juden, die kurz zuvor aus dem »Altreich«, Wien, Prag und Luxemburg von den Deutschen ins Ghetto deportiert worden waren. In dem Eintrag heißt es: »Sie wussten […] nur, und auch das nicht ganz genau, dass sie in ein Getto fahren würden. Was aber dieses Getto ist, davon hatte natürlich keiner von ihnen die leiseste Ahnung, vielleicht von der Bedeutung dieses Wortes abgesehen, die sie der Lektüre altertümlicher Texte entnommen hatten.«1

Auch der Judenratsvorsitzende Rumkowski schilderte im Juni 1941 rückblickend, dass er nach Einrichtung des Ghettos mit einer gänzlich unbekannten Situation konfrontiert gewesen war, ein Umstand, den er anführte, um die Schwierigkeiten beim Aufbau der Verwaltung zu rechtfertigen: »Es ist richtig, dass in dieser Zeit [nach Einrichtung des Ghettos; S. B.] auch Fehler gemacht wurden. Eine Sache, die nebenbei bemerkt, unvermeidlich ist, wenn es sich um plötzliche Aenderungen in der ganzen Lebensstruktur einer Allgemeinheit oder einer gewissen Menschengemeinschaft handelt.«2

Aus beiden Zitaten geht hervor, dass die Ghettoisierung für die betroffenen Menschen einen Bruch bedeutete. So verschieden das individuelle Erleben war, sie alle machten die Erfahrung, dass sich das alltägliche Leben innerhalb der neuen »Zwangsgemeinschaft Ghetto« anders gestaltete als in den Gemeinschaften, in denen sie zuvor gelebt hatten. Dass sie nicht wussten, was sie erwartete, zeigte sich beispielsweise auch darin, dass es jüdische Menschen gab, die die Ghettoisierung anfangs befürworteten, weil sie sich von der Separierung einen Schutz vor brutalen Übergriffen erhofften.3

Über den Charakter der Ghettogemeinschaften und die Form ihres Zusammenlebens wurden in der Forschung unterschiedliche Überlegungen angestellt. Samuel Gringauz, Sozialwissenschaftler und Überlebender aus dem Ghetto Kaunas, ordnet die Geschichte der Ghettogemeinschaften während des Zweiten Weltkrieges als »soziologisch relevantes Experiment einer jüdischen Gemeinschaft« unter außergewöhnlichen Lebensbedingungen ein. Es habe sich um die einzige »homogene jüdische Gemeinschaft« außerhalb des Staates Israel gehandelt.4 Mit diesem Vergleich verkennt Gringauz allerdings den Zwangscharakter der Ghettogemeinschaften, obgleich er ansonsten sehr wohl das Spannungsverhältnis zwischen »äußerer« deutscher Macht und eingeschränkter »innerer Autonomie« betont.5 Ähnliche Einschätzungen finden sich in zeitgenössischen Quellen und in der Forschung, wo oftmals die These vertreten wird, dass die Kriminalität in den Ghettogemeinschaften aufgrund der »hohen jüdischen Moral« sehr gering gewesen sei.6

Dan Diner betont im Unterschied dazu, dass es bei der Auseinandersetzung mit den Ghettogemeinschaften und insbesondere mit den Judenräten während des Nationalsozialismus um die »Wahrnehmung einer höchst verzweifelten Lage von Menschen [gehe], die nicht aus dem Grunde so gehandelt haben, weil sie Juden waren, sondern weil sie Menschen waren«.7

Dieser Sichtweise schließt sich auch die vorliegende Untersuchung an. Es wird davon ausgegangen, dass die Ghettogemeinschaften Zwangsgemeinschaften waren, in denen Menschen zusammenlebten, weil sie von den Deutschen als »jüdisch« definiert worden waren. In diesen Zwangsgemeinschaften, in denen das eigene Leben einer ständigen Bedrohung unterlag, geriet das bis dahin geltende Normengefüge für soziales Zusammenleben ins Wanken. Um mit den Anforderungen der neuen Lebenswelt zurechtzukommen, entwickelten die Menschen neue Verhaltensweisen und klassifizierten und bewerteten das eigene Handeln wie auch das der anderen nach neuen Maßstäben.

Im Rahmen dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass sich aufgrund des erlebten Bruchs, den die Ghettoisierung bedeutete, und der damit einhergehenden Konfrontation mit unbekannten, außergewöhnlichen Lebensbedingungen die »kollektiven Deutungsmuster« innerhalb der Ghettogemeinschaften wandelten. Dazu gehörten auch Konzeptionen von Kriminalität und Recht, die unter diesen Bedingungen sowohl von den Judenräten als auch von den »einfachen« Ghettobewohnern formuliert wurden.

In diesem Zusammenhang können theoretische Ansätze des sogenannten interpretativen Paradigmas dazu verhelfen, den Blick für den Wandel von Deutungen und Aushandlungsprozessen innerhalb der Ghettogemeinschaften zu schärfen.8 Zentral ist dabei die Annahme, dass Menschen anderen Menschen sowie Dingen und Institutionen gegenüber aufgrund der Bedeutung handeln, die sie diesen beimessen. Bestimmend für die Art und Weise der Interaktion ist die wechselseitige Interpretation der Beteiligten.9 Dabei sind sich wiederholende Muster der Interaktion entscheidend, die jedoch je nach empirischer Welt sehr unterschiedlich ausfallen können.10

Teil dieses interpretativen Paradigmas ist der sogenannte Lebensweltansatz, der auf den Philosophen Edmund Husserl zurückgeht und von den Soziologen Alfred Schütz und Thomas Luckmann weiterentwickelt wurde. Als »Lebenswelt« bezeichnete Husserl die Gegebenheiten der bloßen Wahrnehmungswelt.11 Hieran anknüpfend gehen Schütz und Luckmann davon aus, dass Menschen in ihrem Handeln stets auf »Wissensvorräte«, auf routiniertes Wissen, zurückgreifen.12 Die Interpretation werde von zurückliegenden Erfahrungen beeinflusst, die dazu führen, dass Menschen bestimmte Erwartungen an ähnliche Situationen haben, sogenannte Typisierungen.13 Die Deutungen können sich jedoch wandeln, wenn es zu Brüchen im Erleben der Menschen kommt.14

Neuere kulturwissenschaftliche Ansätze ordnen die Wirklichkeitswahrnehmung nicht nur als Verstehensakt eines einzelnen Subjekts ein, sondern betonen die Bedeutung und Herausbildung von übergeordneten kollektiven Sinnstrukturen, an die individuelle Handlungsinterpretationen anknüpfen.15 Als kollektives Wissen bilden sich »kulturelle Systeme« (Geertz)16 oder »kollektive Sinnsysteme« (Reckwitz)17 heraus, welche die Zuschreibung von Bedeutungen regeln. Solche kollektiven Sinnmuster implizieren laut dem Krimonologen Karl Ludwig Kunz neben Kategorisierungen ebenfalls Wertungen, Vorstellungen des Erwünschten oder Abzulehnenden.18

Die zwangsweise eingerichteten Ghettogemeinschaften bestanden aus einer Vielzahl von Individuen, die aus unterschiedlichen Regionen kamen, verschiedene Sprachen nutzten und unterschiedlich sozialisiert waren – sprich, über sehr unterschiedliche Erfahrungen und »Wissensvorräte« verfügten. Sie alle wurden im Zuge der Ghettoisierung mit neuen, unbekannten und lebensbedrohlichen Bedingungen konfrontiert und verständigten sich – implizit oder explizit – darüber, wie das Zusammenleben in Anbetracht dessen gestaltet werden sollte. Daran anknüpfende Aushandlungsprozesse nahmen in den Zwangsgemeinschaften eine spezifische Form an.19 Zwar befanden sie sich gegenüber den deutschen Besatzern in einer Ohnmachtsposition. Dennoch gab es gewisse ghettointerne Ausgestaltungsmöglichkeiten – wenn auch oftmals nur aufgrund der Gleichgültigkeit der Deutschen.

Eine Schlüsselrolle kam dabei den Judenräten zu, denen von den Deutschen zweifelsfrei eingeschränkte Kompetenzen zugesprochen worden waren, verbindliche ghettointerne Regeln zu formulieren. Kernbereiche im Hinblick auf die Frage, wie das Zusammenleben in der Zwangsgemeinschaft im Ghetto zu gestalten sei, stellten dabei Definitionen von Kriminalität und Recht dar.

Definitionen von Kriminalität und Recht


In seinen Memoiren über das Warschauer Ghetto schreibt der ehemalige Ordnungsdienst-Funktionär Stanisław Adler: »Es entstand eine paradoxe Situation, weil es schwierig war, gegen diejenigen vorzugehen, die Lebensmittel mit unhygienischen Beimischungen ›streckten‹, die verdorbenes Essen verkauften und all die anderen Händler, die man in normalen Zeiten als Betrüger bezeichnet hätte. In unserem Dschungel musste jeder Hüter über seine eigene Gesundheit und seine eigenen Taschen sein, jeder musste Entscheidungen gemäß seiner persönlichen Mittel treffen. Das Bild, das ich hier beschreibe, bezieht sich natürlich auf die meistverbreiteten und gefährlichsten Methoden, d.h. auf solche, die an der Grenze zwischen Legalität und Kriminalität einzuordnen waren.«20

Dieser Bericht vermittelt einen Eindruck davon, dass sich in der »Lebenswelt Ghetto« die Vorstellungen darüber wandelten, was als kriminell, als moralisch verwerflich, gerecht, ungerecht oder rechtmäßig galt. Es ging stets um unterschiedliche Bewertungen menschlicher...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts | Ausgewählt von Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt2
Titelseite3
Impressum4
Inhaltsverzeichnis5
Einleitung7
Zum Forschungsstand16
Zu den Quellen20
Zum Aufbau25
I. Kriminalität und Recht in der »Lebenswelt Ghetto«28
»Lebenswelt Ghetto« – »jüdische« oder »menschliche« Erfahrung?28
Definitionen von Kriminalität und Recht32
II. Nationalsozialistische »Judenpolitik« in Osteuropa und die Perspektive der Judenräte41
Die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung41
Deutsche Kerninteressen im Wandel50
Neue Definitionen von Kriminalität53
Die Durchsetzung der Ghettogrenze54
Meldepflicht, Ruhe, Ordnung und Hygiene57
Das Problem der Definitionen60
Willkürliches Handeln und paradoxe Entwicklungen62
Die Überlebensstrategien der Judenräte67
Das Ghetto Warschau67
Das Ghetto Litzmannstadt77
Das Ghetto Wilna83
III. Die Bekanntmachungen der Judenräte – Definitionen von kriminellem Handeln96
Deutsche Forderungen und ihre Überführung99
Ghettointerne Regeln und Sanktionen107
Deutsche Forderungen im Rahmen119
IV. Die jüdische Polizei als Exekutivorgan124
Die Einrichtung der jüdischen Polizeiorgane124
Versuche interner Gestaltung136
Strafverfolgung und Ermittlungen147
Deliktdefinitionen in der Praxis der jüdischen Polizeiorgane153
V. Die ghettointernen Gerichte163
Institutionelle Rahmenbedingungen163
Offizielle und inoffizielle Abgrenzungen zur deutschen Gerichtsbarkeit169
Rechtstraditionen und Berufserfahrungen173
Exkurs: Jüdische Gerichte und jüdisches Recht in historischer Perspektive179
Verhandelte Rechtsfälle184
»Deutsche« Delikte185
Handlungen, die eine deutsche Intervention befürchten ließen189
Handlungen gegen Institutionen und Regularien des Judenrates190
»Klassische« Rechtsfälle198
»Mildernde Umstände« und Amnestien209
Spezifische Rechtsprobleme216
VI. Der Strafvollzug im Ghetto223
Das Spektrum der Strafen224
Die ghettointernen Zentralgefängnisse239
VII. Die »einfachen« Ghettobewohner und ihr Bezug auf die »inneren« und »äußeren« Autoritäten253
Zum Umgang mit ghettointernen Rechtsinstanzen254
Wege der Beschwerde265
Kriminalität als Widerstand?283
Kriminalität und Recht zwischen »äußerer Macht« und »innerer Autonomie« – Schlussbetrachtungen292
Danksagung303
Anhang305
Abkürzungsverzeichnis305
Quellen- und Literaturverzeichnis305
Archive305
Gedruckte Quellen306
Quelleneditionen307
Weitere Quellen308
Sekundärliteratur308
Zur Autorin318

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