I. Kriminalität und Recht in der »Lebenswelt Ghetto«
»Lebenswelt Ghetto« – »jüdische« oder »menschliche« Erfahrung?
Im November 1941 berichtete die Chronik im Ghetto Litzmannstadt über die fast 20000 Juden, die kurz zuvor aus dem »Altreich«, Wien, Prag und Luxemburg von den Deutschen ins Ghetto deportiert worden waren. In dem Eintrag heißt es: »Sie wussten […] nur, und auch das nicht ganz genau, dass sie in ein Getto fahren würden. Was aber dieses Getto ist, davon hatte natürlich keiner von ihnen die leiseste Ahnung, vielleicht von der Bedeutung dieses Wortes abgesehen, die sie der Lektüre altertümlicher Texte entnommen hatten.«1
Auch der Judenratsvorsitzende Rumkowski schilderte im Juni 1941 rückblickend, dass er nach Einrichtung des Ghettos mit einer gänzlich unbekannten Situation konfrontiert gewesen war, ein Umstand, den er anführte, um die Schwierigkeiten beim Aufbau der Verwaltung zu rechtfertigen: »Es ist richtig, dass in dieser Zeit [nach Einrichtung des Ghettos; S. B.] auch Fehler gemacht wurden. Eine Sache, die nebenbei bemerkt, unvermeidlich ist, wenn es sich um plötzliche Aenderungen in der ganzen Lebensstruktur einer Allgemeinheit oder einer gewissen Menschengemeinschaft handelt.«2
Aus beiden Zitaten geht hervor, dass die Ghettoisierung für die betroffenen Menschen einen Bruch bedeutete. So verschieden das individuelle Erleben war, sie alle machten die Erfahrung, dass sich das alltägliche Leben innerhalb der neuen »Zwangsgemeinschaft Ghetto« anders gestaltete als in den Gemeinschaften, in denen sie zuvor gelebt hatten. Dass sie nicht wussten, was sie erwartete, zeigte sich beispielsweise auch darin, dass es jüdische Menschen gab, die die Ghettoisierung anfangs befürworteten, weil sie sich von der Separierung einen Schutz vor brutalen Übergriffen erhofften.3
Über den Charakter der Ghettogemeinschaften und die Form ihres Zusammenlebens wurden in der Forschung unterschiedliche Überlegungen angestellt. Samuel Gringauz, Sozialwissenschaftler und Überlebender aus dem Ghetto Kaunas, ordnet die Geschichte der Ghettogemeinschaften während des Zweiten Weltkrieges als »soziologisch relevantes Experiment einer jüdischen Gemeinschaft« unter außergewöhnlichen Lebensbedingungen ein. Es habe sich um die einzige »homogene jüdische Gemeinschaft« außerhalb des Staates Israel gehandelt.4 Mit diesem Vergleich verkennt Gringauz allerdings den Zwangscharakter der Ghettogemeinschaften, obgleich er ansonsten sehr wohl das Spannungsverhältnis zwischen »äußerer« deutscher Macht und eingeschränkter »innerer Autonomie« betont.5 Ähnliche Einschätzungen finden sich in zeitgenössischen Quellen und in der Forschung, wo oftmals die These vertreten wird, dass die Kriminalität in den Ghettogemeinschaften aufgrund der »hohen jüdischen Moral« sehr gering gewesen sei.6
Dan Diner betont im Unterschied dazu, dass es bei der Auseinandersetzung mit den Ghettogemeinschaften und insbesondere mit den Judenräten während des Nationalsozialismus um die »Wahrnehmung einer höchst verzweifelten Lage von Menschen [gehe], die nicht aus dem Grunde so gehandelt haben, weil sie Juden waren, sondern weil sie Menschen waren«.7
Dieser Sichtweise schließt sich auch die vorliegende Untersuchung an. Es wird davon ausgegangen, dass die Ghettogemeinschaften Zwangsgemeinschaften waren, in denen Menschen zusammenlebten, weil sie von den Deutschen als »jüdisch« definiert worden waren. In diesen Zwangsgemeinschaften, in denen das eigene Leben einer ständigen Bedrohung unterlag, geriet das bis dahin geltende Normengefüge für soziales Zusammenleben ins Wanken. Um mit den Anforderungen der neuen Lebenswelt zurechtzukommen, entwickelten die Menschen neue Verhaltensweisen und klassifizierten und bewerteten das eigene Handeln wie auch das der anderen nach neuen Maßstäben.
Im Rahmen dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass sich aufgrund des erlebten Bruchs, den die Ghettoisierung bedeutete, und der damit einhergehenden Konfrontation mit unbekannten, außergewöhnlichen Lebensbedingungen die »kollektiven Deutungsmuster« innerhalb der Ghettogemeinschaften wandelten. Dazu gehörten auch Konzeptionen von Kriminalität und Recht, die unter diesen Bedingungen sowohl von den Judenräten als auch von den »einfachen« Ghettobewohnern formuliert wurden.
In diesem Zusammenhang können theoretische Ansätze des sogenannten interpretativen Paradigmas dazu verhelfen, den Blick für den Wandel von Deutungen und Aushandlungsprozessen innerhalb der Ghettogemeinschaften zu schärfen.8 Zentral ist dabei die Annahme, dass Menschen anderen Menschen sowie Dingen und Institutionen gegenüber aufgrund der Bedeutung handeln, die sie diesen beimessen. Bestimmend für die Art und Weise der Interaktion ist die wechselseitige Interpretation der Beteiligten.9 Dabei sind sich wiederholende Muster der Interaktion entscheidend, die jedoch je nach empirischer Welt sehr unterschiedlich ausfallen können.10
Teil dieses interpretativen Paradigmas ist der sogenannte Lebensweltansatz, der auf den Philosophen Edmund Husserl zurückgeht und von den Soziologen Alfred Schütz und Thomas Luckmann weiterentwickelt wurde. Als »Lebenswelt« bezeichnete Husserl die Gegebenheiten der bloßen Wahrnehmungswelt.11 Hieran anknüpfend gehen Schütz und Luckmann davon aus, dass Menschen in ihrem Handeln stets auf »Wissensvorräte«, auf routiniertes Wissen, zurückgreifen.12 Die Interpretation werde von zurückliegenden Erfahrungen beeinflusst, die dazu führen, dass Menschen bestimmte Erwartungen an ähnliche Situationen haben, sogenannte Typisierungen.13 Die Deutungen können sich jedoch wandeln, wenn es zu Brüchen im Erleben der Menschen kommt.14
Neuere kulturwissenschaftliche Ansätze ordnen die Wirklichkeitswahrnehmung nicht nur als Verstehensakt eines einzelnen Subjekts ein, sondern betonen die Bedeutung und Herausbildung von übergeordneten kollektiven Sinnstrukturen, an die individuelle Handlungsinterpretationen anknüpfen.15 Als kollektives Wissen bilden sich »kulturelle Systeme« (Geertz)16 oder »kollektive Sinnsysteme« (Reckwitz)17 heraus, welche die Zuschreibung von Bedeutungen regeln. Solche kollektiven Sinnmuster implizieren laut dem Krimonologen Karl Ludwig Kunz neben Kategorisierungen ebenfalls Wertungen, Vorstellungen des Erwünschten oder Abzulehnenden.18
Die zwangsweise eingerichteten Ghettogemeinschaften bestanden aus einer Vielzahl von Individuen, die aus unterschiedlichen Regionen kamen, verschiedene Sprachen nutzten und unterschiedlich sozialisiert waren – sprich, über sehr unterschiedliche Erfahrungen und »Wissensvorräte« verfügten. Sie alle wurden im Zuge der Ghettoisierung mit neuen, unbekannten und lebensbedrohlichen Bedingungen konfrontiert und verständigten sich – implizit oder explizit – darüber, wie das Zusammenleben in Anbetracht dessen gestaltet werden sollte. Daran anknüpfende Aushandlungsprozesse nahmen in den Zwangsgemeinschaften eine spezifische Form an.19 Zwar befanden sie sich gegenüber den deutschen Besatzern in einer Ohnmachtsposition. Dennoch gab es gewisse ghettointerne Ausgestaltungsmöglichkeiten – wenn auch oftmals nur aufgrund der Gleichgültigkeit der Deutschen.
Eine Schlüsselrolle kam dabei den Judenräten zu, denen von den Deutschen zweifelsfrei eingeschränkte Kompetenzen zugesprochen worden waren, verbindliche ghettointerne Regeln zu formulieren. Kernbereiche im Hinblick auf die Frage, wie das Zusammenleben in der Zwangsgemeinschaft im Ghetto zu gestalten sei, stellten dabei Definitionen von Kriminalität und Recht dar.
Definitionen von Kriminalität und Recht
In seinen Memoiren über das Warschauer Ghetto schreibt der ehemalige Ordnungsdienst-Funktionär Stanisław Adler: »Es entstand eine paradoxe Situation, weil es schwierig war, gegen diejenigen vorzugehen, die Lebensmittel mit unhygienischen Beimischungen ›streckten‹, die verdorbenes Essen verkauften und all die anderen Händler, die man in normalen Zeiten als Betrüger bezeichnet hätte. In unserem Dschungel musste jeder Hüter über seine eigene Gesundheit und seine eigenen Taschen sein, jeder musste Entscheidungen gemäß seiner persönlichen Mittel treffen. Das Bild, das ich hier beschreibe, bezieht sich natürlich auf die meistverbreiteten und gefährlichsten Methoden, d.h. auf solche, die an der Grenze zwischen Legalität und Kriminalität einzuordnen waren.«20
Dieser Bericht vermittelt einen Eindruck davon, dass sich in der »Lebenswelt Ghetto« die Vorstellungen darüber wandelten, was als kriminell, als moralisch verwerflich, gerecht, ungerecht oder rechtmäßig galt. Es ging stets um unterschiedliche Bewertungen menschlicher...